Schuld war nur der Bossa Nova

24 03 2010

Ein Jahr nach Winnenden, unter dem Eindruck zahlloser missbrauchter Kinder, die Nation hockte wieder einmal ratlos im Gehäuse, hatte Angst, weil ihr davon niemand ausdrücklich abgeraten hatte – es ergab sich so – und suchte einen Schuldigen. Die Arbeitslosen hatte der Außenminister gerade kaputtgespielt, die Kommunisten waren für die Wahl in Nordrhein-Westfalen reserviert, Ausländer – die Ausländer – waren viel zu unspezifisch, zumal es sich nicht gerechnet hätte, die deutsch-dänischen Beziehungen für einen kurzfristigen Propagandaerfolg der Regierung zu ruinieren. In einem pawlow’schen Anfall ließ der Freizeitpsychologe Pfeiffer die Presse wissen, dass die Gewaltexzesse krimineller Banden aus der Kenntnis von Killerspielen herrühre. Damit hätte man das Kapitel abschließen können, auch wenn die Hells Angels protestierten. Mit Ballercomputern gäbe man sich gar nicht erst ab. Eine Zwickmühle. Denn nicht, dass ein hirnrissiger Vergleich eines unqualifizierten Pensionärs den Sündenbock zum Gärtner machte, war der Skandal. Den Rockerclub gab es seit mehr als sechzig Jahren.

Hektische Überlegungen folgten. Ausgerechnet die der deutschen Regierung just so eng vertraute Schweiz schoss quer und schleifte ein Spielverbot durch den Ständerat. Sensible Naturen unter den Waffenbesitzern befürchteten schon, man würde mit dem Finger auf sie zeigen und sie zu spontanen Schießereien zwingen. Durfte man einen Teil der Staatsbürger einfach schutzlos den Diffamierungen einer enthemmten Öffentlichkeit preisgeben?

Rettung nahte aus konservativen Kreisen. Während andere noch ihre Vorurteile nach Preisen sortierten, hatten fortschrittliche Rückschrittskräfte um den Vorsitzenden der Bischofskonferenz bereits hatten den Feind ausgemacht. Negermusik, erklärte Erzbischof Zollitsch, sei noch immer und an allem Schuld gewesen. Dies Dogma gelte seit nunmehr fast sechzig Jahren, also und da es bekanntlich nur von allen denen bestritten würde, die ohnehin böse seien und zufällig selbst Negermusik hörten, sei der lückenlose Beweis erbracht. Die Klänge einer gottlosen Generation seien es, die die Saat der Gewalt hätten aufkeimen lassen.

Horst Seehofer und Bushido zogen sich nach Wildbad Kreuth zurück, bevor sie ihre gemeinsame Presseerklärung verschickten.

Nichts hielt nun die Gesellschaftspfleger davon ab, die Republik von Schmutz und Schund zu befreien. Einige Saubermänner übertrieben es zwar deutlich, indem sie allnächtliche Verbrennungen missliebiger Artikel auf öffentlichen Scheiterhaufen forderten, doch die christlichen Parteien lehnten diese Forderung im Bundestag rundheraus ab; die Kanzlerin ließ sich aus Klimaschutzgründen nur zu wöchentlichen Autodafés überreden und selbst das nur, wenn die Wiederverwertung nicht vermiedener Abfälle gesichert sei. Der Koalitionspartner indes ging weiter, schon um die immer noch ausstehende soziale Frage endlich vom Tisch zu bekommen. Guido Westerwelles Beschäftigungsprogramm Sozialistische Aufklärung für Ein-Euro-Jobber fand rasch Anklang bei der Bevölkerung, weil das Kürzel SA vielen Mitbürgern noch in angenehmer Erinnerung war. Auch die kulturelle Bereicherung war deutlich zu spüren, das Kampflied Bau ab, bau ab gehörte von da an zum deutschen Alltag. Selbstverständlich achtete die Bundesregierung darauf, dass die Zeilen „Für eine bessere Zukunft richten wir die Heimat zugrund’!“ nicht mit undeutschen Rhythmen unterlegt waren. So rückte die Nation in wohliger Wärme zusammen.

Es schlug die Stunde der Denker. In einer messerscharfen Analyse wies Bettina Röhl, die große alte Dame der Vulgärsoziologie, nach, wie die 68-er die Swingjugend hervorgebracht hatten, der sie die Schuld am Scheitern von Stalingrad gab. Auch die katholische Kirche nahm die Moralübung begierig auf. So stellte die Bischofskonferenz fest, das afroamerikanische Getrommel habe bei vielen Kindern und Jugendlichen bereits verheerende Wirkung gezeitigt; sie seien inzwischen derart verroht, dass sie sich unschuldigen Pfarrern in unsittlicher Weise genähert hatten. Das komplette Archiv des ZDF stand vor einer Generalrevision; Roland Koch nahm sich der Aufgabe selbstlos an.

Daneben galt es vorwiegend, Plattenläden und Antiquariate auszumisten, da dort der Schund der Vergangenheit noch haufenweise lagerte. Dennoch rief das sittenreine Kontrollgremium zu maßvollem Durchgreifen auf. Während Little Richards Tutti Frutti in historischen Originalaufnahmen von eifrigen Bürgern auf dem Pflaster zertreten wurde, ließ man die gleichnamige Fernsehsendung ungeschoren. Negative Einflüsse der allenfalls drittrangigen Hintergrundmusik waren hier nicht zu bemängeln gewesen.

Mag es sein, dass die Bekämpfung gewalttätiger Umtriebe etwas aus dem Ruder lief, denn an einem lauen Frühlingsabend geriet Christian Pfeiffer selbst ins Visier der Fahnder. Eben noch hatte er heimlich zersetzenden Unflat in seinen Schrank geräumt – es sickerte durch, man habe ihn auf frischer Tat ertappt, eine Doppel-LP von Hazy Osterwald in den Händen – da stürmte die Truppe das Haus. Während ein Teil den Ex-Politiker krankenhausreif prügelte, verwüstete der Rest der Rotte vorsorglich das Haus. Noch leierte der Plattenspieler: Schuld war nur der Bossa Nova. Die Nadel kratzte kreischend über das Vinyl, dann war Stille. Man hatte, so der Sprecher des BKA, vermutlich einen Amoklauf verhindert. In letzter Sekunde.





Abseits

16 11 2009

„Nehmen Sie schon mal Platz, ich bin dann auch gleich bei Ihnen.“ Es war das Letzte, was ich von ihm hörte; die Vormittagsstunden über saß ich ganz allein im Büro des Staatssekretärs, er hatte mich wohl schlicht vergessen. Schon senkte sich die Herbstsonne. Aufmerksam las ich die langen Reihen der Buchrücken entlang, denn mir knurrte der Magen. Und es war schon fast Teezeit.

Da wurde die Tür aufgerissen. „Was machen Sie hier?“ „Ich gehöre inzwischen zum Inventar“, entgegnete ich lakonisch. „Hat er Sie einfach hier sitzen lassen? So eine Gedankenlosigkeit – es wird noch böse enden.“ Der Referent legte die Mappe mit dem Referentenentwurf auf den Schreibtisch. „Irgendwann wird mal einer der Besucher über Nacht hier sitzen und das ganze Innenministerium zusammenschnarchen – und am nächsten Morgen wird in den Zeitungen stehen, dass wir uns die Schläfer selbst ins Haus holen!“ Er war deutlich verärgert. „Und dann auch noch diese unsinnigen Gesetzesvorhaben! Der Mist von Bosbach war ja schon schwer erträglich, aber das hier?“ Wortlos schob er mir den Entwurf herüber.

„Paintball?“ Ich riss die Augen auf. „Sie wollen allen Ernstes Paintball verbieten? Als Bedrohung der nationalen Sicherheit?“ „Beschweren Sie sich nicht bei mir“, seufzte er, „das kommt aus dem Familienministerium. Frau von der Leyen musste mal wieder einen Entwurf ausgeben, weil sie seit Wochen nicht in den Schlagzeilen stand.“ Mit dem Finger tippt ich auf den Aktendeckel. „Seit dem letzten Killerspielverbotsantrag sind Sie nicht viel weiter gekommen?“ „Eigentlich gar nicht“, gestand der Ministerialbeamte. „Aber wir stehen unter Druck. Es muss ein Verbot her, ganz egal, gegen was.“ Er blätterte geistesabwesend die Papiere durch. „Wir wollten schon die Schützenvereine ins Visier nehmen, aber das können Sie vergessen.“ „Es gab Probleme?“ Er nickte. „Kann man so nennen. Die Lobbyisten haben der Familienministerin klargemacht, wenn sie die Sportschützen nicht zu sanftmütigen, gutherzigen Musterdemokraten erklärte, würden sie dem Bundeskabinett die Birnen wegballern.“ Ich zog eine Braue hoch. „So viel demütige Liebe ist ja kaum erträglich.“

Er hatte auf dem Sessel des Staatssekretärs Platz genommen und spielte mit dem Briefdolch in der Federschale. „Wir hätten ja gerne etwas mit Medien gemacht.“ „Das wollen die meisten“, entgegnete ich, „sie verstehen bloß nichts davon.“ „Nein, anders – ich meine die Gewaltdarstellung in den Medien. Da könnte man doch prima populistische Gesetze machen! Haben Sie die letzten Filme von James Bond gesehen?“ „Sinnlose Gewaltexzesse als Patentrezept zur Konfliktlösung“, nickte ich. „Und was das Beste ist: freigegeben für Kinder ab zwölf!“ Ich dämpfte seine Erwartungen. „Leider werden Sie damit nichts erreichen. Früher haben die Jungs mit Zinnsoldaten gespielt und sich mit Knallplätzchen-Revolvern als Cowboy und Indianer erschossen – Gewalt ist in unser zivilisatorisches Handlungsrepertoire fest eingebunden. Sie gilt in diesem Fall als Kultur.“ „Für Schützenvereine hat man das akzeptiert“, antwortete er bissig, „nur beim Schießen mit Farbkugeln gibt es noch Probleme.“

„Lassen Sie mich mal überlegen“, grübelte ich, „was man so alles braucht dafür. Es ist ein Taktikspiel, ein Mannschaftssport, und man muss schon ziemlich fit sein, um an einem Turnier teilzunehmen. Inzwischen gibt es ja sogar Werksmannschaften.“ „Sie reden von Paintball?“ „Das auch. Aber als wirklichen Einbruch der gesellschaftlichen Wirklichkeit in unsere nationalen Sicherheitsbestrebungen rede ich natürlich in erster Linie von Fußball.“ „Fußball? Was hat Fußball mit nationaler Sicherheit zu tun?“ „So, wie Sie das definieren, eine Menge. Was wissen Sie eigentlich darüber?“ Er zuckte nur die Schultern. Ich setzte mich auf die Schreibtischkante. „Wie Paintball war es zuerst die sportliche Betätigung einer jungen, elitären, rücksichtslosen Schicht – hier britische Bankster, dort preußische Parvenüs. Und natürlich nichts fürs Prekariat, das müssen wir raushalten.“ „Also bitte, Fußball ist doch ein Volkssport wie…“ „Pah! Das waren vereinzelte Spieler, die nicht in die akademischen Burschenschafts-Teams passten, Arminia, Borussia, Teutonia. Ernst Kuzorra, Fritz Szepan, Proleten, die die Wehrertüchtigung zu einer Mannschaftssportart umfunktionierten – eine Gefährdung der nationalen Sicherheit!“ Er rümpfte die Nase. „Seit wann gefährdet Fußball die nationale Sicherheit?“ Ich blickte ihn über den Rand meiner Brille hinweg an. „Sie haben noch nie das freundliche Einvernehmen der Fans nach einem Länderspiel beobachtet?“ Er schwieg betroffen.

„Sie müssen aber bedenken, dass Killerspiele wie Gewaltfilme die Aggression kaum beeinflussen – alles wissenschaftlich erwiesen. Nach wenigen Minuten ist die Wirkung verflogen.“ „Umso besser“, frohlockte ich, „dass es beim Fußball derart viele Prügeleien auf und neben und hinter dem Platz gibt. Eine wunderbare, schlimme Gefahr!“ „So gesehen…“ Er brütete. „Aber ob wir das Gesetz durchbringen, wenn ich den Entwurf jetzt noch etwas anpasse?“ „Was sollte da passieren?“ „Möglicherweise wird er vor der Verabschiedung gelesen.“ Ich legte ihm beruhigend den Arm um die Schultern. „Wir wollen jetzt mal nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen.“

„Was machen Sie denn hier?“ Der Staatssekretär zog die Tür ins Schloss und knipste die Leuchten an. „Ach nichts“, sprach ich und erhob mich aus dem Sessel. „Es hat sich wohl schon erledigt.“





Amok

10 06 2009

Die Sicherheitskontrolle am Studioeingang dauerte fast eine Viertelstunde. Immer wieder telefonierte der Beamte mit seinem Knopf im Ohr, wobei er sich unfassbar wichtig vorkam und eine dementsprechend affige Figur machte. Zwei private Securitywarte wiederholten das Spiel, bevor ein weiterer Staatsdiener die Prozedur nochmals vollzog. Ich wischte die transparente Tinte von den Fingern, die man mir zum Abnehmen der Abdrücke aufgerollt hatte, fischte mir eine Wattefaser aus den Zähnen, die beim Speichelprobenabstrich hängen geblieben sein musste, und betrat den Vorraum. Der Personenschützer winkte mich durch, sobald ich ihm den Plastikausweis unter die Nase gehalten hatte. Ich war drinnen. Nur von Siebels weit und breit keine Spur. Wo steckte er nur?

Der Fernsehproduzent rannte hektisch durch den Flur, schob die Bodyguards unwillig zur Seite und wäre fast über einen Stapel Klappstühle gestolpert, hätte ihn ein Staatssekretär nicht geistesgegenwärtig am Arm gehalten. Die Politprominenz war bereits vollzählig erschienen. Sie tranken stilles Wasser, ließen sich das Gesicht abpudern und duldeten, wie der Kameraassistent mit dem Belichtungsmesser vor ihnen herumfuchtelte. Da hatte er mich entdeckt und eilte herüber. „Gut, dass Sie da sind“, keuchte Siebels, „wir haben noch eine Minute. Gehen Sie schon mal in den Regieraum. Wir müssen sofort anfangen. Lörchmann wartet auf Sie.“

Lörchmann wartete, allerdings eher auf das Licht, das den Beginn der Produktion ankündigen sollte. Die Darsteller – Bundesminister, Lobbyisten in höheren Staatsämtern sowie ein Wissenschaftler – standen hinter der Tischattrappe und guckten an die Studiodecke. Unvermittelt setzte die Diskussion ein. „Wir haben doch heute wieder gesehen, dass die Medien, und das muss man in aller Deutlichkeit auch mal so sagen dürfen…“ „Eine Katastrophe, die uns alle hier betroffen macht, ist aber…“ „… und nicht zuletzt, weil Killerspiele als Auslöser von Taten wie…“ „Das kann man jetzt aber nicht so eindimensional sagen, weil nämlich die sozialen Aspekte…“ „Trotz allem sind die virtuellen Morde ja immer auch…“ „… dass wir ein EU-weites Verbot von Computerspielen, von Paintball und…“

„Amok? Was reden die denn da?“ Lörchmann reagierte kaum, so zückte ich mein Mobiltelefon. „Lassen Sie’s“, hielt er mich zurück, „hier dürften Sie das Ding eigentlich gar nicht benutzen. Ist als kritischer Gegenstand eingestuft worden. Hat man das bei Ihnen nicht gefunden?“ Ich verneinte. „Nützt Ihnen auch nichts. Hier ist kein Empfang.“ Ich stürzte zum Computer. Kein aktueller Amokfall zu finden. Nicht einmal eine Drohung. Was wurde hier eigentlich gespielt?

Die Debatte hatte rapide an Fahrt gewonnen. „Das sind doch alles unbewiesene Tatsachen!“ „… kann man doch so gar nicht sagen – wie viele Bundesbürgerinnen und Bundesbürger führen allein im Polizeidienst jeden Tag eine Dienstwaffe, meine Damen und Herren, und haben noch nie eine Schule betreten, um…“ „Darum geht es doch hier gar nicht. Es geht um die Verteidigung, die wir als Zivilgesellschaft…“ „… eben das Problem, dass wir uns nur als Zivilgesellschaft verstehen. Wenn wir…“ „Es ist doch paradox, dass ausgerechnet Sie Bürgerrechte fordern und verbieten wollen, dass man die mit der Waffe…“ „… können wir doch gleich die Bundeswehr abschaffen, wenn wir hier die Waffen verteufeln wollen.“ „… hatten wir alleine in Niedersachsen im Jahr 1967 85% der Fälle, und das hat sich seitdem noch einmal verdreifacht, so dass wir heute, eine Zahl von, äh, und das sind in Sachsen…“ „… mit der Waffe, sage ich!“ „Wenn es Warnzeichen auf psychiatrische Störungen gibt, brauchen wir eine flächendeckende Überwachung von Schülern, die…“

Die Tür öffnete sich und Siebels schaute herein. „Alles klar bei Ihnen?“ Ich fragte ihn, wo denn der Amoklauf stattgefunden habe. Doch er antwortete gar nicht. Schon war er wieder im Studio. „Also wenn Sie mich fragen“, kaute Lörchmann hinter seinem Streichholz hervor, „das ist hier bloß für die Dose.“ „Eine Diskussionskonserve? Eine Instant-Debatte? Polemische Tütensuppe, die man beim nächsten Massenmord aufkocht?“ Er blickte mich nicht einmal an. „Bingo. Dies Geschwafel lässt sich doch schließlich bei jeder Gelegenheit verwerten. Und der nächste Amoklauf kommt bestimmt.“

„… kann doch die Rüstungsindustrie jetzt nicht wegen Ihrer ideologischen Phrasen…“ „… rufen doch Sie hier zur Hasswoche auf! Wie viele Bundesbürgerinnen und Bundesbürger verzichten auf Computerspiele und betreten trotzdem fast täglich eine Schule, um…“ „Das ist natürlich noch viel komplexer. Schauen Sie sich mal Micky Maus an, die Panzerknacker sind doch ein Paradebeispiel für fehlgeschlagene Resozialisierung! Da müsste man, ich habe jetzt keine genauen Zahlen, aber da sollte auf jeden Fall…“ „… aber im Gegenteil, denn Krieg ist Frieden, und das ist als sozialer Aspekt…“

Da hielt ich es nicht mehr aus und ging einfach ins Studio. Siebels saß entspannt auf seinem Stuhl und verfolgte das Gekeife. „Jetzt mal raus mit der Sprache: das wird aufgezeichnet? Und es hat gar kein Amoklauf stattgefunden?“ Er lächelte sanft. „Offiziell wird es aufgezeichnet. Aber durch ein kleines technisches Versehen wird diese Debatte gerade live ausgestrahlt. Der alte Trick mit der Weihnachtsansprache.“ Ungläubig sah ich ihn an. „Keine Opfer?“ „Und ob“, antwortete Siebels mit einem diabolischen Grinsen, „der Amoklauf findet just in diesem Moment statt. Hier. Und morgen kann die Regierung geschlossen zurücktreten.“





Messer, Gabel, Schere, Licht

11 05 2009

Die innere Sicherheit war wieder einmal in Gefahr. So sehr, dass die Experten regelrecht von einer Verschärfung sprachen. Millionen unbelasteter Bürger, die sich bisher nichts hatten zu Schulden kommen lassen, galt es zu schützen. Sie grübelten. Die Erleuchtung ließ auf sich warten. Wolfgang Bosbach schaffte den entscheidenden Durchbruch. In einer flammenden Rede forderte er Kontrolle und unbarmherziges Durchgreifen. Man dürfe, so der gelernte Einzelhandelskaufmann, das Land der Biedermänner nicht den Brandstiftern überlassen.

Eine Großrazzia in den Niederlassungen einer Kaufhauskette brachte es ans Licht: Essbesteck war frei erhältlich. Fischmesser, Kuchengabeln, sogar Gartenscheren waren vereinzelt an Minderjährige abgegeben worden. Etliche verdachtsunabhängige Hausdurchsuchungen brachten das ganze Ausmaß des Unheils zum Tragen. Die Haushalte verfügten bereits flächendeckend über stehende und Klappmesser. Taschenmesser, Teppichmesser, Tranchier- und Tomaten- und Brotmesser, Obst- und Käsemesser landeten containerweise in den Asservatenkammern des Bundeskriminalamts. Die Öffentlichkeit in Gestalt von Christian Pfeiffer zeigte sich entsetzt, aber zuversichtlich. Schlüssig wies er nach, dass nur die sittliche Verrohung durch Killerspiele oder Paintball so weit geführt habe; nähme man dem mündigen Bürger alles, was man als Mordwerkzeuge zweckentfremden könne, verböte man ihm jegliches Tötungstraining, so sei das irdische Friedensreich zum Greifen nahe.

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Mit Feuer und Schwert kämpften Einzelhandel, Gastronomie und Handwerk gegen die Schneidwaffenkontrolle. Solingen wurde rasch zum Zentrum des nationalen Widerstandes. Doch Bosbach postulierte die Schere im Kopf. Eine Waffe sei nicht per se gefährlich, urteilte der Vize, sie werde erst durch den Gebrauch überhaupt zur Waffe. Da man aber jedes Messer als Waffe missbrauchen könne, so schloss Bosbach locker aus der Hüfte, sei auch jedes Messer ein Mordinstrument. Die Anschläge des 11. September hätten dies hinlänglich bewiesen.

Die Nation schrie auf, als bekannt wurde, dass ein Sondereinsatzkommando im Odenwald quasi in letzter Sekunde eine Katastrophe verhindert hatte. Unweit des Götzenstein hatte ein Laternenumzug der örtlichen Kinderspielschar stattgefunden. Nur mit scharfer Munition war der Brandgefahr zu begegnen gewesen. Die Einsatzkräfte hatten alle Hände voll zu tun. Zwei Dutzend Halbwüchsige mussten unschädlich gemacht werden, was die tapferen Wächter teils durch Kopf-, teils durch Bauchschüsse erledigten. Dabei kamen ihnen die Mitglieder eines Schützenvereins zu Hilfe, die in uneigennütziger Nächstenliebe den Finger am Abzug hatten und ganze Magazine in die jungen Terrorverdächtigen entleerten. Ihren Dienst für Volk und Vaterland belohnte das Bundesministerium des Innern mit Verdienstkreuzen. Buntmetall gab es seit der großen Rückgabeaktion Messer zu Pflugscharen wieder genug in Deutschland.

Weniger Glück hatte der Notarzt, der versucht hatte, eines der angeschossenen Kinder durch einen Luftröhrenschnitt zu retten. Die Operation misslang und der Mediziner fand sich auf der Anklagebank wieder. Ein Notarzt, befand das Gericht, müsse auch dann seiner Pflicht nachkommen, wenn er auf Grund übergesetzlichen Notstandes nicht mehr zum Mitführen eines Skalpells berechtigt sei.

Die Einführung des bundesweiten Zündholz-Zentralregisters geriet ins Stocken. Man hatte eine EU-Richtlinie übersehen und wusste nicht, was als Zündholz zu definieren war.

Es ging in den Abendnachrichten unter, wie Ursula von der Leyen plädierte, Bastelscheren zu verbieten. Die Meldungen des Tages wurden von der Schreckensnachricht aus Baden-Württemberg dominiert, wo ein Vater dem Treiben seiner beiden Sprösslinge tatenlos zugesehen hatte: die Kinder hatten Räuber und Gendarm gespielt, noch dazu mit einem Plastikschwert, das vom Karnevalskostüm des Delinquenten stammte, der als Ritter Kunibert den Preis des Festkomitees für die beste Larve erhalten hatte. Bosbach hatte den Finger am Abzug. Er forderte vehement ein Darstellungsverbot von Waffen in den Medien. Die Medien waren strikt dagegen; BILD war als erste dabei.

Ein heftiger Streit belastete das Kabinettsklima. Franz Josef Jung erlitt einen Wutanfall, als er die Truppe bei einer NATO-Übung lustlos Manöver-Munition verballern sah. Dass Lagerfeuer verboten waren, hatten die Bürger in Uniform hingenommen. Dass sie jedoch den Inhalt ihres Essgeschirrs nur noch mit den Fingern schöpfen durften, senkte ihre Kampfmoral erheblich. Schon stichelte man auf internationaler Ebene, Deutschland habe den Löffel abgegeben. Der Stellvertreter fuhr dagegen schwere Geschütze auf. Seine Fraktion sehe die Bundeswehr nach wie vor als Friedensarmee.

Er kam schneller zu Fall, als er dachte. Hatte Bosbach noch vormittags vor dem Plenum mächtig Pulver verschossen, um Feuerzeuge in Form von Pistolenattrappen als völlig harmloses Spielwerk für ältere Herren zu bezeichnen – als Schusswaffe seien sie nicht zu gebrauchen, auf Grund ihrer äußeren Gestalt jedoch wie Feuerwaffen straffrei zu besitzen – so fiel er schon Stunden später ins Schneidwerk der Justiz. Der Ordnungsdienst hatte ihn auf der Reichstagstoilette ertappt. Der Westfale versuchte, sich mit einer Nagelschere heimlich einen Apfel zu schälen. Aller Ämter sollte er enthoben, aller Ehren ledig sein. Doch es kam gar nicht erst dazu. Er gab sich die Kugel.