Die innere Sicherheit war wieder einmal in Gefahr. So sehr, dass die Experten regelrecht von einer Verschärfung sprachen. Millionen unbelasteter Bürger, die sich bisher nichts hatten zu Schulden kommen lassen, galt es zu schützen. Sie grübelten. Die Erleuchtung ließ auf sich warten. Wolfgang Bosbach schaffte den entscheidenden Durchbruch. In einer flammenden Rede forderte er Kontrolle und unbarmherziges Durchgreifen. Man dürfe, so der gelernte Einzelhandelskaufmann, das Land der Biedermänner nicht den Brandstiftern überlassen.
Eine Großrazzia in den Niederlassungen einer Kaufhauskette brachte es ans Licht: Essbesteck war frei erhältlich. Fischmesser, Kuchengabeln, sogar Gartenscheren waren vereinzelt an Minderjährige abgegeben worden. Etliche verdachtsunabhängige Hausdurchsuchungen brachten das ganze Ausmaß des Unheils zum Tragen. Die Haushalte verfügten bereits flächendeckend über stehende und Klappmesser. Taschenmesser, Teppichmesser, Tranchier- und Tomaten- und Brotmesser, Obst- und Käsemesser landeten containerweise in den Asservatenkammern des Bundeskriminalamts. Die Öffentlichkeit in Gestalt von Christian Pfeiffer zeigte sich entsetzt, aber zuversichtlich. Schlüssig wies er nach, dass nur die sittliche Verrohung durch Killerspiele oder Paintball so weit geführt habe; nähme man dem mündigen Bürger alles, was man als Mordwerkzeuge zweckentfremden könne, verböte man ihm jegliches Tötungstraining, so sei das irdische Friedensreich zum Greifen nahe.
Ein Sturm der Entrüstung brach los. Mit Feuer und Schwert kämpften Einzelhandel, Gastronomie und Handwerk gegen die Schneidwaffenkontrolle. Solingen wurde rasch zum Zentrum des nationalen Widerstandes. Doch Bosbach postulierte die Schere im Kopf. Eine Waffe sei nicht per se gefährlich, urteilte der Vize, sie werde erst durch den Gebrauch überhaupt zur Waffe. Da man aber jedes Messer als Waffe missbrauchen könne, so schloss Bosbach locker aus der Hüfte, sei auch jedes Messer ein Mordinstrument. Die Anschläge des 11. September hätten dies hinlänglich bewiesen.
Die Nation schrie auf, als bekannt wurde, dass ein Sondereinsatzkommando im Odenwald quasi in letzter Sekunde eine Katastrophe verhindert hatte. Unweit des Götzenstein hatte ein Laternenumzug der örtlichen Kinderspielschar stattgefunden. Nur mit scharfer Munition war der Brandgefahr zu begegnen gewesen. Die Einsatzkräfte hatten alle Hände voll zu tun. Zwei Dutzend Halbwüchsige mussten unschädlich gemacht werden, was die tapferen Wächter teils durch Kopf-, teils durch Bauchschüsse erledigten. Dabei kamen ihnen die Mitglieder eines Schützenvereins zu Hilfe, die in uneigennütziger Nächstenliebe den Finger am Abzug hatten und ganze Magazine in die jungen Terrorverdächtigen entleerten. Ihren Dienst für Volk und Vaterland belohnte das Bundesministerium des Innern mit Verdienstkreuzen. Buntmetall gab es seit der großen Rückgabeaktion Messer zu Pflugscharen wieder genug in Deutschland.
Weniger Glück hatte der Notarzt, der versucht hatte, eines der angeschossenen Kinder durch einen Luftröhrenschnitt zu retten. Die Operation misslang und der Mediziner fand sich auf der Anklagebank wieder. Ein Notarzt, befand das Gericht, müsse auch dann seiner Pflicht nachkommen, wenn er auf Grund übergesetzlichen Notstandes nicht mehr zum Mitführen eines Skalpells berechtigt sei.
Die Einführung des bundesweiten Zündholz-Zentralregisters geriet ins Stocken. Man hatte eine EU-Richtlinie übersehen und wusste nicht, was als Zündholz zu definieren war.
Es ging in den Abendnachrichten unter, wie Ursula von der Leyen plädierte, Bastelscheren zu verbieten. Die Meldungen des Tages wurden von der Schreckensnachricht aus Baden-Württemberg dominiert, wo ein Vater dem Treiben seiner beiden Sprösslinge tatenlos zugesehen hatte: die Kinder hatten Räuber und Gendarm gespielt, noch dazu mit einem Plastikschwert, das vom Karnevalskostüm des Delinquenten stammte, der als Ritter Kunibert den Preis des Festkomitees für die beste Larve erhalten hatte. Bosbach hatte den Finger am Abzug. Er forderte vehement ein Darstellungsverbot von Waffen in den Medien. Die Medien waren strikt dagegen; BILD war als erste dabei.
Ein heftiger Streit belastete das Kabinettsklima. Franz Josef Jung erlitt einen Wutanfall, als er die Truppe bei einer NATO-Übung lustlos Manöver-Munition verballern sah. Dass Lagerfeuer verboten waren, hatten die Bürger in Uniform hingenommen. Dass sie jedoch den Inhalt ihres Essgeschirrs nur noch mit den Fingern schöpfen durften, senkte ihre Kampfmoral erheblich. Schon stichelte man auf internationaler Ebene, Deutschland habe den Löffel abgegeben. Der Stellvertreter fuhr dagegen schwere Geschütze auf. Seine Fraktion sehe die Bundeswehr nach wie vor als Friedensarmee.
Er kam schneller zu Fall, als er dachte. Hatte Bosbach noch vormittags vor dem Plenum mächtig Pulver verschossen, um Feuerzeuge in Form von Pistolenattrappen als völlig harmloses Spielwerk für ältere Herren zu bezeichnen – als Schusswaffe seien sie nicht zu gebrauchen, auf Grund ihrer äußeren Gestalt jedoch wie Feuerwaffen straffrei zu besitzen – so fiel er schon Stunden später ins Schneidwerk der Justiz. Der Ordnungsdienst hatte ihn auf der Reichstagstoilette ertappt. Der Westfale versuchte, sich mit einer Nagelschere heimlich einen Apfel zu schälen. Aller Ämter sollte er enthoben, aller Ehren ledig sein. Doch es kam gar nicht erst dazu. Er gab sich die Kugel.
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