Die Städte

14 08 2022

für Christian Morgenstern

So wandert man durch Städte und durch Straßen
und sieht die Welt in beispiellosem Licht.
Wie viele diese Wege einst durchmaßen,
das sieht man auf dem alten Pflaster nicht.

Die Türme und die Kirchen, die Gebäude
sind anfangs fahl und dunkel-unvertraut.
Nur langsam öffnet sich die Augenweide,
wer diese Wunder vor der Welt erbaut.

Bald weiß man an den Schildern, welche Namen
gewichtig waren, auch, wo ein Gewerk
sich anfand, und wie Fremde dorthin kamen.
Man steht vor der Geschichte wie ein Zwerg.

Dann nimmt man Abschied. Weiter führt die Reise,
ein Leben, das nie an die Grenzen stieß.
Und doch fragt man sich, ob man still und leise
mit seinem Blick wohl Spuren hinterließ.





Schlossgärten

17 07 2022

für Heinrich Heine

Was stehen die Linden und Eichen so prächtig
gefädelt wie auf eine Schnur.
Die Herren, die saßen in Schlössern so mächtig
und hielten dies wohl für Natur.

Da sieht man auch künstliche Gänge und Lauben,
die Liebste im Dunkeln zu sehn.
Im Wäldchen, im echten, das mag man mir glauben,
geht’s köstlicher, heimlich und schön.





Die Karyatiden

16 01 2022

Zur Linken hebt ein Weib mit bloßen Brüsten
die schlanken Arme. Ihre zarte Hand
bedeckt den Scheitel, den ein Schleier band.
So schaut auf Menschen sie mit Schmerz und Lüsten.

Zur Rechten sieht man auf den Armen tragen
den Mann in voller Reife, wie er starrt
in angestrengter Kraft unter dem Bart
auf Volkes Treiben: Wägen oder Wagen.

Auf ihren Händen und auf seiner Elle,
da ruhen zwei verzierte Kapitelle,
die stützen einen weit und runden Erker.

Halb blicken sie einander an. Sie halten
ein Gleiches, auch in anderen Gestalten
macht Zweisamkeit die beiden vielfach stärker.





Die Bauernhochzeit

24 10 2021

Da hocken sie in endlos langer Reihe,
die Männer und die Weiber eng beim Wein.
Die Knechte bringen abermals vom Breie,
und wie zu Kana schenkt man ihnen ein.

Zwei Musikanten pfeifen durch die Scheune.
Vor ihnen wird recht munter aufgetischt.
Es hängen an Wand als Schmuck alleine
zwei Ähren und ein Flegel, dass man drischt.

Die Braut sitzt in der Mitte. Eine Krone
zeigt an, dass sie zu keinem Gast mehr spricht.
Wiewohl die Ehe sie dafür belohne,
man sieht es doch an ihrem Schweigen nicht.

Ein Pfaff, ein Edelmann, doch ihrem Gaumen
wird diese karge Kost wohl nicht gerecht –
am andern Ende saugt an seinem Daumen
ein Kindlein, dessen Mutter selig zecht.

Dort an der Tür, da drängen sich die Armen,
und herrscht auch große Not: es ist ein Fest.
Mit ihnen hat der Herr wohl sein Erbarmen,
die er an seine Tafel kommen lässt.





Küche, Kirche, Kinder

20 06 2021

für Robert Gernhardt

Ich hätt gern einen Klappaltar.
Das fände ich ganz prakt-
isch, denn so ist die Küchenwand
mir einfach viel zu nackt.

Ich hätt gern einen Klappaltar.
Der wär statt in der Kir-
che zweimal jährlich auf und zu.
Sonst hing er einfach hier.

Ich hätt gern einen Klappaltar.
So seht, Ihr lieben Kin-
derchen, da sind die Teller und
auch alle Tassen drin.





Hier irrt der Dichter

23 05 2021

für Robert Gernhardt

Man kann mit Versen gut verallgemeinern,
was ich im Allgemeinen auch gern tu,
um meine Wirkung nicht noch zu verkleinern.
Doch bin ich eben ich, nicht es, nicht du.

Ich kann auch nur begrenzt in andre schlüpfen.
Von außen sehe ich dann Kopf und Bauch.
Da oben kann ich schwer den Deckel lüpfen,
und untenrum misslingt es mir dann auch.

Als Dichter greife ich stets zu den Sternen,
damit gleich jeder merkt: ja, der macht Kunst.
Vom Boden muss man sich dazu entfernen,
der Nachteil ist: da oben ist bloß Dunst.

So bin ich für Verächter noch viel schlechter.
Das macht es für Verklärer noch viel schwerer.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DXLIII): Der Banause

4 12 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Seitenlinie von Ugas Sippe war tatsächlich speziell. Auch andere trugen Bärenfell mit kleinen Erdmännchenapplikationen, dekorierten den Eingang ihrer Wohnhöhle mit Ensembles aus Schneckenhäusern und Biberzähnen oder hängten apart geflochtene Bastmatten über die Feuerstelle, die interessante Schatten an die Höhlenwände warfen, zu denen es sich nach der warmen Mahlzeit trefflich philosophieren ließ. Nur der ästhetisch äußerst wertvolle Versuch, vermittels Erdfarben ein figürliches Fresko an die Felswand zu pappen, gab der Heimstatt ein geradezu luxuriöses Ambiente. Manche überlegten, ob sie auch ihren zackigen Granit mit Ocker aufpimpen sollten. Andere boten dem Künstler Teile von Jagdbeute, abkömmliche Nebenfrauen oder allerlei praktisches Werkzeug an. Die Raumausstattung wurde zum festen Bestandteil der eleganten Troglodytengesellschaft, wer etwas auf sich hielt, dinierte, schlief und lauste sich unter geometrisch-abstrakten Mammutskizzen. Nur nicht Uga. Der Alte fand es einfach albern, und wenn er Tiere sehen wollte, dann ging er in die Steppe. Wie Banausen eben so sind.

Für diese Klasse findet die Bedürfnispyramide vor allem im unteren Teil statt, bei einer Handvoll Buntbeeren statt in der Selbstverwirklichung. Nicht ohne Spott benutzt es der Bildungshuber, der mit Kultur im weiteren Sinne aufwuchs und sie als das äußere Zeichen jeglicher Zivilisation begreift, die ja etwas hinterlassen muss, materiell oder ideell, wenn von ihr nach dem Zusammensinken der an sich auf Dauer gedachten Reiche und Fürstentümer noch irgendetwas übrigbleiben soll. Paradoxerweise ist diese Kultur das, was von einer Generation zur nächsten weitergegeben und schließlich Tradition genannt wird, während sich der chronische Ignorant ohne derlei Gedöns durchs Dasein ödet, indem er alles so macht, wie er es immer schon gemacht hat. Der Widerspruch fällt nicht auf, aber mit dem Denken hat er’s eh nicht.

Der Banause ist dem Wort folgend eigentlich der am eigenen Herd arbeitende Handwerker, der die Außenwelt nicht freiwillig wahrnimmt oder sie gar nicht bemerkt, da er das Gehäuse ja nie verlässt. Aus der Unkenntnis des Geistigen, die zunächst nur mit dem stark beengten Lebenswandel einhergeht, schrumpft allmählich der intellektuelle Horizont zu einem Punkt zusammen, der feststeht, aber kaum noch eine Welt bewegt. Als Subjekt der Kulturpolitik ist er schnell verloren, da er selbst den ganzen Betrieb meidet und ihn daher gleich für vollkommen überflüssig hält. Was er nicht kennt, ist auch nichts für andere.

Mit leiser Ironie könnte man behaupten, dass der Banause seine unreflektierte Ablehnung aller Künste selbst noch kultiviert, um wenigstens eine Kokarde an den Hut stecken zu können, die ihn kenntlich macht. Unklar ist, ob die Schmollecke ihm als heimliches Verbannung oder tatsächliche Heimat gilt, denn wo immer er über die Schwelle tritt, tönt’s ihm entgegen: Kulturnation! Land der dichten Denker! Hier nix Banause! Wer da sein inneres Exil finden will, der muss entweder dicke Wände mauern oder tief graben. Beides führt in die Geschichte hinab, die den Kern der Zivilisation freilegt. Es ist ein Kreuz.

Doch tut man dem Banausen auch Unrecht. Er ist mehr als andere eine Stütze der Gesellschaft, da er sich nicht allein mit den banalen Dingen des Lebens beschäftigt, sondern auch zu bürgerlichen Sekundärtugenden wie Fleiß und Zuverlässigkeit neigt, die dem Kulturbold den Rücken freihalten, wenn dieser sich in dünner Höhenluft Hirngespinste zusammenschwiemelt. Seine Kleingeist erzeugt den Kaufmannssinn, der mit Beharrlichkeit und grober Verachtung jeder Gaukelei Werte schafft, mit denen er Städte errichtet, die er mit Domen und Palästen zupflastern kann. Im Gegensatz zum Blendwerk der Berufsirren braucht er keinen Applaus von den Tumben, arbeitet nicht auf Zuruf und wird nicht aus einer Laune heraus verjagt. Er zieht seinen Stolz aus der eigenen Tätigkeit, und in den großen Gestalten der Kunst sogar, Mozart etwa, findet sich der Banause, der vom Erwerb abhängig blieb, um die Gunst naiver Besserwisser an den Fürstenhöfen nicht zu erdulden.

Wenn sich der Banause ein eigenes kulturelles Konglomerat erschaffen hat, dann in Eiche gebeizt mit Gartenzwerg hinterm Jägerzaun, Filzpantoffeln, Einlasskontrolle und Ersatzkaffee. Der ansonsten stabile Bürger steht leise zweifelnd davor und hat keine Ahnung, wie man das über ein ganzes Leben hinweg normal finden, ja noch gegen alles andere verteidigen kann, was im Rest der Welt passiert. Es scheint mehrere objektive Wirklichkeiten zu geben, die einander ausschließen, sich aber in wesentlichen Bestandteilen überschneiden, ohne dass wir, Banausen oder nicht, es bemerken würden. Möglich immerhin, dass man in einer fernen Zeit Artefakte an unseren Wänden findet und unsere gesamte Zivilisation für eine Horde durchgeknallter Deppen hält, die Filzpantoffeln hasste, sie in erheblicher Menge jedoch gleichzeitig produzierte und trug. Es ist ein Rätsel. Man müsste das eigene Haus, die eigene Welt dafür verlassen. Wer will das schon.





Kunststück

4 11 2020

„Die Bohrmaschine, Handschuhe, Kelle, Wandfarbe und den Hammer“, erklärte Herr Breschke und lud den Klappkorb in den Kofferraum. „Das sollte doch für den Augenblick reichen.“ Ich nickte. Wir fuhren die Uhlandstraße hinab bis zum Kontorhaus, wo wir sicher schon erwartet wurden.

Leider war das nicht der Fall. „Anne hat sich für den Veranstalter verbürgt“, sagte ich. „Da seit ein paar Tagen wieder alle öffentlichen Ausstellungen gesperrt sind, müssen wir dies sozusagen als wilde Galerie veranstalten.“ „Ach ja“, seufzte der alte Herr. „Wir waren seit Jahren nicht im Museum, und in diesen Zeiten merkt man erst, wie sehr es einem fehlt.“ Er musste sich nicht für eine Parklücke entscheiden, der ganze Platz war leer, da dem alten Gebäude der Abriss bevorstand. Wir standen dicht vor dem Eingang, der nun ohne Türen war, und sahen direkt in die große Eingangsdiele, die sich im Halbdunkel fast über das halbe Erdgeschoss hinweg nach hinten erstreckte. „Und Sie meinen, dass sich hier klassische Kunst zeigen lässt?“ Ich hievte den Korb, der bis zum Brechen der Handgriffe noch als Kartoffelhorde in meinem Keller gestanden hatte, aus dem Laderaum. „Vielleicht nicht unbedingt klassisch“, überlegte ich, „aber es liegt ja immer im Auge des Betrachters.“

Drinnen hatte sich nicht viel getan; eine rostige Gasflasche lehnte an der Wand, schräg gegenüber hatte jemand Blumenerde in eine Ecke des Raums geschaufelt. „Keine Sorge“, meinte ich, „dass wir vorher noch aufräumen sollen, hat Anne mit keinem Wort erwähnt.“ Horst Breschke kicherte. „Sehr gut, sonst würde ich so eine Vernissage auch mal in meinem Garten machen.“ Eine große Schachtel mit Dübeln lag direkt neben der einzigen Steckdose im Raum; in Augenhöhe waren etwa ein Dutzend Stellen an der Wand markiert, in die angebohrt werden sollten, um dann Haken in den Löchern zu befestigen. „Meinen Sie nicht“, mutmaßte der pensionierte Finanzbeamte, „dass wir erst die Wände anstreichen sollten?“ Ich schüttelte den Kopf. „Dann finden wir die Stellen zum Bohren nicht mehr wieder.“ Das leuchtete ihm ein.

Ohnehin hatte der Auftraggeber die Arbeiten recht gründlich falsch eingeschätzt. Einen derart großen Raum mit einem einzigen Eimer Wandfarbe zu streichen schien so gut wie unmöglich. Breschke kratzte sich am Kinn. „Vielleicht erwarten sie von uns eine Art Gemälde“, überlegte er. „Aber das übernehmen dann Sie, ich bin ja künstlerisch völlig unbegabt.“ Umständlich zog er die Handschuhe an. Diesen Raum in eine Galerie zu verwandeln würde tatsächlich ein Kunststück sein.

„Ein Achter reicht aus“, befand ich, „und Sie haben zum Glück auch die dicken Bohrspitzen eingepackt.“ „Mit den Diamanten“, bestätigte Herr Breschke. „Damit habe ich auch das neue Regal an der Kellerwand befestigt, es ging ganz leicht.“ Er steckte die Bohrmaschine ein. Leider bleib es beim Versuch, denn trotz Verlängerungsschnur erwies sich die Leitung als zu kurz, um auch nur die nächstliegende Stelle mit der Spitze zu erreichen. „Haben Sie eine Kabeltrommel zu Hause?“ Horst Breschke verneinte. „Und wenn“, überlegte er, „wie komme ich denn dann bis zur gegenüberliegenden Wand?“

Guter Rat war teuer. „Mit einem Akkubohrer könnte man es versuchen.“ Ich war skeptisch. „Ich habe keinen, kann mir aber nicht vorstellen, dass das in diesen Wänden funktioniert.“ Herr Breschke legte die Maschine neben den Korb, zog sich die Handschuhe aus und betrachtete den Raum. „Meinen Sie nicht auch“, fragt er, „dass diese Idee ein bisschen vorschnell war?“ „Ich verstehe das auch nicht“, erwiderte ich. „Sonst schaut sich doch Anne solche Sachen immer ganz genau an, bevor sie ihre Mithilfe verspricht.“ Auf der anderen Seite kannte ich ihr Faible für Kunst und Kultur, auch in deren abseitigen Gefilden.

Da hörten wir plötzlich Schritte auf den Dielen. „Ich grüße Sie“, rief ein mittelgroßer, mittelalter Mann mit mittlerem Haarausfall durch die Halle. „Rummelpeter mein Name, Ihre Freundin hatte mir versprochen, dass ich Sie hier treffen würde.“ Er verbeugte sich artig und kam auch nicht zu nahe. „Mein Name ist Breschke“, sagte ebendieser, „ich…“ „Entzückend!“ Herr Rummelpeter klatschte in die Hände und tänzelte um das Ensemble in der Mitte des Raums herum. „Das ist eindeutig das Highlight dieser Ausstellung! Diese subtile Sprache aus technischen Objekten, die als Symbole der Raumgestaltung sich quasi auf eine Metaebene transzendieren – ich bin hingerissen!“ „Wir fühlen uns Ihrem Konzept sehr verbunden“, bestätigte ich. „Ich darf wohl sagen, dass dieser Raum eine ganz außerordentliche Inspiration bietet.“ Rummelpeter konnte sich gar nicht mehr beruhigen. „Wie heißt denn diese Installation, verehrter Meister?“ Herr Breschke sah mich hilflos an, bevor ich einschreiten konnte, antwortete er: „Dies ist keine Kunst.“ Der Galerist jubelte. „Dies ist keine Kunst!“ Nun war Herr Breschke nachhaltig verwirrt. „Und dann auch noch eine die Genregrenzen sprengende Referenz an den historischen Surrealismus! Herr Breschke, Sie sind ein Genie!“

„Ich verstehe das nicht“, murmelte der alte Herr und schloss die Autotür auf. „Sie wollen mir doch jetzt nicht auch noch eine Begabung einreden wie dieser Spinner?“ „Sehen Sie es positiv“, gab ich zurück und setzte mich auf den Beifahrersitz. „Man lernt jeden Tag etwas dazu.“ „Dass ich jetzt Künstler sein soll?“ „Nein“, sagte ich. „Aber bisher dachte ich auch immer: moderne Kunst sei das, was nicht mehr in einen Kofferraum passt.“





Praktische Handreichung zur Kunst im öffentlichen Raum

23 08 2020

Ein Denkmal steht, zu künden von Geschichte,
seit langen Jahren fest im Straßenbild.
Wer ahnte, dass die Zukunft anders richte?
dass man die Großen nun Verbrecher schilt?

Man kann sie nicht ersetzen. Zehnmal Goethe
sind selbst für die Kulturnation zu viel.
Es bringt die Städte schon in große Nöte,
da man auf diese Lösung nicht verfiel.

Man fertige die Bilder ohne Köpfe,
die man nach Wunsch auf ihre Rümpfe schraubt.
Rasch wechselt man das Antlitz der Geschöpfe.
Und alles ist so gut, wie man es glaubt.





Die Wasserspeier

3 11 2019

Hoch oben auf dem Dach der Kathedrale
begrenzt ein Chor aus Fratzen jenen Rand,
an dessen Abgrund sich ein feines Band
ergießt wie aus der Lippe einer Schale,

das aus den Mäulern gurgelt viele Male,
wenn Regen zieht wohl über alles Land,
und speit sich aus wie eine Wasserwand,
und stürzt von Sinnen auswärts und zu Tale.

Schon möglich, dass die steinernen Grimassen
des Wassers überdrüssig nichts mehr fassen
und tausendjährig schon in Wettern schlafen.

Vielleicht sind es auch hässlich arge Sünder,
die noch in Jahren ihrer Kindeskinder
im Dom nicht sind, um ewig sie zu strafen.