„Ja, das könnte Krebs sein, mindestens aber eine Bindehautreizung. So genau möchte ich mich da jetzt noch nicht festlegen, weil wir sonst genau nachschauen müssten, ob Sie einen Termin beim Facharzt bekommen. Und Augenarzt ist gerade ganz schlecht.
Uns erleichtert dieses Verfahren ja enorm die Arbeit. Diese Bildtelefone sind jetzt nicht so gut, aber dafür können wir nichts. Entscheidend ist, ob die Patienten genügend diagnostisches Vorwissen haben, um beispielsweise einen Herzinfarkt von einem Darmverschluss zu unterscheiden – wenn sie das bei einem Darmverschluss überhaupt noch von irgendwas unterscheiden können, aber dafür sind es auch nur Patienten, und dafür können ja wir nichts. Und auf der anderen Seite haben wir dann weniger Patienten mit Herzinfarkt in der Notaufnahme sitzen. Patienten ohne Herzinfarkt auch, also eine Win-Win-Situation für alle.
Halten Sie die Kamera bitte noch mal direkt ans Ohr, ist das da geschwollen? Haben Sie Schmerzen oder Schwindelanfälle? Das hätten Sie gleich beim Eingangsfragebogen auswählen müssen, jetzt kann man die Diagnose nur noch von vorne beginnen. Oder warten Sie mal, vielleicht kann ich das hier im Menü noch ergänzen. Ja, es funktioniert. Wusste ich auch nicht, bisher haben die Patienten es noch nie so weit geschafft. Das wären dann Anzeichen für eine Entzündung, und bei den Krankheitsbild müssten Sie auch unter Atemnot leiden. Nicht? auch keine Rückenschmerzen? Schultern? Nacken? Das ist jetzt blöd, dann kann ich bei Ihnen keine Entzündung eintragen. Entweder Sie haben wirklich keine Entzündung, dann müsste ich Sie jetzt zur Differentialdiagnose ins Klinikum einbestellen, oder Sie haben eine Entzündung, dann kann ich das aber nicht eintragen und kann Sie auch nicht ins Klinikum… –
Das ist schon kompliziert, wir sind hier ja auch keine Ärzte, das ist eine Krankenkasse und wir haben vorher in der Mahnabteilung gearbeitet. Es geht hier halt ums Geld, man kann nicht jeden Anspruch der Versicherten befriedigen. Klar, wir wollen alle gesund bleiben oder gesund werden, und manche von uns wollen auch unbedingt immer länger leben als der gesetzliche Durchschnitt, aber das ist eine betriebswirtschaftliche Frage. Also ich meine, dafür müssen wir den Service schon sehr straffen, damit unsere Kunden ihre Ziele besser verfolgen können. Nicht, dass Sie mich hier falsch verstehen. Sonst wird ja stets und ständig über Alternativmedizin gehetzt, Globuli, Energiesteine, schamanisches Heilhopsen, aber das hier ist doch wirklich einmal ein Ansatz, der sich als Alternative bietet. Das ist wie eine Alternative im politischen Sinn: Sie haben keine Ahnung, machen alles selbst, und wenn’s in die Hose geht, sind die anderen schuld. Kein perfektes Modell, aber ich würde es als ausbaufähig bezeichnen.
Wenn Sie bessere Diagnosen wollen, müssen Sie mehr Geld in die Hand nehmen. Wir haben auch elektronische Automaten, die kann man in der zentralen Notaufnahme aufstellen und dann per Touchscreen eine Diagnose erfassen. Das Problem ist nur, durch den Touchscreen haben Sie wieder mehr Infektionen, und dann müssen Sie auch eine Servicekraft beschäftigen, wenn zum Beispiel ein Patient nicht mehr in der Lage ist, das Gerät zu bedienen. Außerdem haben Sie dann auch wieder eine volle Notaufnahme, aber das nur am Rande.
Sind Sie sich sicher, dass Sie die Tabletten rechtzeitig eingenommen haben? Ach, die gab es gar nicht in der Apotheke? Das hätten Sie natürlich ganz am Anfang sagen müssen, dass Sie keine Medikamente einnehmen. Sie wurden das gar nicht gefragt? Das kann sein, aber Sie haben ja im hinteren Teil der Anamnese noch ein paar Fragen, die sich auf die aktuelle Medikation beziehen. So weit waren Sie noch nicht? Das kann ich mir nicht vorstellen. Andererseits hatte ich auch noch keinen Fall von Lungenödem. Da müsste ich mal die Fachärztin fragen, die ist nur gerade in der Pause. Wie schätzen Sie Ihre Symptomatik ein, könnten Sie eventuell in zwei bis drei Stunden noch einmal anrufen? Nicht, dass Sie jetzt eine voll ausgeprägte Symptomatik haben und dann ist kein Arzt für Sie da. Also beobachten Sie das erst mal, okay?
Sie sehen, wir beziehen den Patienten in den Behandlungsprozess mit ein. Wenn es wirklich einmal zu Komplikationen kommt, dann haben wir schon eine kommunikative Basis zu ihm geschaffen und können viel leichter mit ihm umgehen. Immer vorausgesetzt, dass er dann immer noch wach und ansprechbar ist. Aber genau dafür haben wir ein Rescue-Team, ganz besonders geschulte Kräfte, die wir auch nach Möglichkeit nur zweimal, dreimal in der Woche einschalten, weil die sonst zu teuer sind. Die werden pro Einsatz bezahlt, aber dann natürlich Fallpauschale, klar. Nein, keine Notärzte. Das sind speziell ausgebildete Callcenter-Agents, die haben früher die angerufen, die ihre Mobilfunkverträge kündigen wollten. Echte Krisenkommunikation, Sie verstehen. Denen macht keiner etwas vor. Wenn Sie denen einen Schlaganfall vorspielen wollen oder ein gebrochenes Bein – null Chance. Absolut null.
Husten Sie mal. Ja, husten Sie ruhig, ist ja Ihr Telefon. Haben Sie Gleichgewichtsstörungen? Das tut mir jetzt leid, aber hier müssen wir das Gespräch leider abbrechen. Ich kann aber Ihre Daten mit Ihrer Versichertennummer speichern, und wenn wir dann Corona im Programm haben, rufen wir Sie sofort zurück. Ist das in Ordnung für Sie?“
Satzspiegel