Gernulf Olzheimer kommentiert (DCLIX): Der regelnde Markt

14 04 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Nichts scheint derart transzendent, vollkommen und absolut wie diese Dinger, die Heiligkeit für sich beanspruchen. Höchstens noch Nationen, wo nicht der unmittelbare Übergang in die Religion sichtbar wird. Und natürlich der Markt, das perfekte Wesen, das nach Ansicht von Theologen in den Chefetagen regelmäßig kollabierender Konzerne nur deshalb nicht funktioniert, weil sich immerzu Menschen im Getriebe aufhalten. Alles kann die unsichtbare Hand alleine, vor allem regeln – es sei denn, Angebot und Nachfrage funktionieren tatsächlich einmal so, wie es den Profiteuren der Wirtschaft nicht in den Kram passt. Dann muss das Regeln reguliert werden, am besten durch Deregulierung, und auf einem mehr oder weniger sinnlosen Umweg kommt die ganze Grütze da an, wo die Logik es will: im Versagen des Marktes. Denn nur dazu ist der Kapitalismus gut.

Bereits mit der vollständigen Konkurrenz, in der jeder Depp seinen Industriekonzern gründen kann, fällt die Grundvoraussetzung, die genügend großes Kapital erfordert, das sich marktwidrig akkumuliert in einem System, das nur Arbeit besteuert, nicht aber arbeitslosen Besitz – allen Mythen zum Trotz hat sich noch kein Tellerwäscher zum Millionär emporgeschwiemelt, und das wäre für neoliberale Apologeten eine Marktverzerrung, die unverzüglich bekämpft werden müsste. Zwar lallt der geistige Bodensatz in jedem Wahlkampf, Leistung müsse sich wieder lohnen, aber das ginge doch eben nur mit der Abschaffung des Kapitalismus.

Kaum ein Aspekt wurde in den vergangenen Jahrzehnten so ausgiebig ignoriert wie die Effekte von Individualverkehr und Energieerzeugung auf das Klima. Wie schön lässt sich daran zeigen, dass der kurzfristige Gewinn, den die Politik in einem als Ökonomie getarnten Casino als größtes Glück für die Vermögenden verklärt, stets eine Belastung für die Mehrheit erzeugt, die mit Umweltbelastung oder Verteuerung allein gelassen wird, wenn die Straßen verstopft, die Brennstäbe leergelutscht, die Atmosphäre mit CO2 gesättigt sind. Die externen Kosten werden dem Verbraucher als Abschiedsgeschenk hinterlassen, das nur durch den Anstieg von Staatsschulden getilgt werden könne – der Gottseibeiuns für die Arschgeigenkaste, die ihr Privatvermögen mit der Zerstörung des Planeten in Sicherheit gebracht haben – oder durch Verzicht auf Güter wie Wasser, Luft und Wohnraum. Bringt man diese Opfer nicht, so rettet der verhasste Staat gerne die Leidtragenden, etwa Mineralölhöker mit eigener Dealerkette, und hofft, dass die Subventionen, die sich eigentlich nur kommunistische Planfetischisten wünschen, nicht von der Unterschicht für Schnaps und Kippen ausgegeben werden. Öffentliche Güter gar, Straßen und Brücken, werden dem Bürger ohne Gegenleistung zur Verfügung gestellt, und verfolgt man den Ansatz der permanenten Steuersenkung, wie es der Nachtwächterstaat tut, zahlt niemand für diesen Allgemeinbesitz – es sei denn, man stampft für die Amigos eine Firma aus dem Boden, die eine Maut eintreibt für Straßenbeleuchtung und Schulen. Und schon warzt das Allgemeinwesen wieder an den externen Effekten ab, die aus unterfinanzierten Kliniken einen maroden Arbeitsmarkt macht oder aus einem von Blödföhnen seit Generationen in die Tonne getretenen Schienennetz eine Belastung für den Güterverkehr. Je öfter der Staat mit gezielter Dummheit in den Markt eingreift, indem er Flugreisen durch steuerfreies Kerosin attraktiver macht oder für lange Zeit Mondpreise im deutschen Telekommunikationssektor förderte, während alle angrenzenden Staaten sich ins Fäustchen lachten, desto sicherer vollzieht das System sein Versagen, denn dies ist immanent, wenn man in einem System lebt, das ständig gerettet werden muss, damit wir in weiter einem System leben können, das ohne diese Rettung nicht überlebensfähig wäre.

Den Beweis dafür lieferten die französischen Kolonialherren in Vietnam, die der Rattenplage in Hanoi Herr werden wollten und eine Prämie auf die Schwänze aussetzten. Die armen Bauern schnitten den Ratten die Schwänze ab, ließen sie aber am Leben, damit sie sich ungehindert fortpflanzen und die Stadt bevölkern konnten – die Besatzer zahlten sich dumm und dämlich, wie der Legende nach die Briten in Indien, die die Verbreitung der Kobras mit Preisgeldern einzudämmen versuchten und für eine private Schlangenzucht sorgten, so dass am Ende die Staatskasse leer und die Population größer war als je zuvor. Der Markt hatte auf die Nachfrage mit stetig wachsendem Angebot reagiert, ohne sich mit der Frage aufzuhalten, ob ein volkswirtschaftlicher Nutzern dahinterstecken könnte. Er hatte nur sein vollständiges Versagen zelebriert, Arbeit um ihrer selbst willen geschaffen und Entgelt dafür gezahlt, dass der Wille der Wirtschaftslenker geschehe, von Staatsversagen durch die Eigeninteressen des Volks einmal abgesehen. Darin zeigt sich auch die ganze Verachtung des Volkes in der Volkswirtschaft, wenn man es unaufhörlich anstachelt, rücksichtslos die eigenen Interessen zu verfolgen, dann aber nicht damit rechnet, wenn es dies tatsächlich auch tut. Die Folgen der Markteingriffe treffen selten diejenigen, die sie erforderlich machen. Wir wären sonst längst im Sozialismus. Oder im Krieg.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCLVI): Todeskult Kapitalismus

24 03 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Keiner wird ernsthaft behaupten wollen, der Mensch sei eine vernunftgeleitete Art, die sinnvoll ihre irdischen Ressourcen nutze, sie zur Erhaltung ihres Lebensraums zielgerichtet einsetze und ihrer Verantwortung gerecht werde, um ihre Existenz auf diesem Rotationskörper so lange wie möglich zu erhalten; zumindest die letzten Jahrhunderte hat er damit verbracht, als intellektueller Heckenpenner alles zu verschandeln, was er in seine schmierigen Finger bekommen konnte, mehr noch: es mutwillig zu zerstören, bevor es anderen nützt. Um sich aber gegen seine eigene Dämlichkeit zu imprägnieren, greift er zu dem Trick, mit dem er alles in seiner sozialen Zusammenrottung zu entschuldigen sucht, Mord und Totschlag, Fremdenhass, Kriege, Gier, die alle plötzlich planvoll werden, schiebt man sie einer höheren Wesenheit in die Schuhe, die sie befiehlt, zumindest billigt oder wenigstens mit dem notwendigen Ritualgehampel schnell verzeiht. Was wäre der Hominide ohne seine Wahnvorstellungen, die er Religion nennt, und was wäre diese Auswahl ohne den wirrsten Hirnplüsch, den Kapitalismus.

Dass Kapitalismus wie andere Glaubenssysteme als ordinäre Fetischanbetung entstand, Arbeit als zeremoniell verrichteten Kult installierte – wie in jeder anderen Religion dient der Ertrag der rituellen Handlungen natürlich auch nur einer Priesterkaste und nicht den Gläubigen – und den Reichtum als höchstes Ziel so weit transzendierte, bis man nicht mehr wusste, was Geld eigentlich bedeutet, steht außer Frage, ebenso die Einordnung als eigenes religiöses Ding, das dieselbe betäubende Wirkung auf die existenziellen Ängste ausübt, das es selbst im Schlaf der Vernunft schürt. Weder Dogmatik noch Theologie braucht solch ein Kult, der auf reine Gefolgschaft setzt, die gesamte Existenz mit allen Bestandteilen wie Gesellschaft, Beziehungen und Kunst, Gesundheit, Ethik oder Natur okkupiert und zertrümmert, um sich Konkurrenz vom Hals zu schaffen. Der Kapitalismus setzt auf die Ewigkeit, die sich im widersinnigen Wachstum manifestiert, das schon mit einfachen Grundrechenarten in einem geschlossenen System widerlegt werden kann, es sei denn, man fasst exponentielle Progression als grundlegend positiv auf, wie beispielsweise Krebs.

Unterscheidet sich der Kapitalismus vom bisher praktizierten Mummenschanz, der Erlösung und Entsühnung predigte, so setzt er auf Ewigkeit, und zwar in der exponentiellen Verschuldung, die nicht mehr ist als wachsende Werte auf der Haben-Seite der Vermögenden – wenngleich auch die aus allerlei Widersprüchen zurechtgeschwiemelte Erbsünde als Voraussetzung der Erlösungsbedürftigkeit gut als Knute fürs betende Volk taugt. Dass der Gott des Kapitals in seinem zertrümmernden Machtanspruch vor den Gläubigen verheimlicht wird: geschenkt.

Wie alle Formen vormoderner Frömmigkeit bis ins letzte Detail das Leben ihrer Anhänger rigide regelten, kodifizierten, sanktionierten, greift diese Wirtschaftsordnung in alle menschlichen Strukturen ein, als wären es ökonomische. Nicht erst das von Neoliberalen über die Gesellschaft gestülpte Prinzip des allgemeinen Konkurrenzdenkens, das durch die Beschneidung der monetären Möglichkeiten nur in einer Kannibalisierung der Menschen endet, höchst amüsant anzusehen für die vermögende Schicht, ist der Schlüssel für die zersetzenden Mechanismen die zielgerichtete Aneignung aller Ressourcen, Öl und Arbeiter, Boden und Pfleger, kurz: alles, was sich privatisieren und damit eigenverantwortlich eliminieren lässt. In einem eschatologischen Kult aber kann es nur eine Richtung geben, nämlich den der vollständigen und endgültigen Vernichtung der Lebensgrundlagen. Anders würde ein Todeskult gar nicht funktionieren, und der Kapitalismus gibt sich kaum die Mühe, dies zu verbergen.

Ein überwiegend von alten weißen Männern praktiziertes Ausleben des Todestriebs, meist auf die kommenden Generationen verschoben, was es so unangenehm macht, wenn die Rechnung dafür schon früher kommt, verspricht allenfalls hier und da Anpassung oder Ausgleich – schöner sterben, aber immer noch unumkehrbarer mythischer Ritus einer Erfüllung, die produkttypisch beim Versuch der Annäherung um so weiter in die Ferne abgleitet, während ganz real eine Orgie aus Enteignung und Völkermord tobt, die nur noch mit Gewalt vor ihren eigenen Konsequenzen fliehen kann: Flüchtlinge müssen im Meer ertrinken, indigene Völker auf den Resten ihrer Äcker verbrennen, Obdachlose auf den Straßen verhungern, weil sonst die Börsenkurse um ein paar Prozentpunkte weniger schnell wüchsen. Es wird nicht einmal mehr herumreformiert oder an den Symptomen gepopelt, wir haben wieder den Ständestaat zurück, in dem die Raubritter ihre Güter mit dem Schwert vor den Hörigen schützen und sich dabei willfähriger Idioten bedienen, die noch in kindlichem Erlösungsglauben dafür auf Wohlstand hoffen. Um einen Arbeiter zu zerstören, braucht ein Großkapitalist ein börsennotiertes Unternehmen, eine Produktionsstätte, Schichtplaner, Werkschutz, jede Menge Maschinen und giftiges Zeugs, miese Ernährung, gierige Bänker, skrupellose Vorstände, verlogene Lobbyisten und ignorante Medien. Dabei würde das umgekehrt viel schneller funktionieren.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXL): Überwachungskapitalismus

11 11 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Früh am Morgen steht der Arbeitnehmer auf und widmet sich der Körperpflege. Sollte der Proband noch nicht Qualität und Quantität seines Schlafs in die elektronische Handfessel eingespeist haben, so bleibt ihm wenigstens dieses kleine Geheimnis. Der Verbrauch an Zahnpasta allerdings, die Intensität seiner Dentalhygiene und das anschließend in die Waage getretene Nettogewicht gibt er freiwillig preis, um diverse Kosmetika günstig und schnell in den Haushalt geliefert zu bekommen. Ein kleiner, nervender Jingle erinnert ihn beim ersten Kontakt mit dem Smartphone daran, dass er schon seit zwei Wochen keine neuen Klamotten geshoppt hat, was für seine Alterskohorte gar nicht statthaft ist – auch deshalb nicht, weil er sonst der regelmäßigen Angebote seines Onlinehändlers verlustig ginge, in der Öffentlichkeit negativ auffiele oder sogar den notwendigen Sozialkredit verlöre, der ihm Zutritt zu angesagten Clubs verschafft. Er ist glücklich, er merkt es nur nicht. Aber vielleicht ist es auch nur diese eigenwillige Definition von Glück, die den Überwachungskapitalismus so kratzig macht.

Der Hominide ist nicht nur das Produkt, das sich unbeirrt selbst verkauft, er lässt sich bereitwillig kapitalisieren und entmündigen, denn die Datenspur determiniert sein Dasein. Wie immer steht am Anfang seiner Tragödie die Unfähigkeit, alleine in einem Zimmer glücklich und genügsam zu leben, da er seine Lieblingsmusik, alle 239.481 Stücke in zufälliger Reihenfolge, unbedingt überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit hören will, auch auf den Plastebömmeln, die ihm einst als Fernsprecher ans Ohr genietet wurden von einer Marketingabteilung auf schlechtem Koks. Wir kommunizieren, wo wir Dinge sehen und nicht sehen, wie selbstverständlich im Trachten, nicht nicht kommunizieren zu können und es auch gar nicht zu wollen. In der gehässigen Antwort, die geheimdienstliche Durchleuchtung sei auch nicht schlimmer als ständiger Verhaltenscheck durch die marktbeherrschenden Konsumschleudern, zeigt sich ein profundes Wissen kapitalistischer Politik, die Überwachen und Strafen von allen Seiten gleichermaßen nutzt, wo die von WLAN, Smart Home, Auto und Gesichtserkennung unsubtil gesammelten Einbrüche in die Privatsphäre in eine gemeinsame Verarbeitung durch die Maschine münden, die uns noch im hintersten Winkel der zivilisierten Welt mit Sonderangeboten und Klatsch zumüllt, damit die Trennlinien zwischen Ich und Markt sanft verschwimmen. Einmal mehr ist Freiheit das, was wir Grützbirnen aushalten müssen – kein Wunder, wir haben uns selbst eingebrockt, was wir als ubiquitäre Verfügbarkeit der Produkte feiern, auch wenn wir nichts mehr verstehen.

Das systematische Abschöpfen aller Daten aus dem Inneren unserer Verbrauchssteuerung liefert Paybackpunkte aus dem Immunsystem, dass auch Schopenhauer stolz wäre, wie wir den freien Willen der Markregulierung übertragen, die uns als Großer Bruder die Sorgen des Daseins abnimmt. Was ist eigentlich an einer übermächtigen Wirtschaft noch Nichtregierungsorganisation? Mit der Frage werden die Objekte einer neoliberalen Ordnung allein in der Wüste aufgestellt, wo sie nicht mehr finden, das an eine Gesellschaft erinnert, und hier lohnt sich dann auch Egoshopping, will moralisches Handeln längst in die Frage nach Besitz verschwiemelt ist.

Aber die Zivilgesellschaft schlägt zurück. Weiß der Algorithmus eventuell früher als wir selbst, ob eins schwanger ist, einen Tumor mit sich durch die Gegend schleift oder eine Sucht – alles, was die Finanzberatung interessiert, auf dem Jobmarkt oder für die Sozialversicherungen relevant wird – kann bereits die biestige Weigerung, irgendeiner Firma das Jagen und Sammeln zu erleichtern, Sand im Getriebe sein. Die Asymmetrie der Konzerne beruht auf ihrer Intransparenz, die erst in die Knie geht, wenn Gerichte sich damit befassen und Ansprüche auf Auskunft, Löschung und Betriebsgeheimnisse einklagbar machen. Auf den Putsch von oben lässt sich nur mit Ungehorsam antworten, nicht zuletzt in einer Ära, die potenziell gewaltsame Konflikte um Sicherheit und Ressourcen heraufbeschwören wird, obwohl das Wachstumsgeseier der Ökonomen auch mit brutalem Entsolidarisierungszwang nicht mehr durchzusetzen ist. Wir wollten die Digitalisierung, also haben wir sie auch bekommen, mitsamt der beidseitigen Öffnung aller Schleusen für Schmutz und Dämlichkeit. Wenn wir den Faschismus wieder als denkbare Alternative ansehen, wird er sich beim nächsten Aufschlag sicher nicht als Faschismus zu erkennen geben; es ist gut möglich, dass er zehn Prozent Rabatt auf die private Krankenversicherung verspricht, wenn wir allen verbliebenen Freunden unsere Lieblingsdroge empfehlen.

Und doch, wir sind gesegnet mit der Ignoranz, die einmal mehr nicht von Bonzen ausgeht, sondern von der heilsamen Beklopptheit der Deppen, die uns in Parlamenten ein Paradies aus Schmierkäse zu schnitzen versprechen, je um je, und es dann doch nicht auf die Reihe kriegen. Die Erlösung ist das Funkloch, ist der bescheuerte Algorithmus, der uns alles zum Kauf vorschlägt, was wir soeben erworben haben. Wenn das künstliche Intelligenz sein soll, was ist dann künstliche Dummheit?





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXXXIV): Funktionale Barmherzigkeit

30 09 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Der Fürst war’s zufrieden. Auch in diesem Jahr hatte die Bauernschaft wieder ordentlich den Zehnt in die Scheuer gebracht, damit sich die normale Vermögensverteilung aufrecht erhalten ließ. „Nimm Er“, näselte der Potentat und streckte dem Sprecher der Gesandtschaft einen blanken Gulden entgegen, „aber nicht wieder alles auf einmal ausgeben!“ Der Hofschreiber hatte nur auf diesen Moment gewartet, und schon jubelten die Schranzen ob des Gebieters Güte und Mildtätigkeit, da er zu diesem Opfer nicht verpflichtet war. Der Geistliche betonte denn auch die besondere Bedeutung des guten Werkes, das dem Machthaber sicher ein paar Jahre weniger im Fegefeuer einbringen würde. Barmherzigkeit hatte sich wieder einmal gelohnt, konstatierte der Herr. Wie praktisch, wenn man sie als funktionalen Akt der sozialen Imagebildung benutzen konnte.

Dabei ist diese Praxis weder die erste noch die am meisten an den Glaubensgrundlagen vorbei durchgeführte Form sanftmütiger Selbsterhöhung. Überall da, wo Religion institutionalisiert auftritt und sich ins weltliche Machtgefüge einmischt, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen durchdringt, organisiert und nutzt, tritt auch dieses Phänomen auf, dass Hilfe vor allem den Helfenden zum Vorteil gereicht, während die Bedürftigen sich nolens volens instrumentalisieren lassen. Schon im Mittelalter waren es die Gutleut – im Straßenbild mehrerer süddeutscher Städte sind Straßen, Häuser und Kirchen, bisweilen ganze Viertel nach ihnen benannt – die als Aussätzige nicht mehr mit der bürgerlichen Gesellschaft leben durfte, und so blieb ihnen entweder die Verbannung aus den Mauern oder aber die Zwangsumsiedlung in Siechenhäuser, die auch vor den Toren lagen, aber doch wenigstens ein Obdach boten. Sie waren die Opfer des Handels mit Fellen, namentlich mit Eichhörnchen, die neben arteigener Putzigkeit auch den Krankheitserreger in der urbanen Zivilisation großzügig verteilten, wo es die Kreuzritter mit einschlägiger Auslandserfahrung nicht geschafft hatten. Die hygienischen Umstände der Seuchenlager taten ein Übriges, die beständigen Neuinfektionen der Ärmsten zum systemtheoretisch korrekten Kreislauf zu optimieren: Krankenhäuser produzieren vor allem Kranke, und was wäre diese Gesellschaft gewesen, wenn sie es nicht zu ihrem Vorteil ausgenutzt hätte.

Das allgemeine religiöse Korsett bürgerlichen Handelns und Wandelns forderte hier und da den Nachweis christlicher Wohlanständigkeit, die sich in gebetsmühlenartig gelesenen Seelenmessen und Kapellenstiftungen manifestierte, zunehmend in Stiftungen, da die Nachhaltigkeit der Geldanlage als Machtinstrument wohlhabender Familien attraktiv wurde, aber für die Lebenden und ihre Reputation als Prestigeobjekt und Führungsanspruch eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Man gab den Armen, weil man es konnte, und nicht einmal als gottgefälligen Aberglauben setzte man darin die Hoffnung, im Jenseits mit Zinsen ausbezahlt zu werden. Die Notwendigkeit der Gutleut hielt sich vor der Reformation hartnäckig im Zentrum der Frömmigkeitsvorstellungen. Und nicht nur da.

Andere Religionen sind nicht weniger vom Glauben an eine gerechte Welt durchdrungen, die an den Lohn für gute Taten glaubt und daran, dass eine höhere Macht die Armen aus gutem Grund arm und die Kranken krank macht. Flugs schwiemelt sich der Hominide eine Täter-Opfer-Umkehr aus der verquasten Denke, und so entsteht in manchen buddhistischen Kulturen die seltsame Dialektik, die Bettelmönche seien überhaupt nur dazu da, den Laien durch die tägliche Spende in ihre Reisschale ein Werk der Nächstenliebe zu ermöglichen. Wie diese bizarre Logik kippt auch die religiöse Praxis, in einer konsumfixierten Konkurrenzgesellschaft die gar nicht mehr so darbenden Klosterbrüder statt mit Reis und Gemüse mit abgepacktem Zuckerzeug zu versorgen, ihnen eine gesundheitsschädliche, da hochkalorische Mastkur zu bescheren, weil nach Auslegung der theologischen Schriften der am meisten Meriten erwirbt, der die meisten sättigt. Nicht immer ist Proportionalität sinnvoll.

Und auch das, was wir nicht für Religion halten, obwohl es eine höchst differenzierte und perfekt organisierte Form dessen ist, nutzt die Maschinerie des Verdienstmanagements. Die christliche Tugend der Caritas heißt jetzt Charity, wo die Reichen und Schönen unter gut orchestrierter Medienpräsenz ein bisschen Kleingeld für Benachteiligte spendieren, das PR-kompatible Prekariat gelegentlich anfassen, ihnen die eingeübten Wertvorstellungen unserer kapitalistischen Gotterkenntnis in die Fresse hauen und dafür als Vorbilder abgefeiert werden. Gäbe es die Tafeln nicht, die Berufsgattinnen-schmieren-für-alleinerziehende-Mütter-Frühstücksbrote-Clubs, der ganze Schmodder würde als vorher eingepreist in der Versenkung verschwinden, und keine der dezent geschminkten Trullas würde sich aufführen können wie Mutter Teresa, die gierige Spendensammlerin im Namen der eigenen Berühmtheit, die Lepröse in ihren Immobilien verrecken ließ, während ihr Geld Zinsen abwarf. Sollte es die Hölle geben, der Teufel könnte ihr täglich eine reinhauen. Als gutes Werk.





Freundschaft!

22 03 2022

„Kein Zucker? nee, hier ist kein Öl. Keinen Zucker gibt’s da drüben. Könnten Sie eventuell auch etwas freundlicher gucken, wir sind hier im Einzelhandel. Wenn Sie Ihre schlechte Laune abreagieren wollen, gehen Sie doch bitte zum Finanzamt.

Krise? das nennen Sie Krise!? Sechzehn Sorten Fruchtjoghurt, ein Regal mit Mikrowellenfraß, eins mit japanischen Aufgussnudeln, Litschis und grüner Spargel im Glas, und Sie labern von Krise? Bei der letzten Lackverkostung haben wir das Ausspucken vergessen, was? Keine dreißig, und jetzt kommen Sie hier als westliche Feierabendbrigade der rechten Knalltüten nach Bad Gnirbtzschen, um uns vor der Gefahr zu warnen, die von der Verteufelung der russischen Militärmacht ausgeht? Weil Sie dummes Weichei einen Nervenzusammenbruch kriegen, wo Sie billiges Industriemehl vermissen?

Waren Sie überhaupt schon mal in Russland? Hätte ich mir ja denken können. Ich habe damals in Moskau Marxismus studiert, deshalb bin ich heute ja auch im Einzelhandel. Da lernt man nämlich fürs Leben, genauer gesagt: warum dieser Kapitalismus, den Sie und Ihre Würstchen uns als Lösung für alle Probleme aufs Auge gedrückt haben, das Problem für alle Lösungen ist. Wir hatten damals keine sechzehn Sorten Fruchtjoghurt, und warum? weil wir keine sechzehn Sorten Fruchtjoghurt brauchten. Damals nicht, heute nicht. Es war eben nicht alles gut im Sozialismus. Aber wenn ich mir die Idioten angucke, die die sogenannte freie Marktwirtschaft hervorbringt, dann war auch nicht alles schlecht.

Gibt es irgendwo im Grundgesetz ein Recht auf Tütennudeln? Und ich meine jetzt nicht die teuren, die italienische Markenware spielen, obwohl die mittlerweile als Teil einer Industriebäckerei einem tschechischen Chemiekonzern gehören – da weiß man auch ziemlich schnell, was da drin ist und wo der ganze Krempel herkommt – sondern billige Nudeln, die sich die Rentner leisten können, weil sie sich nur die leisten können müssen. Die braucht jetzt so eine SUV-fahrende Arschgeige wie Sie, die uns weismachen will, von Marktwirtschaft hätten wir ja gar keine Ahnung. Das regelt der Markt, aber im Zweifel ist das eben Krise, wenn man mal nur Vollkornnudeln kriegt, weil die merkwürdigerweise nicht knapp werden. Oder verwechseln Sie das nur, weil bei Ihnen die Spritkasse schlimm sozialistische Quersubventionen aus dem Lebensmittelbudget braucht, die nur der Staat ausgleichen kann? Und was meinen Sie, wem dieser schlimm sozialistische Staat jetzt schneller unter die Arme greifen wird, SUV-fahrenden Arschgeigen oder Rentnern?

Ja, wir haben das auch gehabt damals. Aber wir haben uns nicht ständig beklagt, dass es kein Öl mehr gibt, nicht, weil wir zwanzig Liter Rapsöl aus Mecklenburg zum Überleben brauchten, wenn aus der Ukraine keine Sonnenblumensaat mehr kommt, sondern weil diese verschissene Opfermentalität, die uns die Westler beigebracht haben, damals nicht angesagt war. Wenn Sie Öl wollen, gucken Sie halt einmal in Augenhöhe ins Regal – Augenhöhe, das ist das, was Sie im Osten bis heute nicht auf die Reihe kriegen – und verlangen Sie keine Bückware. Das sind die Regeln, ach was: Gesetze des freien Marktes, die Sie mit Ihrer Ersatzreligion im Rücken seit dreißig Jahren vorjodeln, wenn’s mal unschön läuft für Bevölkerungsschichten, zu denen Sie nicht gehören. Haben wir gejammert, als die Russen die Produktivität mit Planwirtschaft abgewürgt haben? Dann sollten Sie jetzt das Maul halten, wenn die Versorgung durch die Marktwirtschaft versagt.

Die Kaffeekrise haben Sie nicht mitgekriegt, da waren Ihre Eltern vermutlich noch Teenager. Der Preis stieg auf das Sechsfache, dazu kam noch die Ölkrise – fragen Sie Ihre Eltern, ob ein Fahrverbot in ganz Deutschland die Bevölkerung von einem Tag auf den anderen umbringt – und die Produktion der preiswerten Sorten musste eingestellt werden. Aus dem Westen kam nichts, weil wir nicht die erforderlichen Mengen an Mandeln, Korinthen und Orangeat für echten Dresdner Christstollen hatten, wobei: es kam etwas aus dem Westen. Gewimmer. Sie mussten sich schrecklich darüber beklagen, dass es zu Weihnachten nicht den richtigen Stollen gab, mit dem Sie Ihre Wiedervereinigungssehnsucht aus dem Fenster hängen konnten. Wir haben den Kaffee mit Erbsenmehl gestreckt, sind auf Tee umgestiegen und haben haben abgewartet, bis Erichs Krönung nicht mehr die Brühmaschinen in der Gastronomie verstopft. Hat man das Gejammer über die Mauer gehört? Dann fragen Sie sich mal, warum. Von den Regierungsabkommen der DDR mit Vietnam zehrt die Kaffeeindustrie übrigens bis heute, falls Sie interessiert, warum der so billig ist. Die nächste Krise 2001 kam wegen Überproduktion. Aber daran war sicher auch der Sozialismus schuld.

Keiner hier will die DDR zurück. Keiner hier will immerzu ‚Internationale Solidarität!‘ schreien, ‚Freundschaft!‘ oder irgend etwas, das man schreit, weil man sonst nicht daran glaubt. Wenn Sie genau wissen wollen, wie gut uns die Einheit getan hat, dann gucken Sie gerne noch mal nach, was mit dem Vermögen der Ost-CDU passiert ist, bevor sich im Konrad-Adenauer-Haus die Schreibtischschubladen auf wundersame Weise für immer schlossen. Wir haben gewartet, bis es besser wurde, als wir nicht mehr warten wollten, haben wir es besser gemacht. Das steht Ihnen noch bevor. Wünschen Sie sich das nicht. Real existierende Krisen sehen Sie derzeit in der künftigen Sowjetunion, wir hatten nicht mal den real existierenden Sozialismus. Und jetzt nimm Deine Avocados und die Flasche Rotkäppchen und verpiss Dich aus meinem Laden, Du Westbeule!“





Gernulf Olzheimer kommentiert (DXCII): Der Mythos der Überbevölkerung

26 11 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

In Ugas Höhle wurde es langsam eng. Seit vor zehn Generationen die Leute vom anderen Ufer des Flusses hinter der westlichen Felswand eingezogen waren, hatte sich der Verbrauch an Süßgras leicht vermehrt, die Ernte aber so gut wie verdoppelt, da mit Hilfe der Einwanderer erstmals systematisch das Grobborstige Knäuelkraut angebaut wurde. Der Sippenälteste jedoch bestand auf strikten Stopp der Besiedlung aller Höhlen neben dem Fischteich. Zu viele Hominiden, so Uga, würden irgendwann die wirtschaftlichen Grundlagen zukünftiger Stämme gefährden. Ob er bereits mutmaßte, dass sich die Erfindung des Rades dadurch um Monate verzögern würde, ist nicht geklärt; möglicherweise hatten sie in der Siedlung an der westlichen Felswand keinen Wahlkampf. Aber es entstand der Mythos der Überbevölkerung, wie wir ihn auch heute noch gern nutzen, wenn uns die Argumente ausgehen.

Der mediale Brüllmüll der letzten Jahre ist noch angefüllt mit Klischees vom vermehrungsfreudigen Afrikaner, dicht gefolgt von anderen Rassen, die europäische Nasskämmer aus dem Finanzsektor gerne kastrieren wollen, weil sie so elitäre Dinge wie Nahrung oder Energie für sich beanspruchen – man denke nur mal an Südamerikaner, die den Mais für ihre Kalorienzufuhr verplempern, während die neoliberale Arschgeige damit als Biosprit noch ihr Ökogewissen grünwaschen könnte. Da macht’s freilich Sinn, wenn man Indios mit ihren Feldern simultan wegklappt. Serviceorientierte Diktatoren übernehmen den Job für wenig Geld. Sollte man die Ressourcen für unser globales Klima – da kann man es endlich mal als schützenswertes Gut raushängen lassen! – nicht viel umsichtiger nutzen, auch und gerade im Interesse der Völker, für die wir Jobs und Mülldeponien schaffen?

Fakt ist, dass ein erschreckend großer Teil der Menschheit nach wie vor in Hunger und Elend lebt, unzureichende medizinische Versorgung hat und oft keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Dass es sich bei diesen Menschen um Nachfahren der vom Kolonialismus betroffenen Arbeiter handelt, wird so nachhaltig wie überhebend unterschlagen. Erst mit den politischen Umwälzungen der aktuellen Epoche haben diese Staaten einen Weg bestritten, den die Ausbeuter des angeblich freien Westens nicht mehr tolerieren können: sie sind als willfährige Objekte der Entwicklungshilfe nicht dankbar genug, das Normalmaß an Elend einzuhalten, produzieren stets unschöne Bilder von hungernden Kindern und lauern an unseren Grenzen, wenn der Klimawandel sie zum auswandern nötigt. Sie sind zu viel, anders lässt sich unsere mathematische Überzeugung nicht mit schmerzlosen Mitteln zurechtschwiemeln.

Leider benötigen wir sie immer noch. Ohne die Überbevölkerung, wie wir sie nennen, gäbe es nicht ausreichend Fabrikarbeiter, die in maroden Hallen unsere Klamotten weben, färben und schneidern, unsere Spielwaren zusammendengeln oder unsere Smartphones aus unseren Bodenschätzen braten –es sind nicht unsere Bodenschätze, aber das hat sich bis in die Industrieländer nicht herumgesprochen. Es ist ja auch nicht unser Mais. Oder unser Hunger. Vor dem Hintergrund dieser Produktivität ist nicht die Anzahl der Menschen in den armen Nationen das Problem, sondern die gelassene Bereitschaft der Reichen, diesen Zivilisationsbruch auszublenden, damit wir uns am Überfluss nicht tot kotzen.

Der Kapitalismus ist nie schuld, er definiert die Probleme gewohnheitsmäßig so, dass sie unlösbar bleiben, damit sich die Kapitalisten nicht mit einer moralischen Begründung herumschlagen müssen. Mit dem billigen Schlüssel, für eine enorme Masse an Menschen in den unterentwickelten Regionen gar nicht genug tun zu können, um deren Leben und Wohlstand zu schützen, weil es eben viel zu viele seien, sind wir fein raus. Wir haben den bequemen Weg gewählt. Uns geht es gut. Noch.

Lustigerweise ist auch hier schon das Boot voll. Wir haben nicht genug Wohnungen für alle, nicht genug Jobs, zu viele Menschen für den Markt, und nicht genug Pflegepersonal für die vielen Kranken, nichtgenug Einzahler für die Renten, nicht genug Fachkräfte. Aber Logik stört hier nur, im Grunde ist auch unser Kontinent überbevölkert, wenigstens aus der Perspektive der Eliten, die sich beim Anblick der vielen Nichtmillionäre ekeln, was da alles ohne Porsche auf der Autobahn herumeiern darf. In ihren Augen backt sich Brot von alleine, Müll holt sich selbst ab, wie sich auch ihr Konto automatisch füllt. Da braucht’s dann die anderen Schichten auch nur, um den Klassenkampf unterhaltsamer zu machen, und das in der Bundesrepublik, die dichter besiedelt ist als Nigeria, die bevölkerungsreichste Nation in Afrika. Warum hat noch keiner gefordert, Monaco mit Napalm auf die korrekte Populationsdichte zu stutzen? Geht irgendwer in diesem Loch einer volkswirtschaftlich relevanten Arbeit nach?

Wir wachsen uns kaputt, und was die obszöne Überbevölkerung angeht, hält uns China längst den Spiegel vor: ein Aufschüttung von Megacities und Industriekonglomeraten, in denen der ganze Dreck für die Europäer zusammengehauen wird. Ein hässliches Bild an Überbevölkerung, das die vor Hochmut und moralischer Überlegenheit triefende Besserwisserei der Altweltkapitalisten anwidert. Bald werden wir es ihnen sagen, dass wir sie für ein verkommenes Völkchen halten, auf das wir mit Abscheu und Selbstgefälligkeit herabblicken. Bald. Ganz bestimmt. Wir müssen nur noch eben kurz verdrängen, dass wir dazu viel zu feige wären.





Verbraucherschutz

21 10 2021

„Kann man das nicht einfach verbieten?“ „Was denn?“ „Den Dieselpreis.“ „Wieso das denn?“ „Der ist zu hoch.“ „Für wen?“ „Für mich.“ „Ach so.“ „Das müsste man doch verbieten!“ „Sind Sie von den Grünen?“ „Nein.“ „Dachte ich mir.“

„Wir müssen doch irgendwas tun können gegen diesen Wahnsinn!“ „Benzin ist sogar noch teurer als Diesel.“ „Was?“ „Ich sagte, Benzin ist…“ „Ich habe Sie verstanden, aber warum sagen Sie mir das?“ „Weil das Ihre übliche Argumentation ist.“ „Was?“ „Wenn Ihnen jemand sagt, das Arbeitslosengeld sei zu gering, dann rechnen Sie ihm doch auch immer vor, dass man damit in Afrika ein Krösus ist.“ „Das hat doch nichts mit den Benzinpreisen zu tun!“ „Sie müssen das nur relativ sehen, dann ist der Preis für Diesel gar nicht mehr so schlimm.“ „Jetzt lassen Sie doch mal Ihre blöden Witze, das kann sich doch niemand mehr leisten!“ „Wie den Klimaschutz.“ „Was?“ „Wenn Sie so viel Geld für Diesel ausgeben müssen, können Sie sich bestimmt den Klimaschutz nicht mehr leisten.“ „Ich weiß nicht, ob das lustig sein soll, aber ich finde es nicht lustig!“ „Das ist ja schön.“ „Ich finde das empörend!“

„Warum fahren Sie denn dann überhaupt Diesel, wenn es so teuer ist?“ „Eigentlich ist es ja gar nicht so teuer.“ „Und deshalb beschweren Sie sich, dass Sie es sich nicht leisten können?“ „Normalerweise kann man sich Diesel leisten, aber jetzt eben nicht.“ „Und woran liegt das?“ „Die CDU hätte die Wahl gewinnen müssen, die hätten das geändert!“ „Sie meinen, die hätten besseres Wetter beantragt?“ „Was?“ „So falsch ist das nicht, wenn die CDU weiter am Ruder bliebe, wäre es zumindest dauernd warm draußen.“ „Ich merke das, wenn Sie sich über mich lustig machen!“ „Das trifft sich gut, dann wissen Sie ja auch bestimmt, dass der Dieselpreis mit dem Herbstwetter korreliert.“ „Was?“ „Wenn es draußen kälter wird, kaufen die Leute Heizöl.“ „Das ist doch keine Überraschung, oder sollen sie das im Hochsommer kaufen?“ „Dann hätten wir schon im Sommer hohe Dieselpreise gehabt.“ „Dann hätten vielleicht mehr Leute zur Vorsicht CDU gewählt.“

„Aber wo Sie gerade von Verboten reden: wer hat eigentlich das Drei-Liter-Auto aus dem Verkehr gezogen?“ „Keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“ „Es gab doch mal Wagen, die mit drei Litern auf hundert Kilometer auskamen.“ „Das ist aber lange her, die finden Sie heute nur noch auf dem Schrott.“ „Deshalb mussten die Autohersteller neue bauen, die zehn Liter schlucken, als sie gemerkt hatten, dass die alten irgendwann durchrosten.“ „Sie können doch mich jetzt nicht für die Autofirmen verantwortlich machen!“ „Sind Sie ein mündiger Verbraucher?“ „Natürlich!“ „Deshalb kaufen Sie einen Wagen, der mehr Diesel verbraucht, als Sie sich leisten können.“ „Dann muss der Staat hier eben einschreiten!“ „Und wie genau stellen Sie sich das vor?“ „Verbraucherschutz!“ „Der Staat soll also den Verbraucher vor Fehlinvestitionen schützen?“ „Wenn das nicht der Staat macht, wer denn dann?“ „Haben denn die Bürger keine Freiheit mehr, sich selbst gegen teure Dieselautos zu entscheiden?“

„Überhaupt haben Sie noch nicht die Folgen für die Wirtschaft berücksichtigt.“ „Ja, dann werden die Transporte auf der Straße natürlich auch teurer.“ „Man kann doch nicht die Löhne kürzen, nur weil der Kraftstoff teurer wird!“ „Ach was, das würde der Wirtschaft doch nie einfallen.“ „Eben, aber wir Verbraucher müssen dann zum Beispiel mehr für Lebensmittel bezahlen!“ „Wenn man die nicht auf der Schiene transportiert, dann werden die teurer.“ „Es gibt doch gar nicht so viele Güterwagen, um ausreichend Lebensmittel zu transportieren.“ „Was Sie nicht sagen!“ „Dann müssen wir die eben weiter auf der Straße befördern, oder fällt Ihnen etwa eine bessere Lösung ein?“ „Sie könnten auf Biospargel aus Südamerika verzichten.“ „Ich lasse mir von der Dieselindustrie nicht vorschreiben, was ich essen darf!“ „Stimmt, wegen der bürgerlichen Freiheit.“ „Genau, da muss der Staat endlich einschreiten!“ „Sie könnten beispielsweise auf regionale Produkte ausweichen.“ „Aber südamerikanischer Biospargel wächst eben nicht um die Ecke.“ „Da befinden Sie sich jetzt natürlich in einem schlimmen Dilemma.“ „Die südamerikanischen Spargelbiobauern wollen schließlich auch irgendwie leben.“ „Irgendwie, man ist ja kein Unmensch.“ „Und der ist letztlich sogar preiswerter, weil der eingeflogen wird und Kerosin gar nicht so teuer ist wie Diesel.“ „Dann könnten Sie ja rein theoretisch reich werden, wenn Sie nur noch südamerikanischen Biospargel essen.“ „Sie meinen, das geht?“ „Dann sind Sie eines Tages so reich, dass Sie sich sogar Diesel leisten können.“

„Ihre Witzchen sind ja ganz nett, aber haben Sie denn auch eine ernsthafte Erklärung für den Preis?“ „Diesel wird aus Erdöl hergestellt.“ „Das hat keiner bestritten, aber ich wollte eine Erklärung.“ „Es gibt nun mal nicht genug Erdöl in der EU, also müssen wir welches kaufen.“ „Kommen Sie zum Punkt!“ „Das meiste Erdöl kommt aus arabischen Ländern.“ „Und warum ist das so teuer?“ „Weil die OPEC-Staaten weniger Öl fördern.“ „Es gibt doch jede Menge Öl da unten!“ „Sie können ja gerne mit der Schaufel nach Saudi-Arabien latschen und in der Wüste nach Öl graben, immer vorausgesetzt, man lässt Sie.“ „Es gibt kein Öl, und deshalb ist das so teuer?“ „So ähnlich wie Gold, die Menge bestimmt den Preis.“ „Das ist doch kriminell!“ „Das nennt man Marktwirtschaft – geringes Angebot bei hoher Nachfrage lässt den Preis steigen.“ „Das ist eine Sauerei!“ „Der Markt regelt das, Sie dürfen sich in diesem Wirtschaftssystem vollkommen frei fühlen.“ „Kann man das nicht einfach verbieten!?“





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXXXVI): Vom richtigen Leben im falschen

15 10 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Situation ist unübersichtlich: kein Komet am Himmel, die Erde tut sich nicht auf, Leviathan lässt auf sich warten. Nur die Flüsse steigen über die Ufer, während die Felder verdorren, der Sand wird knapp und es gibt so viele Jobs, dass manche von ihnen gleich drei haben. Es seufzen die Lenker der Staaten und lehnen sich verdrießlich zurück, da ihnen auch nichts einfällt. Sie müssen zusehen, wie alle ihre Absichtserklärungen zu Asche zerfallen, tatenlos natürlich. Am Ende werden es die Leute sein, dieses schwer erziehbare Volk von Menschen, das noch immer Plastikverpackungen kauft, weil es billige Discounterschnitzel nun mal nicht gleich in die Manteltasche gibt. Es ist schlimm, aber nicht ausweglos, der Schuldige ist gefunden: wir sind es. Wir, die ein richtiges Leben versuchen im falschen.

Wie man den Berufspendlern den Stau in die Schuhe schiebt, weil sie an der stillgelegten Bahnstrecke wohnen und ihre Autos nicht einfach für den Klimaschutz stehen lassen, so macht man uns weis, wir seien das System. Daneben übt sich die Politik in milder Enttäuschung, wo immer ein Kreuzfahrtschiff dem Reiseveranstalter Gewinne verschafft und dennoch wie vorhergesehen die Luft verpestet – sie täten ja gerne etwas, aber sie können nicht. Es liegt am ungeheuren Bedarf, und wer würde schon verbieten wollen, was so beliebt ist? Unsere Wirklichkeit passt nicht zu den Ansprüchen, die wir haben sollen, wie sie uns der Zeitgeist in die Rübe schwiemelt. Es gibt da ein gesellschaftliches Ideal, und doch gibt es den Sachzwang, in dem das Leben stattfindet. In dieser Spreizung stecken wir fest, und es ist kein schöner Anblick, wenn wir das große Ganze sehen. Wie schon in den traditionellen Mythen zur Lenkung systemstabilisierender Ethik erprobt lässt sich nichts besser instrumentalisieren als nachhaltig erzeugtes Bewusstsein, eine Sünde begangen zu haben. Einmal geboren, zack! alles falsch gemacht. Warum soll sich der korrupte Dreckrand ein anderes Deckmäntelchen umhängen als das bequeme Christentum?

Gerade vor dem Leistungsgedanken, den der Kapitalismus neu definiert – die konsumistische Konfession bekennt zuerst den Glauben, sich alles leisten zu können – bleibt auch das Versprechen auf einen Aufstieg gefangen: die Unterschicht wird sich bald so viel leisten können wie die Mittelschicht, die sich wird leisten können, was die Oberschicht besitzt. Scheuklappen weg, auch Geltungskonsum schützt nicht davor, als weißes Rauschen in die Geschichte der Hirntätigkeit einzugehen. Auch der gezielte Kauf kostspieliger Produkte ist noch keine Absolution; solange die Designernietenhose aus demselben Stoff an derselben Maschine von demselben Kind gefertigt wird wie die Jeans für den Billigheimer, die nur etwas weniger als fünf Prozent der Protzklamotte kostet, solange kann sich der liberale Wurstverkäufer in eine Körperöffnung nach Wahl predigen, wenn er Arbeitslosigkeit als Chance auf eine individuelle Neuerfindung preist oder Armut als sozial erwünschtes Gegengewicht für eine Kaste, die ihre verschissene Randexistenz ohne Flugmango für das hält, was sie in Wahrheit längst ist: überflüssig wie Brechdurchfall beim Drahtseilakt. Askese als Pfad der Erkenntnis wird vor allem dem Armen empfohlen. Vermutlich sind andere für spirituelle Impulse eh nicht mehr zu begeistern. Oder für Ethik. Oder die Menschheit.

Ob mit oder ohne gründliche Entsolidarisierung durch den Fokus auf die individuelle Schuld an der gesellschaftlichen Entwicklung frisst sich ein Gesinnungsterror durch die prekären Schichten, der die eigene Verkettung in die Phänomene noch viel gründlicher verdrängt, als es die nutznießende Elite könnte. Sie teilt und lässt herrschen, vornehmlich von den kultivierten Kräften der Gier, die sich so unerhört produktiv ansteuern lässt durch Werbung, Spaltung, Angst, kurz: alles, was den Trieb ihrer intellektuellen Überformung durch die Zivilisation entledigt. Wir werden Mittäter, Kollaborateure, Ausnutzer, wo unsere Entscheidung alternativlos ist und nur der eigenen Rechtfertigung dient. Bald ist Armut der neue Reichtum – die Pseudoeliten der Bourgeoisie neiden den Erwerbslosen ja schon ihre Zeitsouveränität und würden sie am liebsten acht Stunden lang in die Tretmühle zwingen, auch wenn dann keine Zeit mehr bliebe, sich um die Arbeit zu bemühen, die es ohnedies nicht mehr gibt – und nur der Gedanke an die Umsätze des Einzelhandels ist noch im Weg, dass man dem Prekariat den Konsum kategorisch untersagen würde. Irgendwie muss das Pack überleben, sagt sich der Kapitalismus, womit allerdings nicht die Kunden gemeint sind.

Die humane Konditionierung lässt nur wenige Wahlmöglichkeiten. Ohne Revolution sind alle an den bestehenden Verhältnissen schuldig und also trefflich erpressbar. Wer mittwochs nach sechs eine Flugmango wollte oder zu Weihnachten für den Nachwuchs unbedingt eine Spielkonsole, der trägt die gleiche Schuld. Die einen werden schweigen, grinsend vermutlich, weil sie wissen, dass sie in diesem Klassenkampf die Opfer werden schlachten können. Die anderen schweigen ebenfalls. Im Sinne einer nachhaltigen Lösung wäre es nicht verkehrt, die Positionen einmal zu überdenken.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXXXIV): Der ökologische Verzichtsdiskurs

1 10 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Was tut er nicht alles, der Mensch. Fährt mit dem Auto zur Arbeit, kauft Gemüse in Einmalplaste und benutzt nie die Pinkeltaste. Kein Wunder, dass die Polkappen verkochen und der Permafrost sich in die Atmosphäre verabschiedet. Wäre er doch nur vernünftig, sagen alle, wir könnten Klimaziele mit lockerer Leichtigkeit wuppen und uns selbst feiern für diesen Sieg der Vernunft – aber nein, es muss der energieineffiziente Kühlschrank sein, aus dem er seinen Schampus zwitschert, damit er die alte Umweltsau in den Hühnerstall kriegt. Der Mensch ist dumm, das ist unbestritten, aber lässt sich das abstellen? Zur Not mit konsequentem Verzicht?

Fehlverhalten, das haben Debatten um innere Sicherheit und Wirtschaftskraft uns eingehämmert, beginnt in der kleinsten Keimzelle der Gesellschaft. Der ordentliche Bürger sammelt Buntmetall, gibt seine Spende für den Bürger in Uniform und hat die Nase gerne im Briefkasten des Nachbarn, der ja ein Volksverräter sein könnte. Natürlich braucht es kein Gesetz, um die Einhaltung der Kehrwoche in einem manierlichen Mietshaus sicherzustellen, das wird von den Erfüllungskräften schon organisiert, um zu klären, wer noch in der Kaste mitmachen darf. Und so übt sich der kapitalistisch sozialisierte Zonk in der Tugend des Mülltrennens, während der Strom spart und Verpackungen löffelrein zur allgemeinen Begutachtung an den Straßenrand verlastet. Fleißig nutzt er auch die modernen Möglichkeiten, die ihm das Netz bietet: hier und da, bereitgestellt von allen großen Ämtern und Verbänden, summiert er auf, was alles er tut und treibt, das CO2 in die Luft bläst. Wie viel Fleisch und Baumwolle hat der gemeine Mann verbraucht, wie oft ist er in den Urlaub geflogen, wie heizt er, und womit? Emsig schwiemelt er zusammen, was seine Selbstkritik in stattliche Form zu blähen weiß, und kriegt hernach das Ergebnis: schuldig mit Vorsatz. Wer Biogurken in Kunststoffpelle kauft, will halt ins Fegefeuer.

Dabei ist die Mär vom ach so privaten ökologischen Fußabdruck denn auch nichts anderes als ein relativ abgeschmackter PR-Stunt, den sich die Fossilienverbrennerindustrie ausgedacht hat, um dem durchschnittlichen Dreipersonenhaushalt den pechschwarzen Peter zuzuschieben, warum sich das Klima von Kipppunkt zu Kipppunkt hangelt. Der individuelle Verzicht, so greint’s aus der moralisch frisch gebleichten Etage, muss unbedingt sein. Wer da noch nicht seine Flusskreuzfahrt im Paddelboot macht, werfe die erste Grillwurst! Dazu gelingt es den Grünwäschern durch das abgeschrägte Framing locker, mit erhobenem Zeigefinger dem Volke die sittliche Überlegenheit unter die Nase zu reiben. Wie das Ökostrom aus eigenem Sonnenkollektor fürs Zehn-Zimmer-Passivhaus nutzt! Abgasfreie 600 PS! Rüben aus dem Hochbeet! Warum kann das denn nicht einfach jeder?

Weil es eben nicht jeder so einfach kann. Es ist eine politische Entscheidung, Windräder aus der Energieerzeugung zu verbannen und die gesamte Fotovoltaik mit Anlauf und Ansagen in die Tonne zu treten, samt aller Arbeitsplätze – wer dann seine elektrische Schleuder mit Diesel über die Autobahn schwiemeln muss, weil es dort keine vernünftige Schienenverbindung gibt, hatte eben keine andere Wahl. Das Altölkondom über dem Grünzeug ist bei Verbrauchern beliebt wie Pickel. Und wer in einer Mietwohnung lebt, hat kaum Einfluss auf Qualität und Alter von Sanitär- oder Küchenausstattung, Heizung und Dämmung, die er selbst bezahlen darf, damit sein Vermieter nicht plötzlich verhungert. Dazu kommt dann das Paradoxon der angeblichen Verbotsparteien als kognitiver Dissonanzgrundton, bei dem wir denken sollen, die Gewissensprüfung sei gleichzeitig unsere Schwachstelle und uns durch defizitäre Entscheidungen von Wirtschaft, Politik und System aufgedrückt. Das Muster funktioniert in aufklärungsfeindlichen Kreisen derart gut, dass es für beliebige Schuldzuweisungen herhält: wer nicht jeden Kriegs- oder Klimaflüchtling schnellstens in die zerbombte Heimat abschieben will, muss sich fragen lassen, ob er ihn im eigenen Wohnzimmer aufnehmen will, wie man auch Erwerbslosigkeit als individuelle Schwäche ansieht. L’État, c’est moi.

Wenn es mal so wäre. Das angebliche Wesen hat sich längst abgekoppelt und füttert die Frustration der durchschnittlich Engagierten, die irgendwann keinen Bock mehr haben, gegen die weltfremden Eskapaden einer Regierung zu demonstrieren, die sämtliche Klimakiller mit Subventionen polstert und Hilfsgelder aus dem Fenster schmeißt, als wäre eine Welt ohne Postkutschen und Schreibmaschinen nicht mehr existenzberechtigt. Solange Theoretiker sich trösten, dass die Gesellschaft den Menschen formt, können wir uns jeden Versuch in die Haare schmieren, die Verhältnisse zu ändern, wenigstens nicht auf wohlgesittete Art. Mit Fackeln und Äxten sähe die Sache gleich ganz anders aus, sie würde auch ungleich mehr Spaß machen. Natürlich muss die Menschheit sich in Verzicht üben, nur wollen eben nicht die verzichten, die bisher nichts mit Solidarität oder Verursacherprinzip am Hut hatten. Für sie war der Mensch ein schnell nachwachsender Rohstoff. Wir können auf diese Haltung verzichten. Und wir könnten es uns langsam auch leisten.





Learning English, Lesson One

29 09 2021

„Nee, no bananas is not da, this is over there. Here we have no Ananas. – Bisschen schwierig ist das ja, wir hatten nur Russisch, aber dass wir unsere alte Kaufhalle noch mal zur Völkerverständigung gegen den westlichen Imperialismus nutzen können, das ist schon urst. Da machen wir gerne mit, das ist ein tolles Projekt zur europäischen Integration.

Kommen Sie alle ran, hier stehen die Körbe, Sie brauchen auch einen, wenn Sie nichts kaufen, und die Wahrscheinlichkeit ist momentan recht hoch, da wir den Laden original britisch eingerichtet haben. Wie Sie sehen, sehen Sie nichts, und das auf unser ganzes Sortiment ausgeweitet. Wir sind zwar groß, aber ich möchte Sie doch bitten, immer nur zu zwei bis drei Personen einzutreten. Nicht wegen Corona, das verläuft sich hier, aber Sie haben dann schon mal die Gelegenheit, sich mit der Bildung eines marktwirtschaftlichen Wartekollektivs vertraut zu machen. Früher war das sozialistisch, und als Briten ist Ihnen die Kunst des Schlangestehens bestimmt auch nicht ganz fremd, oder? Eben, und Ihre erste Lektion lernen Sie schon vor der Tür. Learning English, Lesson One: if you want real Scheißdreck, captalism will do.

Einer der Unterschiede, den unsere Freunde von der Insel auch noch lernen müssen: dass sie nicht mehr unsere Freunde von der Insel sind. Wir sind die EU, sie sind draußen. Noch ein Unterschied: sie mögen Erfahrung haben mit Lebensmittelmarken und Rationierung, das hatten wir auch, aber bei uns gab es keine Wucherpreise für Grundnahrungsmittel und keine marktbedingten Hungerlöhne. Wenn das für die Briten zu kompliziert ist, weil sie jetzt erst kapieren, wie Marktwirtschaft funktioniert, dann haben wir gerne noch eine Lektion: when you want potatos, you can go to the Intershop.

Wir wollen unseren freiheitslebenden britischen Freunden auch zeigen, dass es keinen Zweck hat, stattdessen an die Tankstelle zu fahren. Die hat auch kein Gemüse mehr, ist ja auch klar – erst mal muss die Tankstelle wieder Benzin haben, dann hat die Tankstelle auch wieder Gemüse. So ist das nun mal, wenn in einem Entwicklungsland die Regierung beschließt, mit dem Kapitalismus herumzuspielen, bis Fehlallokationen auftreten. Keine ausländischen Arbeitskräfte bringen kein Benzin an die Tankstelle, keine Laster tanken kein Benzin und werden von keinen ausländischen Arbeitskräften zu den Läden gefahren, wo sie keine Waren mehr abladen. Gut, die ausländischen Arbeitskräfte fahren die schon gar nicht mehr ins Land, das verkauft die Regierung sicher schon als Erfolg, weil in den Lagern an der Grenze gerade keine Kartoffeln verfaulen. Aber im Grunde hat ihre Regierung alles richtig gemacht, wie aus dem Lehrbuch für angehende Diktatoren, die von einer Hungerrevolte weggeputscht werden und plötzlich einen Kopf kürzer sind.

And this is the Fischtheke, today we have no Kabeljau and no Hering. – Ist jetzt aber auch nicht so schlimm, dem Fisch geht’s jetzt besser. Er bleibt gleich im Wasser, auch wenn es britische Zone ist. Vielleicht sollten sich mehr Briten ein Schlauchboot und eine Angel besorgen, dann ist die Versorgung immerhin kurzfristig gesichert. Wenn sie dann alle auf hoher See absaufen, sind wir schuld, so steht es im Drehbuch. Oder die USA müssen aushelfen, sobald es ein Handelsabkommen gibt. Dann kann man auch gleich nordeuropäischen Holzschliff auf die Insel bringen, damit es wieder Toilettenpapier gibt. Dann muss die Regierung natürlich wieder vor Hamsterkäufen warnen, damit nicht gleich alles weg ist, oder man macht einen Zentralverkauf in einem einzigen Laden pro Region, wo Sie schon ein paar Tage vor Ankunft der Ware campieren müssen, um überhaupt etwas abzubekommen. Wie man das macht, das lernen Sie hier. Wenn man dann auch noch Termingeschäfte mit Toilettenpapier an der Londoner Börse machen kann, dann kann sich bald jeder so viel Benzin leisten, dass er im eigenen Auto zur Tankstelle fahren und sich Toilettenpapier kaufen kann. Falls es irgendwo Toilettenpapier gibt. Oder Benzin. Sie ahnen, wie es funktioniert?

Ein bisschen Lagerware haben wir ja noch, also Chips statt Fisch, Mikrowellenzeugs, also alles, was man auf die Schnelle mit Fett und Zucker in eine Plastikverpackung kriegt. Das ist qualitativ auch nicht viel besser als das, wovon sich die Briten in den letzten Jahrhunderten ernährt haben, und da war Großbritannien eine gewaltige Macht. Und da der NHS jetzt pro Woche wieder 350 Millionen Pfund mehr bekommt, kommt man mit den Folgen der Mangelernährung bestimmt auch viel besser zurecht. Glauben Sie mir, ein Volk, das Marsriegel frittiert, wird nie über zu hohe Qualität klagen. Und in der Hinsicht können wir auch von den Briten lernen, weil wir zwar noch Gemüse haben, aber zu erheblich höheren Preisen, die das untere Drittel der Verbraucher sich nicht mehr leisten kann. Bei uns liegt das aber auch am Klimawandel, der das Wetter versaut, und an den Mieten, dass kaum noch Geld für gesunde Ernährung mehr bleibt. Der Deutsche fährt mit dem Zwölfzylinder zum Discounter, weil er sonst kein Geld für den Zwölfzylinder hätte. Das deutsche Gemüse stammt auch immer noch zum großen Teil aus dem Ausland und wird dort von Niedriglöhnern geerntet, so viel anders sind unsere Voraussetzungen also nicht.

And here we want our money back. Thanks. Ja nun, was erwarten die Leute, dass wir Ihnen unsere Sachen schenken, nur weil sie irgendwann mal in der EU waren? Vielleicht darf jetzt jeder Lastwagen fahren, vielleicht kann man jetzt als ausländische Arbeitskraft wochenweise einreisen? Naja, eins ist wenigstens sicher. Veggie-Day kriegen die keinen.“