Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXXVII): Die Verschandelung der Landschaft

12 08 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Irgendwo musste man die Felle zum Trocknen aufhängen, auch wenn die Sippe sich immerzu über den Anblick empörte. Links neben dem Höhleneingang würde der Aasgeruch früher oder später Tiere anlocken, die sich auch über den Buntbeerenstrauch hermachten, rechts daneben stand in regelmäßigen Abständen die Skulptur der Großen Mutter, die Rrts Sippe aus Gründen der Fruchtbarkeitssteigering anzubeten pflegte. In der Mitte versaute das Gestell der Belegschaft die Aussicht. Stress im Paradies! Ästhetisches Empfinden oder wenigstens die Vorstufe einer moralischen Selbstbespiegelung traf auf die praktischen Notwendigkeiten eines Lebens in der Gemeinschaft, die schafft und entsorgt. Wir können diese Welt kaum noch verändern, wir hatten sie, als wir ihre Oberfläche betraten, ja gründlich verändert vorgefunden. Woher also dieser Furor, das zu verhindern, und: wozu?

Selten las man, Dome und Kathedralen seien wichtig, wenn man darunter ganze Dörfer, ganze Landschaften wegklappen könne für Braunkohle, aber ein popeliges Kernkraftwerk darf man in die Gegend kloppen, Schnellstraßen, Klärwerke, als seien die Tempel der Abwasserentsorgung von Karl dem Großen persönlich geplant, entworfen und gebaut worden. Plötzlich und unerwartet mutieren die Apologeten des Fortschritts, die sonst an jeden Abwasserkanal einen Reaktor schwiemeln würden, wenn sie dafür einen Aufsichtsratsposten in die Rippen gestopft bekämen, zu Heimatschützern. Vernachlässigbare Hügel, ab und an mit Nadelwald begrünt, sind in der ad hoc kodifizierten Geschichte der Samtgemeinde Bad Gnirbtzschen schon immer eine Stätte der Naturschönheit gewesen, die jährlich bis zu anderthalb Wanderer aus dem Nachbarkreis anzieht, der noch nichts weiß von der Legende des Heiligen Humpelbert, dem einst ein sprechender Elch über den Weg gehumpelt sein soll – vielleicht sind sie am Stammtisch an dieser Stelle auch schon voll auf LSD, und wo sie schon einmal dabei sind, stricken sie fix die Historie der Perserkriege fertig, Da geht’s um höhere Interessen, Generationen übergreifendes Kulturgut, mindestens nationale Identität. Was nützt dagegen schon ein Windrad?

Wie ein einziger Zeitzeuge der Geschichtsschreibung den Teppich unter den Füßen wegziehen kann, ist auch das Phänomen der konservativen Raumordnung historisch sattsam bekannt. Auch gegen städtische Umbauten des Mittelalters haben sich die Bewohner beschwert, zumal dann, wenn sie für irgendeinen Bischofssitz ihre Wohnquartiere schleifen lassen mussten. Die Proteste wurden zwar von Kirche und weltlicher Obrigkeit geschmeidig weggeknüppelt, aber die Investitionen blieben, und wer bezahlte schon für die Architektur, wo noch nicht einmal klar war, dass sich halbes Jahrtausend später eine ganze Industrie an der puren Anwesenheit religiöser Zweckbauten bereichern würde. Wäre es nach landschaftlichem Nutzwert gegangen, sogar nach vorromantischen Kriterien hätte ein hübsches Haufendorf gegen das Trockenlegen von Sümpfen oder die Anlage von Stadtmauern gewonnen, die sich nur mit Mühe zurückbauen lassen, wenn jahrzehntelang kein Verteidigungsfall drohen will. Die Bauruine, die die Köln zum Improvisationsnotfall machte, hätte man nach heutigen Maßstäben für die beliebte Leerstandskombination aus Shoppingcenter mit Büroflächen plus Tiefgarage gecancelt. Irgendeiner muss ja daran verdienen, wenn es schon keiner bezahlt.

Wo schon vom Fremdenverkehr die Rede war, gibt es Lokalpolitiker auf Stimmenfang, die einen Kreuzzug gegen Ampeln und Verkehrsschilder ankündigt haben, weil Senioren aus dem Umland beim Fotografieren von St. Mandy immer dieses Einfahrtsverbotszeichen vor der Linse haben? Schleift der Dezernent für freiheitliche Stadtsilhouetten am Friseursalon Schni-Schna-Schnippi das Schild, weil der Bömmel immer vor das Standbild von Erzherzog Paul dem Beschränkten ragt? Was ist mit Umgehungsstraßen, die das Landschaftsbild für Umwohnende nicht nur optisch, sondern auch akustisch und olfaktorisch zur Steißgeburt des schlechten Geschmacks adeln?

Der Hominide hat komische Angewohnheiten. Baut er einen Turm, um zu beweisen, dass sein Volk die höchsten Türme von allen bauen kann, gereicht das seiner klebrigen Narzisstenseele zur freudigen Genugtuung; jodeln Klänge vom Turm herunter, die mit seinem Lokalgeschmack nicht korrelieren, wähnt er das Ende seiner Kultur, zumindest aber die Implosion des Universums. Stellt er sich einen Mast auf, um in seiner Butze Lampen anzuknipsen, ist das unaufhaltsamer Fortschritt. Baut eins bodennah Platten an den Hang, damit der Gegenwartsmensch überhaupt etwas hat, was er aus der Leitung saugen kann, bedeutet es das Ende der siebzigjährigen Geschichte der Arbeitersiedlung Schaffenslust. Was auch richtig ist, der Bau der Kanalisation machte ja auch dem Brauch den Garaus, nach Sonnenaufgang seine Fäkalien aus dem Fenster zu kippen. Aber wer sind wir Zeitzeugen schon. Und was ist dagegen die Geschichte.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DXLIII): Der Banause

4 12 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Seitenlinie von Ugas Sippe war tatsächlich speziell. Auch andere trugen Bärenfell mit kleinen Erdmännchenapplikationen, dekorierten den Eingang ihrer Wohnhöhle mit Ensembles aus Schneckenhäusern und Biberzähnen oder hängten apart geflochtene Bastmatten über die Feuerstelle, die interessante Schatten an die Höhlenwände warfen, zu denen es sich nach der warmen Mahlzeit trefflich philosophieren ließ. Nur der ästhetisch äußerst wertvolle Versuch, vermittels Erdfarben ein figürliches Fresko an die Felswand zu pappen, gab der Heimstatt ein geradezu luxuriöses Ambiente. Manche überlegten, ob sie auch ihren zackigen Granit mit Ocker aufpimpen sollten. Andere boten dem Künstler Teile von Jagdbeute, abkömmliche Nebenfrauen oder allerlei praktisches Werkzeug an. Die Raumausstattung wurde zum festen Bestandteil der eleganten Troglodytengesellschaft, wer etwas auf sich hielt, dinierte, schlief und lauste sich unter geometrisch-abstrakten Mammutskizzen. Nur nicht Uga. Der Alte fand es einfach albern, und wenn er Tiere sehen wollte, dann ging er in die Steppe. Wie Banausen eben so sind.

Für diese Klasse findet die Bedürfnispyramide vor allem im unteren Teil statt, bei einer Handvoll Buntbeeren statt in der Selbstverwirklichung. Nicht ohne Spott benutzt es der Bildungshuber, der mit Kultur im weiteren Sinne aufwuchs und sie als das äußere Zeichen jeglicher Zivilisation begreift, die ja etwas hinterlassen muss, materiell oder ideell, wenn von ihr nach dem Zusammensinken der an sich auf Dauer gedachten Reiche und Fürstentümer noch irgendetwas übrigbleiben soll. Paradoxerweise ist diese Kultur das, was von einer Generation zur nächsten weitergegeben und schließlich Tradition genannt wird, während sich der chronische Ignorant ohne derlei Gedöns durchs Dasein ödet, indem er alles so macht, wie er es immer schon gemacht hat. Der Widerspruch fällt nicht auf, aber mit dem Denken hat er’s eh nicht.

Der Banause ist dem Wort folgend eigentlich der am eigenen Herd arbeitende Handwerker, der die Außenwelt nicht freiwillig wahrnimmt oder sie gar nicht bemerkt, da er das Gehäuse ja nie verlässt. Aus der Unkenntnis des Geistigen, die zunächst nur mit dem stark beengten Lebenswandel einhergeht, schrumpft allmählich der intellektuelle Horizont zu einem Punkt zusammen, der feststeht, aber kaum noch eine Welt bewegt. Als Subjekt der Kulturpolitik ist er schnell verloren, da er selbst den ganzen Betrieb meidet und ihn daher gleich für vollkommen überflüssig hält. Was er nicht kennt, ist auch nichts für andere.

Mit leiser Ironie könnte man behaupten, dass der Banause seine unreflektierte Ablehnung aller Künste selbst noch kultiviert, um wenigstens eine Kokarde an den Hut stecken zu können, die ihn kenntlich macht. Unklar ist, ob die Schmollecke ihm als heimliches Verbannung oder tatsächliche Heimat gilt, denn wo immer er über die Schwelle tritt, tönt’s ihm entgegen: Kulturnation! Land der dichten Denker! Hier nix Banause! Wer da sein inneres Exil finden will, der muss entweder dicke Wände mauern oder tief graben. Beides führt in die Geschichte hinab, die den Kern der Zivilisation freilegt. Es ist ein Kreuz.

Doch tut man dem Banausen auch Unrecht. Er ist mehr als andere eine Stütze der Gesellschaft, da er sich nicht allein mit den banalen Dingen des Lebens beschäftigt, sondern auch zu bürgerlichen Sekundärtugenden wie Fleiß und Zuverlässigkeit neigt, die dem Kulturbold den Rücken freihalten, wenn dieser sich in dünner Höhenluft Hirngespinste zusammenschwiemelt. Seine Kleingeist erzeugt den Kaufmannssinn, der mit Beharrlichkeit und grober Verachtung jeder Gaukelei Werte schafft, mit denen er Städte errichtet, die er mit Domen und Palästen zupflastern kann. Im Gegensatz zum Blendwerk der Berufsirren braucht er keinen Applaus von den Tumben, arbeitet nicht auf Zuruf und wird nicht aus einer Laune heraus verjagt. Er zieht seinen Stolz aus der eigenen Tätigkeit, und in den großen Gestalten der Kunst sogar, Mozart etwa, findet sich der Banause, der vom Erwerb abhängig blieb, um die Gunst naiver Besserwisser an den Fürstenhöfen nicht zu erdulden.

Wenn sich der Banause ein eigenes kulturelles Konglomerat erschaffen hat, dann in Eiche gebeizt mit Gartenzwerg hinterm Jägerzaun, Filzpantoffeln, Einlasskontrolle und Ersatzkaffee. Der ansonsten stabile Bürger steht leise zweifelnd davor und hat keine Ahnung, wie man das über ein ganzes Leben hinweg normal finden, ja noch gegen alles andere verteidigen kann, was im Rest der Welt passiert. Es scheint mehrere objektive Wirklichkeiten zu geben, die einander ausschließen, sich aber in wesentlichen Bestandteilen überschneiden, ohne dass wir, Banausen oder nicht, es bemerken würden. Möglich immerhin, dass man in einer fernen Zeit Artefakte an unseren Wänden findet und unsere gesamte Zivilisation für eine Horde durchgeknallter Deppen hält, die Filzpantoffeln hasste, sie in erheblicher Menge jedoch gleichzeitig produzierte und trug. Es ist ein Rätsel. Man müsste das eigene Haus, die eigene Welt dafür verlassen. Wer will das schon.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DXXVIII): Spruchweisheiten

21 08 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Es muss an einem klimatisch suboptimalen Tag im Winter gewesen sein, als Rrts Sippe nach der Suppe noch um die Feuerstelle saß, um sich zu wärmen. Einer der jungen Jäger wusste nicht, wie er seine eisigen Pfoten wieder beweglich kriegen sollte, und so hielt er sie gefährlich nah an die Flammen, näher und immer näher, bis er nach dem kurzen Moment des gerade noch Erträglichen mit einem markerschütternden Schrei aufsprang, denn er hatte sich, der geneigte Leser der Gegenwart ahnt es wohl, die Finger verbrannt. Die Gefährten halfen schnell, doch der Alte, der seinerzeit persönlich die Säbelzahnziege am Hang beim kleinen Flüsschen erlegt hatte, fasste das Geschehene für alle anderen noch einmal didaktisch aufbereitet zusammen in moralisch wirksamen, leicht zu memorierenden Grunzlauten, wie sie bis zur Entwicklung der ersten Grammatik üblich waren: Wer die Hand zu nah ans Feuer hält, verbrennt sich die Finger. Damit nahm das Verhängnis seinen Lauf, die Spruchweisheit als Nerven schmirgelnde einfache Form ward geboren und ist bis heute lebendig ohne Hoffnung auf ein nachhaltiges Ende.

Noch heute leiden wir unter den Ereignissen in jener Behausung; von Mesopotamien bis Peru ist der altkluge Verbalbauschaum aus der Hüfte locker verschießbar und trifft jeden in Kopfhöhe, der sich nicht rechtzeitig in Deckung begibt. Auch wenn im Landkreis Bad Gnirbtzschen noch vereinzelt die Kinder mit Rot – heiß – aua erzogen worden sind – auf mittelalterliche Streubelege hin wurde die Erfindung der Mischbatterie hier verortet – so hielt sich doch die drohende Nachricht von der Gefahr exothermer Reaktionen hartnäckig und gab damit den Subtext weiter, auf den es immer ankam: die Altvorderen haben grundsätzlich recht, es gibt keine Möglichkeit, sich ihrem moralinsauren Urteil gewaltfrei zu entziehen, und das nicht reflektierte Nachschwatzen von derlei Intellektglutamat war der erste Schritt zur Aufnahme in die Gruppe der Alten. Dass Bildung oder Wissen bei dieser Gelegenheit weder gefordert noch gefördert wurden: geschenkt. Der Gruppendruck zählt, der das gemeinsame Bewusstsein verankert, und sei es lauter Unsinn.

In den Niederungen des Volksmundes wurde der aphoristischen Form freilich fleißig gedacht, aber was blieb, war größtenteils Abortwandpoesie des Herzens. Dass, wer nicht sein eigenes Feld bestellt, auch nicht ernten wird, hielt sich erst recht nach der protestantischen Entwertung von Arbeit als ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ – die Arbeitsteilung hatte schon stattgefunden, die soziale Verantwortung trug aber weiterhin der Leibeigene für den Arbeitgeber, und wer nicht bis heute im Wachkoma gelegen hat, weiß auch, dass es bis heute so ist. Als würde die Obrigkeitsgesellschaft ihre Premiumdämlichkeiten nicht schmerzhaft in die Alltagskultur hämmern, damit sich keiner beim Denken erwischt.

Merklich abgesackt erwischt die formunschöne Sprachverschwiemelung auch den Sinnspruch, das gummierte Spuckbildchen für Poesieabladestation und WhatsApp-Status. ‚Hab Sonne im Herzen‘, quarrt der Sprechdurchfall, ‚sonst wird Dich der Jäger holen‘. Ganze Industrien haben sich um diese klinisch verseifte Absonderung gebildet. Manche sticken den Schmodder auf Paradekissen, um am Sonntag einen Karatekniff reinzusemmeln, manche drucken den Rotz auf Bilder, rahmen ihn, hängen das Zeug in unschuldige Privaträume und sehen den Bewohnern bei Aufzucht und Hege einer passiv-aggressiven Psychose zu. Manche verteilen alles auf Postkarten, die sich infektiös vermehren durch soziale Missverständnisse der Kommunikation in Bezug auf deren rechtlichen Rahmen und das nicht zu unterschätzende Verständnis, jemandem das Licht auszupusten, wenn er mit derlei Botschaften die Schmerzgrenze austestet.

Dabei passt der Inhalt weder zur heutigen Form noch zu den Inhalten der Kommunikation. Würde man die ursprünglichen Botschaften ohne jede Änderung unter das geplagte Volk jubeln, wir sagten heutzutage wohl ‚Wenn sonntags die Tomatenfanfare rechts überholt, wird es ein gutes Jahr für Großtanten an der Heißmangel‘ oder ‚Je fleckiger der Vollmond, desto lauter kegelt der Buckelwal‘. Angepasster an die Gegenwart hätte die Spruchweisheit viel mehr Chancen, sich den Respekt der Kulturgemeinschaft zu verschaffen. ‚Wenn die Kuh jodelt, ist die Hormondosis aus dem Ruder gelaufen‘ und ‚Ausländer, Linke oder Personen mit dunkler Hautfarbe brauchen in der Kleinstadt ihre Adresse nicht extra der Polizei zu verraten‘ sollten in der rezenten Volkskunde nicht fehlen, schon gar nicht da, wo sie gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur widerspiegeln, sondern auch dialektisch verändern können. Ordnung ist ja das halbe Leben, nachts sind alle Katzen grau und jeder ist seines Glückes Schmied, wie ja auch jeder sein Feld bestellt hat, um danach von der Ernte alleine zu leben, ohne irgendeinen Herrscher über sich zu dulden, der nur durch seine sozialen Stellung essen durfte, ohne je in die Nähe von Arbeit gekommen zu sein. Er hätte sich dabei vermutlich auch die Finger verbrannt.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDLXXIV): Kulturelle Aneignung

26 07 2019
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Irgendwann wird die Menschheit damit angefangen haben, sich das Gesicht zu bemalen, und keiner weiß, warum. Ob aus reinem Jux, in kriegerischer, kultischer oder kosmetischer Absicht, keiner weiß, wer es wo zuerst getan hat. Als wahrscheinlich gilt nur, dass nicht einer sich das Zeug von der Höhlenwand auf Wangen und Stirn geschmiert hat, sondern viele, mutmaßlich in allen Teilen der damals unbekannten Welt zugleich. Noch gab es weder Völker mit ausgeprägtem Abgrenzungsbedürfnis noch deren Anführer, der die Streifen auf dem eigenen Gesicht als Zeichen religiöser Inbrunst und das Geschmodder in der fremden Visage als degeneriertes Imitat oder fehlgeleitete Mimesis abgetan hätte. Erst recht hätte sich kein Häuptling herabgelassen, die bunten Balken auf dem Auge als kulturelle Identität der eigenen Ethnie zu preisen und alle anderen Völker als politisch inkorrekt zu bezeichnen, wenn sie dergleichen kostengünstig nachschwiemeln. Diese geistige Minderleistung wird der jüngeren Jetztzeit vorbehalten sein, vertotschlagwortet mit dem Verdikt der kulturellen Aneignung.

Sich bunte Punkte auf die Stirn zu malen als soziosemiotische Handlung ist einer von vielen Wegen, sich gegen alle unguten Geister zu schützen und zugleich den Personenstand öffentlich zu zeigen. In Westeuropa geschieht dies mit der obligatorischen Rockschleife auf der korrekten Seite, mit Art und Anzahl von Hutbommeln, Ring am rechten Finger und ähnlichem Gedöns, das nur lesen kann, wer lesen will. Beiden Konzepten ist gemein, dass sie im Laufe der Jahrhunderte zum ästhetischen Ritual erstarrt und in kommerzielles Handwerk abgeglitten sind. Doch während in Indien auch unverheiratete Frauen sich das dritte Auge schminken oder einen Abziehklebepunkt als Tika aufs Chakra tackern, ruft der industriell gefertigte Feminismus zwischen Boston und Bochum zum Kastrationsweltkrieg auf, wenn sich modisch experimentierwütige PersonInnen ein Bindi an die Birne pappen. Das ist mindestens strukturelle Gewalt – der übliche Nasenschmuck natürlich nicht, der hat sich in der westlichen Welt als Zeichen der Emanzipation durchgesetzt und ist als Wirtschaftsfaktor auch nicht mehr wegzudenken – und sollte in Erinnerung an den schlimmen Kolonialismus, den der weiße Mann der nicht weißen Frau und ihren TöchterInnen angetan hat, auch tunlichst unterlassen werden. Auf den Schreck erst mal ein Mango Lassi.

Denn das darf der Identitätsschützer, er hat sich das Rezept sicher auf dem letzten Ferienflug selbst mitgebracht, zusammen mit hübschen Kaschmir- und Seidenklamotten aus traditioneller Kinderarbeit nebst den ortsüblichen Designs, an denen man die Herkunft der Textilien erkennen kann, wenn man sich länger im Land aufgehalten hat, Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Da zeigt sich sein volles Talent zum differenzierten Denken, er entscheidet selbst, wo er den edlen Wilden schützt, bevor er sich mit dem Rest ein schönes Leben macht. Auf den Gedanken, eine Kultur selbst entscheiden zu lassen, was sie als und in welchem Kontext als schützenswert erachtet, käme das nie. Sie sind wie die zänkische große Schwester, die immer im falschen Moment nicht die Fresse halten kann.

Wahrscheinlich triggert die Idee des geistigen Eigentums die Vorstellung, man könne Gedanken auf Flaschen ziehen und sammeln, bevorraten oder entwenden, wie man ja auch Daten klaut oder Visionen mopst. Eine seltsame Dialektik von rein materialistischer Dinglichkeit, die die Idee als Wille und Vorstellung zum schützenswerten Gut macht, und krudem Idealismus erzeugt jenen Hirnschmerz, der sich als kritisches Bewusstsein auftakelt, und das heißt zu allererst: unkritisch gegenüber den eigenen Positionen, weil man im Recht ist und alle anderen sowieso Arschlöcher sind.

Entlang der frühesten Handelsstraßen haben sich kulturelle Errungenschaften jeglicher Art ausgebreitet, ohne die der Teutone heute nicht beim Bier auf dem Sofa säße, da es beides nicht gäbe ohne nahöstlichen Lifestyle. So definiert sich jeder fleißig die eigenen Grenzen schön, und die ach so awarenessbekifften Antirassisten betreiben fröhlich das Geschäft rechtsidentitärer Drecksäcke. Denn wer den eigenen Bionachbarn verbieten will, sich die Hände bunt zu bemalen – Tätowierungen sind okay, das ist nämlich so voll gegen das Patriarchat, dass es gar nicht Mainstream sein kann – sperrt nicht nur seine eigene Kultur in einem wirren Konstrukt aseptischer Reinheit ein, sondern auch andere Kulturen als letztlich volksfremde Elemente aus. Krieg heißt ja auch immer irgendwie Frieden.

Ab jetzt ignorieren wir fröhlich, ob die deutsche Kartoffel im tiefen Fett überhaupt als nationale Speise durchgeht oder nur für belgische Bolivianer statthaft ist, da Pommes völkische Leibspeise sind. Mit, China hin, Currywurst her, Ketchup. Und Bollywood. Nichts geht doch über Bollywood.





Die Kartoffeln

15 07 2018

Sie hungerten. Das Volk war kaum zu zügeln,
doch gab es nichts als Not und Dreck und Wanzen.
Der König musste seine Bauern prügeln,
damit sie ihre Knollen träge pflanzen.

Die glaubten nicht an eine gute Speise
und gingen an, das grüne Kraut zu zupfen.
Damit verschwand die Blütenpracht ganz leise,
weil man vergaß, die Früchte auszurupfen.

Er ließ Kartoffeln in die Erde säen
und sie, als sei dies kostbar, streng bewachen.
Zwei Posten sollten nachts im Dunkeln spähen.
Sie guckten übers Land mit leisem Lachen,

dass sich vermeintlich Diebe dran vergriffen.
Wahrscheinlich nennt man sie, das wär der Witz,
weil sich der König darauf eins gepfiffen,
bis heute noch nach ihm als Pommes Fritz.





Wurst und Diesel

21 03 2018

„Wurst geht noch. Die ist zwar eigentlich aus dem Mittelmeerraum, aber Wurst geht gerade noch. Bei Döner wäre ich da schon skeptischer. Ja, ich weiß, Sie mögen mich nicht, weil ich Ihnen gerade das Bier verboten habe, aber was soll ich denn machen? Das ist nun mal mein Job hier beim Heimatschutz.

Seien Sie froh, dass die Christsozialen sich nicht durchgesetzt haben, sonst hätten wir jetzt eine ganz andere Koalition und ein Bundesministerium gegen Volkstod. Da müssten Sie dann Woche für Woche glaubhaft versichern, dass Sie wenigstens ein rassefremdes Element von deutscher Heimaterde vertrieben haben. Wie das gehen soll, wenn im Regierungsprogramm gleichzeitig steht, dass sofort nach der Machtübernahme alle Ausländer aus dem Reich ausgewiesen werden, das fragen Sie mich nicht. Aber gegen Widersprüche sie die halt immun.

Wie gesagt, Bier geht gar nicht. Mesopotamisch und damit nicht gestattet. Ist auch etwas schwierig zu erklären, aber Wirtschaftsgüter aus Regionen, die heute zur islamischen Welt gehören, und das Zweistromland ist ja da gewissermaßen doppelt die Wiege der Kultur, die gehen halt gar nicht. Das hat die CSU im Kabinett ganz locker durchgekriegt, ganz easy, so wie die Pkw-Maut, und nachgedacht hat vorher auch keiner. Jetzt haben sie den Salat, in Bayern hat die eine Hälfte der Brauereien schon zugemacht, die andere arbeitet nur noch für die ausländischen Kunden, und Söder verkauft den Schmarrn als Stärkung der Exportwirtschaft. Und das ohne Alkohol, weil sonst jeden Moment die Islamisierung anfangen könnte.

Brot dürfen Sie natürlich noch essen, das lässt sich gar nicht mehr zurückverfolgen. Das gehört zu den interkulturellen Kulturgütern, die sich nicht an einem Heimatland festmachen lassen. Beim Reis ist noch eine Expertenkommission dran, den gibt’s ja noch keine tausend Jahre im deutschen Sprachraum, also wäre ich damit schon ein bisschen vorsichtig. Ach ja, und Sushi können Sie natürlich auch in die Tonne treten. Sushi, Suzuki, Toyota, Sayonara. Sie haben Wurst und Diesel, das muss genügen.

Das ist nämlich auch so ein Missverständnis, dass die Leute meinen, man könne die deutsche Leitkultur nicht an solchen Erfindungen wie dem Dieselmotor festmachen. Was können wir denn dafür, dass die Amis den auch nutzen? Also lassen Sie sich da nicht verunsichern, auf ein paar Dinge können wir verzichten – diese Nietenhosen geben Sie am besten gleich in die Altkleidersammlung, und diese amerikanischen Unterhemden wollen wir auch nicht mehr sehen, Sie können ja ein Leibchen tragen wie alle anderen auch – und beim Rest benötigen wir einige Argumentationshilfen. In jede Richtung übrigens.

Übrigens, Richtung – den Buchdruck haben wir dann auch als deutsch eingestuft. Das ist ein klares Bekenntnis zu Deutschland als führender Nation der innovativen Informationstechnologie, die mit ihren revolutionären Schöpfungen die Welt prägen und geradezu verbessern kann. Der Satz ist total hirnrissig, aber der kommt ja auch nicht von mir. Den kriegen wir direkt aus dem Ministerium, das noch ein Gutachten abwarten will, bevor es die arabischen Ziffern abschafft. Na egal. Auf jeden Fall hat die Bundesregierung noch mal erklärt, dass ein Leistungsschutzrecht für Suchmaschinen in diesem Online-Internet den Buchdruck schützen müsse vor schädlichen Auswirkungen durch die Nutzer. Wir fördern Kultur, wo wir sie erkennen.

Käse ist erlaubt, den haben zwar die Römer erfunden, aber die Skandinavier haben sich das Verfahren von uns abgeguckt, deshalb gilt es als deutsche Kulturtechnik. Wobei wir jetzt nur über das Verfahren mit Kälberlab reden, alle anderen sind bereits von der Bezeichnung her als rein ostische Konkurrenzprodukte entlarvt. Quark, typisch polnische Zersetzung der Volksgesundheit durch Spaltpilze. Gut, das wird den Sachsen nicht ins Konzept passen, aber das ist doch dem Seehofer egal, was die fressen. Da geht’s halt ums Prinzip!

Das ist manchmal etwas schwierig zu erklären, und da sind wir schon beim nächsten Punkt. Den losen Tee, den schütten Sie bitte auch in die Tonne, die braune ist für Bioabfälle, Sie wissen ja, dass Mülltrennung auch zur Leitkultur gehört, und es tut mir auch ganz furchtbar leid, dass es sich um echten Ostfriesentee handelt, aber es ist eben ein Import, und wir sind ja eine Exportnation. Schade. Die gute Nachricht ist, im Beutel dürfen Sie den trinken. Der Teebeutel ist eine deutsche Errungenschaft, die ihren Siegeszug um die ganze Welt angetreten ist. Und bitte auch hier wieder trennen, den Beutel in die braune Tonne, das Schildchen in den Papiermüll und den… –

Die Zahnpasta lasse ich mal gelten, die Marke ist egal, hier geht es dem Gesetzgeber um die Sache an sich. Sie dürfen sich meinetwegen sogar einen Wohnwagen kaufen, das ist ja befreundetes Ausland und bis auf… tatsächlich? Schau mal einer an. Dass der aus Deutschland kommt, wusste ich noch nicht einmal. Man lernt nie aus. Das finde ich jetzt doch sehr erstaunlich.

Ihr Bonusheft haben Sie? Gut. Dann komme ich demnächst mal wieder bei Ihnen vorbei und sehe nach, wie Sie sich entwickeln, so leitkulturell und als heimatbewusster Staatsbürger. Da haben Sie auch die Liste, wie Sie Ihre Verfehlungen wieder ausgleichen können. Zehn Jahre Döner, Dosenbier, wissen Sie was? Kaufen Sie sich am besten eine Motorsäge.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDV): Die Arroganz der Kulturtechnik

9 03 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Während die anderen noch über das vermooste Geröll am westlichen Tümpelhang glitschten, hatte sich Rrt aus zwei ausrangierten Beutelratten etwas Neues genäht. Sogar Ugas dritte Nebenfrau, eher an Putz und Pofel interessiert denn mit Haushalt und Hege vertraut, sogar dieses aufgedonnerte Weib sandte ihm einen lasziven Augenaufschlag von Höhle zu Höhle. Schuhe! Der Siegeszug einer ganz neuen Produktgruppe hatte begonnen, mehr noch: in den Neid der anderen mischte sich die hochnäsig zur Schau gestellte Überlegenheit, dass man auch ohne diese Dinger auf die Kinnlade kippen konnte. Denn es ging um nicht weniger als die dem Troglodyten eigene Gangart, über Generationen in den Feinheiten verbessert, die nun plötzlich von ein paar Hipstern über den Haufen gekickt werden sollte. Was war das schon wert gegenüber einer erprobten Kulturtechnik?

Abakus und Rechenschieber waren schon fast aus der Mode gekommen, da feierten sie noch einmal fröhliche Urständ, als die kleinen Verräter auf den Markt kamen, elektrische Maschinen, die jeder Knalltüte das Addieren erlaubten. Wer jedoch auf sich hielt, zog seine Wurzel noch mit Bleistift und Papier. Es waren dieselben Bürohengste, die sich noch für die mechanische Schreibmaschine verwendet hatten, obwohl eine Ecke vor ihnen die Kontoristen verbittert am Tintenfass festhielten. Während die Söhne wie selbstverständlich in Nieten- und Schlaghosen in die Oper gingen, zogen die Väter auch auf dem Schlagerkonzert Schlipse um den Hals. Vermutlich haben bald die ersten keine Zettelchen mehr geschrieben, sondern mit ihren ersten Mobilknochen kryptische Zeichen ins Funknetz geschwiemelt, dieweil in der anderen Etage einer noch den Fernschreiber fütterte, ohne den es in der ordentlichen Firma eben nicht ging.

Doch kaum war der SMS-Daumen als pathogenes Bewegungsmuster etabliert, da wuchsen die Endgeräte zu Taschentoastern, auf denen man mit zwei Händen tippte. Inzwischen wischt der Nutzer sich den Kram auf und über das digitale Brettchen. Ein Ende ist nicht abzusehen, wahrscheinlich plinkert der zukünftige Nappel direkt auf die Datenbrille, schnalzt eine Mail aus dem Gebiss heraus und zupft sich zum Umschalten rhythmisch an den Ohren. Die Kunst funktioniert in stetiger Abhängigkeit vom Ding, und je höher der Grad der Abstraktion ist für die mehr oder weniger lernfähigen Hominiden, desto schneller muss er einen Weg finden, sich das Objekt anzueignen. Ansonsten steht er selbst als Bewohner des intellektuellen Standstreifens in der Gegend.

Wenig verstanden hat das Gehirngestrüpp, wenn man nicht begreifen kann, dass Papierdruckbuch und elektronisches Pendant nebeneinander bestehen können und die körperlose Literatur keinesfalls den Niedergang der Wissensgesellschaft einläutet – die Postkutsche hatte erst dann ausgedient, als es eine technisch und wirtschaftlich befriedigende Lösung gab, und auch hier wollten ein paar Nostalgiker den Abschied nicht wahrhaben. So müsste sich letztlich jeder kulturelle Krempel irgendwann überholen, der Walzer in Vergessenheit geraten, das Sonett, Weinbau und Liebesbrief. Waren die Gummistiefel früher aus Holz, wie es uns die Verkalkten sungen, so war’s nur die gute alte Zeit, die überwiegend nicht einmal gut war, sondern nur mit anderen Umgebungsvariablen ausgestattet. Flaschenbier muss billig gewesen sein, die Bundeskanzler hatten noch eine Vergangenheit und das Wetter war im Sommer als solches erkennbar, aber für ein Hemd arbeitete man fünf Stunden, und wenn der Kragen durchgescheuert war, trug man’s im Schrebergarten auf. Dafür gab es Ofenheizung, die Leute hatten Pocken und offene Tuberkulose, Datenverarbeitung bestand aus fettigen Karteikarten und Lochstreifen, und das Gemüse klebte grau gekocht im Mehlpapp. Wie arrogant kann man sein, diese Epoche en bloc als überlegen anzusehen?

Am Verbrennungsmotor merkt der Bescheuerte, dass eine ganze Schicht nichts Besseres zu jammern hat als den Untergang der westlichen Welt, sobald die Kraftwagen mit Strom fahren. Es liegt wohl auf der Hand, wir heizen nur mit Kohlen, weil es sie noch gibt, was ist auf einem endlichen Planeten in Relation zur Gesamtdauer zwischen Genesis und Verglühen in der finalen Massenaufblähung unseres Zentralgestirns ein putziger Wimpernschlag ist – die Generation, die nur noch Windräder kennt, so wie der heute Geborene Telefone mit Wählscheibe nur verstört anschaut, höchstens noch belustigt ob der bizarren Anmutung jenseits des Praktischen, sie wird sich abwenden, wenn die Greise vom Krieg erzählen, in dem alles besser klappte.

Alternativ könnte man annehmen, dass es sich um reinen Snobismus handelt, wer den Oldtimer mit dem Holzofen zum Bäcker fährt, der auf Biogas umgestellt hat, bevor es Mainstream wurde. Doch auch offensiv heraushängende Geltungsneurose ist kaum geeignet, sich eine bleibende Statt in der Gesellschaft zu erobern, es sei denn, man möchte auffallen, wenn auch unangenehm, so doch um jeden Preis. Und das scheint manchen auch schon zu reichen, um in Erinnerung zu bleiben.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCXCIX): Die Sauna

12 01 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Es wird in einer dieser Großraumhöhlen gewesen sein, in denen heiße Quellen blubberten, wohin Uga und sein Schwager einmal die Woche vor dem Winter flohen. Sie zogen sich das Fell ab, das von körpereigenen Klebresten und Läusedreck gehalten wurde, legten sich auf die faulende Haut und sahen dem wabernden Dampf zu. Wer weiß schon, was da aus dem Inneren der Erdkruste nach oben gerülpst wurde, möglicherweise förderte es die traumgleichen Bilder im Gehirngestrüpp, die den Aufenthalt im Salzwassertank so angenehm machen oder Dauerlauf mit Sonnenstich. Gut, dass die beiden ihre lustvollen Erlebnisse nicht haben aufschreiben können, niemand hätte wohl sonst den Alkohol erfunden. Nur die Sauna.

Zurechnungsfähige Männer hocken sich in einen architektonisch eher übersichtlich gehaltenen begehbaren Holzklotz am Rande von Tundra oder Großstadt, wo nicht auf der nördlichen Halbschale ohnehin beides zusammen erreichet werden kann, gucken glasig auf ihre Handtücher, die Fettpolster und Rückenbehaarung größtenteils nicht verbergen können, und warten den Garpunkt der Hirnrinde ab. Ab und an, vor allem in geschäftlich ausgerichteten Betrieben, latscht eine Mitarbeiterin ohne jegliche intrinsisch verortbare Motivation in die Butze, kippt einen Eimer Terpentin in die Heizgelegenheit, lässt ein Grubentuch die schwiemelnden Schwaden im Kreis verwirbeln, und geht dann an den Schrank mit den Magentabletten, wie immer nach dem Überleben dieses Anblicks. Sie hat früh und mit Verachtung der eigenen Existenz gelernt, dass es Schicksale gibt, die man nicht herausfordern soll, beispielsweise die Berufstätigkeit unter ästhetisch indiskutablen Klumpoiden.

Was da mit breitem Schritt die Bänke nässt, hat mit dem Verlust der Scham gerne die Schwelle zum Schwachsinn schon überrollt. Glänzend vor Talg glotzt das aus enger Stirn, ein niederschwelliges Angebot der Hominisation, das vernünftige Mittel für einen amtichen Kreislaufzusammenbruch aus mandelnder Beweglichkeit ignoriert und sich lieber die Ventile durchpfeift, die Lederschicht zur Vollendung masochistischer Anwandlungen mit Ästen durchprügelt und deshalb schon für hart hält. Mit der Subtilität von Wildpinklern im Stadtpark drückt das den Ekel ins öffentliche Bewusstsein, als sei Vergänglichkeit nicht das einzige, was Körper aus der Freiluftsektion des Kopfkinos verdrängen sollte. Die warmweiche Widerlichkeit wabbelnder Wänste sorgt für Grundübelkeit beim Gedanken an die beheizbare Gammelfleischtheke.

Das wahre Grauen aber ist noch nicht zu finden bei der Monstranz des Monströsen, die wirkliche Erscheinungsform des Grässlichen ist der Blick, der den unwissentlich Eintretenden, obgleich schon nackt, noch einmal entblößt. Er geht bis auf die Knochen, Widerstand wird nicht geduldet. Millionen von Drüsen und tausende Haare bäumen sich in einem Akt der Hoffnungslosigkeit noch einmal auf, bevor die Sehkrankheit den Brechreiz triggert. Die Appetitlichkeit von Moorleichen kann mit diesem Liebreiz locker konkurrieren, es geht schließlich um den Endzustand des Belebten. Hier bricht sich der Troglodyt Bahn, auch im Angesicht von Kräuteressenz und Frottee, wie er trotz allem seine niedersten Instinkte befriedigt oder sich wenigstens dafür in Stellung bringt.

Die Vermutung liegt nah, dass die Erfindung von Schnellkochtopf und Druckwasserreaktor nur Auswüchse der mählichen Verschmorung sind, die der Dämpfansatz gezeitigt hat. Wahrscheinlich ist die enthemmende Wirkung des Schweißerei vor allem aus dem Missverständnis erwachsen, sich nach dem Ende der Stammesgesellschaft weiterhin mit nicht zum nachhaltigen Verbrauch bestimmtem Fleisch zu erhitzen, im Gegensatz zu den eben in Privatgebrauch stehenden Häuschen, in denen die Transpiration weniger transparent geübt wird. Der soziale Hautkontakt hat sich mit der Zivilisation erledigt, der Filzhut allein schützt nicht mehr vor den Einbrüchen des frühen Primatenstadiums. Das Brausebad mag Erdenreste beseitigen, nicht aber die Erbsünde.

Vermutlich ist es ein evolutionärer Trick wie Karneval oder Schnaps, den Motivationsstau für die Mehlmützen zum gesellschaftlich nicht negativ sanktionierten Event zu stilisieren, dem man ohne Schäden im Frontzahnbereich beiwohnen kann. Hier ist der Affe ganz bei sich selbst und darf es sein, Hobbybrezeln und Dummschlümpfe haben zumindest ein Entzücken im Leben, die Freude der Regression. Früher oder später kommt dann das Bad im Eiswasser.





Entartete Kunst

14 06 2016

„… die Aufführung des Stücks am Potsdamer Hans Otto Theater verhindern wolle, da die dort gezeigten Flüchtlingshelfer offenbar gegen deutsches Recht…“

„… müsse sich das deutsche Bühnenwesen gegen die Tendenz wenden, Unmoral und strafbare Handlungen zu zeigen, da diese zur Zersetzung der Wehrkraft der Volksgemeinschaft…“

„… eine Aufführung der Räuber im Theater Bremen verhindern müsse. Meuthen habe auf die linkslinks-verschwulte Terrorverherrlichung des offensichtlich drogensüchtigen…“

„… nur noch deutsche Stücke auf den Bühnen im Reichsgebiet gespielt werden sollten. Höcke werde eine Liste aller vaterlandsfreundlichen…“

„… dürfe sich Theater nicht in gesellschaftliche Konflikte einmischen, wenn es nicht die Konsequenzen dafür tragen wolle. Petry halte ansonsten das Grundgesetz für eine…“

„… wolle Meuthen ein Publikationsverbot für Schiller erwirken, den er für die Folge der 68er und die Abschaffung der Todesstrafe in…“

„… wolle man auch Stücke österreichischer Dichter auf deutschen Bühnen zulassen, da diese durch Blut und Sprache eine schicksalsmäßige…“

„… aber als pädagogischen Ansatz eine Jugendvorstellung der Antigone zu erlauben. Poggenburg wisse aus eigener Erfahrung, dass aus einer Straftat sehr oft noch viele andere…“

„… sich Gauland persönlich gegen die Neuinszenierung von Othello am Schauspiel Leipzig gewandt habe. Er sei nicht gegen Shakespeare, es sei aber klar, dass nicht jeder in Deutschland einen Mohren als…“

„… man Die Lohndrücker als besonders wertvolles Stück für die sozialpolitische Neuausrichtung des deutschen Proletariats…“

„… nichts daran ändere, ebenso wenig wie der Nobelpreis. Jelinek, so Höcke, sei eine hysterische Judenhure aus der Ostmark, die noch früh genug von den arischen Rassegenossen in den…“

„… den Satz so nie gesagt habe. Alle fünf Ton- und beide Videoaufzeichnungen seien parallel falsch aufgenommen worden. Gauland kenne das Stück überhaupt nicht und wolle gar nicht den…“

„… befehle Poggenburg die Absetzung des Gutmenschen von Sezuan, der die kommunistische Herrschaft in Rotchina ohne die für den Deutschen notwendige Brutalität…“

„… auch an die Kinder zu denken. Meistens handle es sich beim Krokodil, das die blonde Prinzessin bedrohe, um afrikanische Invasoren, die von gleichgeschalteten Schutzmännern unbewacht die Großmütter vergewaltigen könnten, um sich danach ein Begrüßungsgeld in Höhe von…“

„… reine Unterstellung. Gauland habe nicht gewusst, dass der Mohr von Venedig ein Neger sei, er habe außerdem noch nie ein Theater von innen…“

„… das Nationaltheater Mannheim schließen wolle. Mit Emilia Galotti zeige das Haus nicht nur das Elaborat eines jüdisches Volksschädlings, das Stück propagiere auch unter dem Deckmantel der Aufklärung den Ehrenmord als Tugend einer bürgerlichen…“

„… auch das Hessische Landestheater Marburg stilllegen werde, wenn der Volksfeind nicht sofort aus dem für die Zukunft der deutschen Nation wichtigen Spielplan…“

„… man den Kaufmann von Venedig nicht auf einer deutschen Bühne zeigen dürfe, weil das Werk zur Verherrlichung des Judentums…“

„… eigentlich die meisten Opernhäuser schließen müsse, weil es bei den Aufführungen um Ehebruch und außereheliche Verhältnisse…“

„… die Freilichtspiele Bad Bentheim mit einem zeitgemäßen Weihespiel für die Jugend des Volkes aufwarten müssten. Höcke selbst wolle eine Dramatisierung von Jud Süß in kindgerechter Sprache…“

„… werfe Gauland dem Zentralrat Antisemitismus vor, da er das Stück noch nie…“

„… nicht einmal den Fliegenden Holländer auf der Opernbühne dulden wolle. Von Storch prangere die Zwangsehe einer mutmaßlichen Minderjährigen an, wie sie im Islam neben Kinderarbeit und…“

„… in der Wiederaufnahme des Ibsen-Stückes im Theater Chemnitz eine Zusammenarbeit der überstaatlichen Mächte sehe. Gedeon wisse, dass die Weisen von Zion die Entartung der deutschen Kultur aus dem…“

„… nie behauptet, nicht zu wissen, wer Shakespeare überhaupt sei. Allerdings habe Gauland während der Fernsehsendung geäußert, das deutsche Theater sei nicht mehr das deutsche…“

„… sich mit Stella die ganze Minderwertigkeit des türkischstämmigen Dichters zeige, da je nach Version ein feiger Selbstmord oder ein unchristlicher Ehebruch…“

„… die Darstellung von Homosexualität oder Drogenkonsum zahlreichen Jugendlichen falsche Lebensmodelle vorgaukeln würde. Das Verbot von Büchners Woyzeck werde für eine erheblich geringere Anzahl an…“

„… die Produktion mit dem Porträt des thüringischen Rassisten werbe. Ein wohlwollendes Echo der internationalen Theaterzeitschriften habe die Premiere von Der Verbrecher aus verlorener Ehre bis zum…“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCLXIX): Musicals

5 12 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Einmal nicht aufgepasst, die falschen Medikamente erwischt oder eine dramatische Überdosierung, und schon hüpft man kreischend durch den kahlen Plattenbau. Mitbewohner werden hernach den Ermittlungsbeamten mitteilen, man habe den Mitbewohnern mitgeteilt, dass man nun einen Kaffee zubereite, einen Kaffee, ja-ja, Kaffee, oh-oh, Kaffee, Kaffee, Kaffee – den kaffeesten Kaffee des Universums, tschakka-tschakka, den Kaffee, Kaffee, Kaffee. Die Patronenhülsen lagen immer schon in der Küche, und der mild verbrannte Geruch war wohl Zufall. In dieser Umgebung muss wohl die Geburtsstunde des Musicals ihren Lauf genommen haben.

Nicht alles, was man in einem Polyesteranzug erledigen kann, ist auch Kultur im engeren Sinne, und so erbarmte sich irgendwann die Industrie, um die sozial benachteiligten Anwohner vom einsamen Konsum miserabler Konservenschlagerkonserven zu erlösen. Aus dem Fundus zusammengenagelte Kulissen, Kostümgedöns und ein paar verstolperte Tanzschritte waren rasch geboren, die Handlung spielte keine große Nebenrolle, und die größten Kathedralen des dramaturgischen Elends standen bereit, die Eucharistie des schlechten Geschmacks bei ihrer Zwangshochzeit zu beherbergen. Das von Musike begleitete Tingelgetangel winselte durch die Landschaft, und es blieb. Aus Gründen.

Wer das Artifizielle, sprich: den gekünstelten Schwiemel der Oper schon immer für einen mentalen Zahnschmerzfaktor hielt, wie die Darsteller ihre mäßig interessanten Probleme im ausgestanzten Dialog aneinander vorbeischwafeln, um dann jäh in die überflüssige Arie auszubrechen, die vor Jubel, Schmerz und Rache quietscht, der wird auch den ästhetisch suboptimierten Kitsch der Kleistersinger nicht beschwerdefrei vertragen. Zum Glück ist die Mehrheit der Bevölkerung komplett geschmacksresistent und ohne Gegenwehr, sie sind durch Gruppenschunkeln hinreichend sozialisiert, halten jeden Sondermüll für Kunst und klatschen, sobald das limbische System Raumtemperatur hat. Man stellt sie leicht zufrieden. Wer die Qualitäten der englischen Küche kennt, ahnt dumpf, wo die Begeisterungsfähigkeit dieser Spezies anfängt.

Spaßmacher und Radauhumoristen jeglicher Couleur sind schon immer dem harmlosen Volk nur auf die Plomben gegangen. Wer sich als Zumutung für den Durchschnitt erwies, der grub stets unten Löcher und baute an, was das Zeug hergab, dümmliche Witze, sentimentalen Dreck mit dem Kernduft der Realitätsverleugnung, eine freudige Feier der Hirnschäden, wie sie sich politisch im Sinne der Machthaber hindrehen ließ. Das Musical aber vereint das Schönste dreier Welten: schmalztriefenden Gesang, dümmliches Gehampel und eine Art von Schmierentheater, die den Intellekt des gemeinen Zuschauers beleidigen würde, besäße er überhaupt einen. Es ist jene Catch-all-Strategie, um den Rezipienten ein aus Schmierseife fabriziertes Bildungserlebnis vorzutäuschen, das sie mit geschwollener Drüsen sich einverleiben, dessen eingedenk, es hätte schlimmer kommen können.

Zwar wird hier und da behauptet, das im Musiktheater etablierte Repertoire sei auch nichts anderes als eine skrupellose Zweitverwertung dramatischer Reste, doch was immer sich auf der Musicalbühne an die Rampe quält – Beate Zschäpe, der 11. September, das neue Smartphone von dieser komischen Firma da oder schlicht die neue beschissenste Bundesregierung so far – fällt aus Mangel an höherer Qualität nicht groß auf. Ein Broadwayerfolg über die Rückseite der Gebrauchsanweisung eines Nasenhaarschneiders wäre die Regel, nicht die Ausnahme. Die Circushalligallisierung der Brüllkultur zwischen betäubendem Pathos und perforierender Komik hat sich als moralische Leeranstalt to go etabliert, als Kanalisation der Miserabilitäten, die selbst für die Filmindustrie nicht mehr taugen und sich auf einer Bühne besser ins kollektive Bewusstsein der Bildungsversager entsorgen lassen.

Inzwischen bedienen sich die Galeerenpauker auf der Besetzungscouch an den nachgelassenen Opfern der Castingshows, wie sie madengleich ins Rampenlicht wimmeln, kaum bis gar nicht wissend, dass sie in Stundentakt und Wechselschicht vor durchweg zahlungskräftigem Publikum verheizt werden. Längst klotzt man feste Arbeitslager in die Gegend, wo die Tanzmäuse der untersten Mittelschicht zwei bis drei Vorstellungen pro Tag vorturnen, inhaltsfrei hingespuckte Potpourris von allseits bekanntem Mitklatschmaterial, Investments für die abgerichteten Lemminge. Man hätte sie weiterbilden können, bestenfalls in einer sensiblen Phase ihrer geschmacklichen Degeneration, und mit viel Glück und Geduld hätte es einer von ihnen bei kundiger Anleitung in eine anständige Operette geschafft. Vielleicht.