Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCLXII): Die politische Lüge

10 02 2017
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Seitdem sich die Zellkumpen aus der Ursuppe getraut haben, wurde es eigentlich nicht besser. Die Raubfische der Tiefsee täuschten mit blinkenden Dingern an der Rübe Fresschen vor und schluckten die Interessenten dann lebendig weg, aber anders machen Banken heute auch keine Reklame. Diverse Brutschmarotzer entsorgten ihr Gelege in Nachbars Nest. Aber erst der Hominide schleicht pfeifend ans Säbelzahnzicklein heran, krault es noch einmal am Bärtchen und zieht ihm dann die Steinaxt über die Kalotte. Sobald die evolutionäre Schlacke sich in Horden, Clans und Stämme teilte, wusste sie die Spaltung von Zunge und Tat zu nutzen. Das Talent zur Irreführung wurde zum Herrschaftsinstrument.

Das Dumme an der Lüge ist ja, man muss die Wahrheit kennen, weil sie sonst nichts auslöst. Und selbst da braucht es die feine Abstufung zwischen leiser Flunkerei und plärrender Räuberpistole, um das Heer der Blödkolben zu mobilisieren. Die Renten, schwafelte einst die abgesägte Glatze der Herz-Jesu-Sozialisten, seien sicher. Keiner habe die Absicht, Ehrenwort, eine Mauer, ich wiederhole: mein Ehrenwort, zu bauen. Read my lips. Trallala, da blühen die Landschaften. Inzwischen hat trotz funktionierender Portokasse der kleine Mann auf der Straße, dem die politische Lüge meist gilt, noch keine Segnungen des Fortschritts festgestellt, aber würde er die Wahrheit überhaupt vertragen?

Realpolitik ist letztlich nur das Kaufen von Zeit zu einem schwer verhandelbaren Preis, denn keiner weiß, wann er sich je im eigenen Seemannsgarn verheddert. Dass dabei mit doppelten Standards gearbeitet wird – Sozialismus war böse, die Waffen-SS liegt aber schon so lange zurück, und da waren die bedeutendsten Köpfe Mitglied, denen wir den Wiederaufbau zu verdanken haben – liegt nicht nur daran, dass Staatsräson ohne Machiavellismus nur selten standfest bleibt. Uneingeschränkte Macht ist nur dann zu erreichen, wenn in einem Arbeitsgang auch die Lufthoheit über die angeblich Klugen errungen wird; wird die Luft zu dünn, braucht es wiederum der Gewalt, um die von ethischen Resten befreite Herrschaft zu sichern. Aus einfachem Realitätsdesign schwiemelt sich alsbald die Macht Waffen für den Krieg gegen die Wahrheit.

Erzählt man also dem fluchtwilligen Briten, wöchentlich zahle das Land 350 Millionen Pfund Sterling an die Europäische Union, mit denen das gebrechliche Gesundheitssystem aufgepäppelt werden solle, so wäre diese Heuchelei mit einem kurzen Blick in die Bücher erledigt. Allein es wirft keiner einen Blick in den öffentlichen Haushalt, da es sich um Leimrute in der schlimmsten Form handelt: um das Versprechen, dem Quotengeziefer Geld zu schenken, sogar unter der Voraussetzung, hinfort vernünftig unters Volk zu jubeln, was zuvor dem Altbösen in den Rachen gepfropft ward. Dass die Verwirrung mit pseudomoralischem Anstrich in die Öffentlichkeit tritt, ist nicht neu, sondern wird planmäßig ausgeführt. Wer aber glaubte nicht der Lüge, gereichte sie genau den Richtigen in der Gesellschaft zum Guten?

Der Bettnässer von Braunau hat die Propaganda nicht anders behandelt, und das mit dem Twist, der ihn zum König der Aluhütchenspieler adelte: die Lüge, zumal eine, die den Regelbruch innerhalb der politischen Struktur zur Folge haben würde, per Dekret als konstituierendes Element einer anderen Wahrheit einzusetzen. Indem sie sich gegen alle offensichtlichen Beweise des Gegenteils abdichten, wird ihr Kahn noch nicht wasserdicht, säuft aber langsamer ab. Da mit dem Krieg die Wahrheit als erstes stirbt, ersetzt man sie vorsorglich mit der Alternative zur Wahrheit; sie stabilisiert sich, indem sie sich auf die Dümmsten stützt, die zwischen Lüge und Wahrheit nicht unterscheiden wollen, und aus allerlei Lautsprechern quillt, deren Ausstoß den Tiefstbegabten als wahr gilt, weil er das Leugnen locker übertönt.

Wahrhaftigkeit war nie eine politische Tugend, und noch selten hat sie das Politische oder die Welt verändert. Gefahr für die auf Realitätsverweigerung beruhende Räson jedoch entsteht schneller als das Rettende, wenn sich der staatliche Notstand auf der Grundlage einer moralischen Umwertung der unmoralischen Werte verfestigt. Wie die Gewalt die Wahrheit liquidieren kann, so wird Politik, meist als national borniertes Geschäft verstanden, früher oder später durch die heraufbeschworene Gewalt wieder entfernt, da Blut und Eisen noch nie eine dauerhafte Macht, geschweige denn Koexistenzen gezeitigt haben. Wer Zügellosigkeit und Habsucht in seiner eigenen gründlich verdübelten Restexistenz findet und sie zur Triebfeder des übrigen Mistgabelmobs erklärt, der irrt; nicht der Zweck heiligt die Mittel, die Mittel schlagen beizeiten zurück. Denn keiner, der nur bewundert werden will, wird von denen bewundert, die nur bewundert werden wollen. Derer aber, abgesehen vom destruktiven und ausbeuterischen Rand der Clique, gibt es mehr als genug. Man lügt sie nicht an, und wenn, dann nur einmal.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CXCI): Das Geschummel

12 04 2013
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

In inniger Kameradschaft gingen sie ins Dickicht, Ngg und Rrt, je ein Hominide und ein Speer, um ihre Familien einigermaßen satt zu kriegen an einem verregneten Wochenende in der Mitte des mittleren Mindelglazials. Nach den üblichen Formalitäten eines Jagdausflugs – Besänftigen von Gattin und Sippe, kurze Beschwörung mit Springtanz, Höhlenmalerei für zwei Personen plus Opfer am Grab der Ahnen – hatten die beiden ihre Wurfgeräte ins Grün geschlenzt, wohl wissend, dass sie irgendwo schon stecken bleiben werden. Gemeinsam stolperten sie in Wald hinein, stöberten und suchten, und schließlich fand Ngg die beiden Waffen. Dass des Gefährten Instrument einen kapitalen Keiler perforiert hatte, seine eigener Spieß jedoch nur ein Rotkehlchen an die Baumrinde gepiekt, das ließ sich leicht korrigieren. Man hätte es schon an diesem Tag ahnen können, die Menschheit würde nicht schwindelfrei sein.

Sicher ist das Geschummel, die mildeste Form der Neuinterpretation real existierender Zustände, eine allgegenwärtige Erscheinung. Grützbirnen hocken in den Grundschulen und pinnen in der Mathearbeit vom Nebensitzer ab, beim Blindekuh-Spielen luschert der aufgeweckte Knabe und hofft auf den Wettbewerbsvorteil, und wer würde beim Mikado nicht zufällig niesen müssen. Vorwürfe sind sinnlos, zwecklos, ziellos, denn sie tun es alle, nicht aus Boshaftigkeit, sie sind nur geistig nicht reifer geworden als die Pleistozänprimaten, obzwar sie erkennen müssten, dass sie aus nichtigeren Dingen und also überflüssig die Wirklichkeit verbiegen. Wo es um Brot und Rosen geht, mag man die Meute foppen, doch wer würde plump den Würfel drehen, um noch drei Felder vorzurücken? Dissozial zu sein erweist sich weder im Erfolg der Lüge noch in ihrer Wirksamkeit. Sie leiert die Grenzen aus, doch wo ist der Kläger?

Nun lügt man in selteneren Fällen auch aus reiner Höflichkeit, was kaum das Aufkommen eines Betrugs aus Eigennutz besitzen dürfte; nicht selten schwindeln sich Damen in Erwartung geheuchelter Höflichkeiten das Alter zurecht, stopfen sich Körperpartien aus oder schwiemeln sich andere mit Hilfsmitteln aus Ackerbau und Viehzucht an Stellen, an denen die Anatomie mit ihnen nichts anfangen kann. Der öffentliche Konsens, dass derlei fassadentechnische Manöver zum Allgemeingut der psychologischen Kriegführung wie auch des Paarungsverhaltens zu rechnen sind, er wiegt uns in Sicherheit, weil alle es tun und die Welt sich gleich bleibt, wenn keiner einen nennenswerten Vorteil daraus zieht, wo die Körperoberfläche des Beknackten der Schwerkraft folgt. Interessant ist, dass sämtliche Anwendungen der Täuschung von Balz bis Brettspiel sich nie als solche verstehen würden, denn wer gäbe schon zu, dass er löge, abgesehen von den Kretern.

Allenfalls als Diplomatie hat sich die Heuchelei einen gesellschaftlich relevanten Stellenwert geschaffen, und man braucht sie zur Aufrechterhaltung aller Art von Religion, wobei zu bedenken wäre, dass die Religion in ihrer organisierten Form selbst alles daran zu setzen meint, die Lüge zu stigmatisieren. Sie geht einen Labilitätspakt ein, und zwar mit sich selbst; bedauerlich, dass die Gesellschaft mit in diesen Morast gezogen wird.

Wo immer aus den hinlänglich bekannten Motiven getrickst und getäuscht wird, gibt sich der Bekloppte nur in einem Fall den Anstrich, ein notorischer Schummler zu sein, nämlich da, wo er aus niederer Gesinnung Betrug und Beschiss als bloße Schönfärberei auftischt. Dort, wo der naive Kurzstreckendenker sich die vereinfachte Variante des Seins mit intellektuellem Sperrmüll einrichtet, um nicht zu komplizierte Dinge unter der Kalotte zu transportieren, kommen die kognitiven Querschläger der scheinbar Schuldfreien gar nicht vor. Bunkert der durchschnittliche Arbeitnehmer den Flaum oberhalb der Lohnpfändungsgrenze je in finanztechnisch optimierten Feuchtgebieten? Zockt er sich akademisches Gemüse vor den Namen, um leichter an Tätigkeiten zu gelangen, in denen er nicht mit Erwerbsarbeit belästigt wird? Fädelt er mit Hilfe von Pferd und Gammelfleisch arglistigen Bluff ein, um den Kunden abzuziehen, der dann die Folgen des organisierten Erbrechens zu tragen hat? Wo immer die Mischpoke ertappt wird, sofort wird sie Gründe häkeln, warum ein kleines bisschen Steuerhinterziehung nicht so schlimm ist, weil die Kinder schließlich alle nach Weihnachtsgeschenken auf dem Dachboden gucken.

Die moralischen Grenzwerte bricht man am wirksamsten nieder, indem man sie biegt, bis sie geschmeidig genug sind. Ähnlich wäre es nichts als Wahrlügen, den Mord zu legalisieren, weil man unbedacht auch ein Ungeziefer aus dem Fenster schnipst, und nicht anders hat das Gefolge des Bettnässers aus Braunau dies auch praktiziert. Nicht abzustreiten ist, dass ihre Rechts-Nachfolger es bis heute auf dieselbe Art versuchen. Und es hat sein Gutes, dass sie es einfach nicht aufgeben. Denn je mehr man das Volk belügt, desto eher wird es die Wahrheit verstehen. Auch wenn es vorübergehend zu einem Engpass an Spenderorganen kommen sollte.





Haus der Lüge

14 10 2010

„Schauen Sie sich in aller Ruhe um.“ Doktor Evelinde Rasmussen tippte mit dem Finger auf die Tafel an der Wand. „Hier und da sind die Fahrstühle, dort ist der Reden-Saal, und hier gleich links ist die Garderobe. Legen Sie doch ab.“ Es war etwas nasskalt, so war ich im Mantel gekommen. Rasmussens Vorbereitungsinstitut lag aber auch zu schön in den Weinbergen versteckt, ein schnuckelig kleines Schlösschen mit rosaroter Fassade und vier putzigen Türmchen. Niemand ahnte, dass hier die künftige Elite aus Politik, Wirtschaft und Medien ihre Ausbildung zielsicher genoss. „Die fachexterne Kommunikation – also die Botschaft, die aus der Politik an Nichtpolitiker gerichtet wird – sie krankt zunehmend daran, dass wir keine verlässlichen Strukturen vorfinden.“ Rasmussen zog eine Mappe aus dem Schreibtisch. „Sehen Sie sich nur die Berichterstattung zu diesem Bahnhof an. Oder den CSU-Vorsitzenden. Oder die Sozialgesetzgebung. Lauter mangelhafte Versuche. Das sollte besser klappen. Und das wird besser klappen.“ „Sie haben hier also eine Fachschule für Rhetorik, richtig?“ Sie lächelte. „Nicht ganz. Aber kommen Sie mit in den Kurs. Sie sehen es schon.“

Zwei Dutzend Studierende saßen kerzengerade auf den Stuhlkanten, als wir den Saal betraten. Ein junger, schneidiger Offizierstyp fuchtelte mit dem Zeigestock vor der Tafel herum. „Da die Löhne zu hoch sind, müssen wir sie senken.“ Eine junge Elevin schnickste mit dem Finger und stand auf, um zu antworten. „Da die Vorgängerregierung die Löhne nicht genügend gesenkt hat, sind sie immer noch zu hoch und müssen gesenkt werden.“ Der Magister nickte. „Richtig“, lobte er, „die anderen haben Schuld. Und wenn sie schon einmal etwas richtig gemacht haben, dann war es entweder zu viel oder zu wenig. – Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun.“ Jetzt stieg ein unauffälliger, graumäusiger Schüler aus der letzten Bank schier in die Luft. „Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.“ Der Pädagoge nickte. „So ist’s recht: eine Befindlichkeit, die an sich Folge ist, wie eine Ursache behandeln und ohne Rücksicht auf mögliche Korrelationen sofort Maßnahmen fordern.“ Der Studiosus lief zur Hochform auf. „Und dann die Opfer der Ausgrenzung“, sagte er mit roten Ohren auf, „zu den Tätern der Integration machen.“ Der Lehrer zückte schon seinen Notenkalender; bevor er den Einser eintrug, machte er noch einmal die Probe aufs Exempel. „Und warum nehmen diese Opfer nicht an einer Debatte über Integration teil?“ Die Antwort kam prompt. „Sie nehmen nicht teil und sind deshalb nicht diskursfähig, weil die Deutschen die Debatte ja gar nicht führen wollen.“ „Sie sehen“, sagte Rasmussen nicht ohne einen Anflug von Stolz, „wir bereiten den Nachwuchs praxisnah auf seine Aufgaben vor. Sie werden hervorragende Fachkräfte.“

Der Reden-Saal, ein kleines Auditorium, war angenehm gefüllt. Ein Student übte sich in Großraumrhetorik. „Deutschland ist auf einem guten Weg“, deklamierte er. „Niemals zuvor gab es dank der großen Wirtschaftsleistung eine so sichere und verlässliche Lohn- und Sozialpolitik. Zugleich schickt sich die Bundesrepublik an, in den Punkten Bildung und erneuerbare Energie zum Spitzenreiter in Europa zu werden – allein durch den Ausbau der regenerativen Energien werden wir eine solche Menge an neuen Arbeitsplätzen schaffen, dass wir durch die steigenden Steuereinnahmen…“ „Sagen Sie mal“, fragte ich die Institutsleiterin, „was nehmen denn die? Und was soll das sein? kreative Volksverdummung?“ „Nein, hören Sie doch hin.“ Doktor Rasmussen zog eine Augenbraue mokant in die Höhe. „Sie lügen.“ Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. „Sie lügen? Was habe ich mir darunter vorzustellen?“ „Dass sie die Unwahrheit sagen.“ Ihr Wort klang wie ein Säbelhieb. „Sie üben sich in der Lüge, die man für das politische Geschäft braucht.“

Unterdessen hatten sich mehrere Studentinnen zu uns gesetzt. „Wir lernen hier, ein neues Weltbild zu erschaffen, indem wir die Fantasievorstellungen der Menschen zu einem gemeinsam denkfähigen Gebilde fügen.“ Offenbar glaubte sie schon selbst, was sie mir da erklärte. „Wir üben uns ein in dem flexiblen Umgang mit gefühlten Wahrheiten, mutmaßlichen Statistiken, für wahr genommenen Klischees – wir sagen Ihnen, was Sie hören wollen.“ Ich wies das von mir; die Wahrheit wollte ich hören, auch dann, wenn sie schmerzte, aber nicht vorsätzlich angelogen werden. „Aber ja doch, Sie wollen beschissen werden! Und Sie wissen das auch. Glauben Sie etwa den Wahlversprechen eines Politikers? etwa auch dessen, den Sie hinterher doch wählen?“

Rasmussen zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von meiner Ablehnung. „Natürlich kann das nur so funktionieren. Und Sie wissen selbst, dass die Gesellschaft aus Lügen besteht, größtenteils aus plumpen und unverschämten Lügen. Es ist ein Konglomerat aus immer wieder neu formierten Halb- und Unwahrheiten. Wir bringen den jungen Leuten bei, sich darin zurechtzufinden. Man muss die Lüge systematisieren, dann wird sie zur Wahrheit. Und zur Wirklichkeit.“ „Gut“, wandte ich ein, „die Wirtschaft scheint ein Paralleluniversum aufgebraut zu haben. Das leuchtet mir ein. Aber wozu muss man da so ausgefeilt lügen lernen?“ Sie lächelte wieder. „Denken Sie an das Rechtswesen. Das fußt auch auf einer eigenen Anschauung, die mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Und was meinen Sie, was man braucht, um in die Politik zu gehen oder in die Diplomatie, wo Lüge und Wahrheit schon nicht mehr zu unterscheiden sind?“ Da fiel es mir auf, dass sie Recht hatte. „Sagen Sie jedem seine eigene Lüge. Und hüten Sie sich, alle gemeinsam belügen zu wollen. Denn dann haben Sie schnell eine Einheit gegen sich.“

Kaum war es Mittag, da fing es wieder an zu nieseln. Ich schlüpfte in den Mantel. Doktor Rasmussen reichte mir die Hand. „Haben Sie vielen Dank für Ihren Besuch“, sagte sie. „Sie sollten bald einmal wiederkommen.“ Ich schritt über den feucht knirschenden Kiesweg. Plötzlich hielt ich an. Wie hatte sie das gemeint?





Schüttelfrust

7 06 2010

„Das passt jetzt.“ Schnöfler pfriemelte noch etwas an dem Knopf in meinem Ohr herum. „Wenn das Ding drückt, haben Sie ja immer noch den Vibrator für die Jacke.“ Damit reichte er mir das Kästchen, schmal wie eine Zigarettenschachtel. „Es dürfte drei bis vier Tage reichen mit der Batterie. Und ich habe Sie gewarnt: bringen Sie sich nicht in Gefahr!“ Ich verstaute das Gerät in meiner Anzugtasche.

Bei Trends & Friends herrschte gerade Hochbetrieb. Minnichkeit begrüßte mich flüchtig. „Sie sind wegen dieser Radiosache hier? Dann müsste Frau Schwidarski Bescheid wissen, sie kommt bestimmt gleich herunter.“ Ein paar Marktforscher rannten einige Unternehmensberater über den Haufen. Irgendwo piepste ein mobiles Endgerät. „Bedaure“, sagte Minnichkeit, „die Chefin ist momentan leider nicht im Hause.“ In meiner Jackentasche surrte es. So war das also. Die kleinste Abweichung von der Wahrheit, und schon vibrierte der Ehrlichkeitsseismograf. Bei dieser Erschütterung schien es sich aber um eine Notlüge zu handeln. „Das ist für uns gar kein Problem.“ Der pulsierende Lärm wurde zusehends aufdringlicher. „Nein, im Gegenteil – wir freuen uns darauf!“ Das Ding ratterte. Minnichkeit log gerade wie gedruckt.

„Hi there!“ Maxim, der Reiseleiter, tänzelte um die Ecke. Wie stets trug er einen weißen Anzug, die vergoldete Sonnenbrille lässig ins blondierte Haar geschoben, die Füße in kostbarem italienischem Schuhwerk. „Man kann ja dieses Jahr nur nach Ligurien“, schwafelte er fast empört, „das ist fast so vulgär wie die ganzen Studienräte in der Toskana.“ Ich war verwirrt. „Aber wenn Ligurien nicht mehr angesagt ist, warum fahren Sie dann hin?“ Er winkte ab. „Ach nein, ich meine natürlich Apulien. Das geht ja gar nicht mehr. Völlig überzogen, das wird vielleicht 2015 wieder aktuell. Fahre diesen Sommer nach Brindisi.“ „Das ist doch in Apulien“, korrigierte ich. Maxim nickte. „Natürlich ist das in Apulien. Deshalb fahre ich da doch auch hin. Weil, wenn das 2015 wieder hip wird, kann man da wieder hinfahren, und wenn ich schon hinfahre, wenn es noch nicht wieder hip ist, dann kennen sie mich da schon, wenn ich da hinfahre. Also, wenn es dann wieder hip ist. Verstehen Sie?“ Ich verstand, und ich musste einen Augenblick zu lange auf seine Schuhe geblickt haben. „Hübsch, nicht wahr? Ein Modell von Gianfranco Rinaldini.“ Es sirrte leise. „Die kriegen Sie nur im Store in Mailand.“ Es summte lauter. „Natürlich müssen Sie für so eine limitierte Serie aus feinstem Kalbsleder… sagen Sie mal, haben Sie einen Schlagbohrer in der Tasche?“

Im Fahrstuhl traf ich auf Ernst Pröppelhusen, den inzwischen beförderten Programmdirektor. Sieben neue Folgen für seine preisgekrönte Sendereihe Kochen wie die Azteken hatte ich ihm vor einigen Wochen zukommen lassen. „Großartig“, schwärmte Pröppelhusen, „ich bin ja vollkommen begeistert von Ihrer Schreibe!“ Es schnurrte sich bereits warm unter meinem Anzug. „Natürlich habe ich das Manuskript gleich studiert und äh… was ist denn das für ein Lärm? Egal. Also alles gleich ganz genau gelesen … sagen Sie mal, können Sie das nicht abstellen?“ Ich war irritiert. Umso mehr, als dass der Mechanismus heftig zu flimmern einsetzte, als Pröppelhusen mir versicherte, er wolle mir künftig noch viel häufiger Aufträge für Fernsehserien zukommen lassen. Was sollte ich denn jetzt glauben? Diese Maschine erzeugte bei mir einen Anfall von Schüttelfrust.

Immerhin lotste mich der Apparat sicher durch die Versuchungen der Stadt. Bei der Versicherung des Gemüsehändlers, es handele sich auch ganz bestimmt um hiesigen Spargel, knurrte der Kasten leise. Die Ausführungen des Geflügelzüchters wurden von penetrantem Moskito-Sound untermalt, der um so bedrohlicher anschwoll, je näher der Hühnermann den Freilandeiern kam. Am Bioobst musste ich sogar nur in zehn Meter Abstand vorbeilaufen, damit der Apparillo sein sonores Geräusch in meinem Jackett verbreitete. Erst an der Bratwurstbude hatte der Spuk vorübergehend ein Ende. Fröhlich winkte der dicke Mann mit der herüber und wendete brutzelnde Schinkengriller auf dem Rost. Wahrscheinlich wusste jeder längst, was Sache war.

Hildegard war nur wenige Minuten vor mir nach Hause gekommen. Sie sah erschöpft aus. „Ein furchtbarer Tag“, jammerte sie. „Gut, dass ich zu Hause bin. Heute werde ich unter Garantie keinen Handschlag mehr tun!“ Ich stellte die Einkäufe auf den Küchentisch und setzte Teewasser auf, bevor ich das Fenster öffnete; mild strömte die warme Luft eines Frühsommerabends hinein. Als ich das Wohnzimmer betrat, fiel mir auf, dass Schnöflers Detektor sich immer noch in meiner Jackentasche befand. Ich zog ihn hervor. Intensiv betrachtete ich das kleine, schwarze Kästchen mit der kleinen Vertiefung auf der Unterseite, das fast aussah wie die Fernbedienung des Fernseher, die auf dem Couchtisch lag, denn Hildegard legt sie nach dem Einschalten meist dorthin. Die Kanzlerin schritt ins Bild, ließ ihre Mundwinkel sinken und begann: „Liebe Bundesbürgerinnen, liebe Bundesbürger.“

Doktor Klengel betrachtete sorgfältig den Verband um meinen Kopf und schloss sein Erste-Hilfe-Köfferchen. „Die Schmerztabletten sollten gleich wirken“, teilte der Hausarzt Hildegard mit. „Einmal pro Stunde den Eisbeutel neu füllen. Und natürlich Ruhe, strengste Ruhe! Er hatte ja wirklich Glück, dass er aufs Sofa geflogen ist und nicht ins Bücherregal – schauen Sie, er zittert ja noch am ganzen Körper!“





Schwindelfreiheit

18 07 2009

Es log ein Mann. Er log und log.
Er log, dass sich der Balken bog,
der ihm im Auge steckte.
Er täuschte, schwindelte und leimte,
was noch an Wahrheit in ihm keimte.
Das war’s, was er bezweckte.

Und wie er Unschuld heuchelte
und jede Wahrheit meuchelte,
so fand er Freiheit endlich,
weil er vorm Wahren war gefeit –
er hat sich davon ganz befreit
und log den Rest unkenntlich.

Doch war er frei? Das war mit Fug
und Recht nur Lug und Selbstbetrug.
Er hat sich selbst betrogen
um einen doch zu hohen Preis.
Es lügt nur, wer die Wahrheit weiß.
Und das ist nicht gelogen.





Und nichts als die Wahrheit

29 01 2009

Die Mitglieder der Volksbefreiungsfront hatten alles ganz genau geplant. Sobald sie ihre kleinen Kapseln in die dreihundert deutschen Trinkwasserbecken geworfen hatten, verschwanden sie unauffällig. Diese Gelatinepillen sollten einen Einschnitt in der Geschichte markieren. Ihr Inhalt war teuflisch. Es handelte sich um die Wahrheitsdroge. In einer Konzentration, die bis heute als technisch unmöglich gilt. Aber sie wirkte. Und ihre Wirkung setzte unmittelbar ein.

Als der Moderator im Frühstücksfernsehen die Zuschauer mit „Tach Ihr Sackgesichter, ich und die hässliche Schlampe, die nur hier sitzt, weil sie sich vom Produktionsleiter knallen lässt, werden Euch jetzt durch ein Programm führen, das genau so flach ist wie Ihr!“ begrüßte, hielten es die meisten noch für einen makabren Scherz. Doch das Serum zirkulierte in den Wasserleitungen. Der erste Schluck Morgenkaffee infizierte jeden.

Investmentbanker, die noch rasch Grüntee mit Akazienhonig to go aus dem Automaten gezogen hatten, riefen hektisch Anleger an und warnten vor dem Zeug, das sie ihnen noch tags zuvor angedreht hatten. Die Börse stand kopf. Der DAX sank auf den Nullpunkt. Frankfurt gefror.

Zeitgleich hatte man in der Oberfinanzdirektion gut zu tun. Selbstanzeigen hagelten auf die Beamten ein. Jeder Steuerhinterzieher bekannte reumütig seine Sünden und gab sein Einkommen in voller Höhe an. Die Glocken begannen zu läuten. Deutschland war saniert. Dankgottesdienste füllten die Kirchen bis zum letzten Platz.

In einer jener Andachten beging der Diözesanbischof den folgenschweren Fehler, über Ist die CDU christlich? zu predigen. Man fand bei der eilig anberaumten Haussuchung im bischöflichen Ordinariat unter den losen Dielenbrettern Schriften über Befreiungstheologie. Stapelweise. Der Gottesmann war nicht mehr zu halten. Rom ächzte leise.

Auf der Jahrespressekonferenz verplapperte sich Hartmut Mehdorn. So kam ans Tageslicht, dass er im Auftrag der Autoindustrie seit Jahren hektisch daran arbeitete, die Deutsche Bahn vor die Wand zu fahren. Der Tumult legte sich jedoch rasch. Geahnt hatte man es immer.

Der Kanzlerkandidat gab alles bereitwillig zu. Deutschland sei ihm eigentlich reißpiepenegal, für ihn zähle anderes: erstens sei er mediengeil, zweitens könne man als Kanzler mal so richtig die Puppen tanzen lassen. Die Umfragewerte seiner Partei schossen durch die Decke. Guido Westerwelle erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste mit großen Mengen Leitungswasser beruhigt werden, um vor die Mikrofone zu treten.

Deutschland wurde schlagartig ein Stück weit weniger radikal. So rannten in zahlreichen Bezirken ehemalige Linke den Schreibstellen die Türen ein, um ihre Parteibücher abzugeben. Nur aus Sozialneid hätte man sich überreden lassen, diesem Verein anzugehören. Auf dem Potsdamer Platz kam es zu einer Massenkundgebung, auf der Jugendliche Bomberjacken und Kampfstiefel auszogen und daraus einen Scheiterhaufen errichteten, in dessen Flammen die eine oder andere Reichskriegsflagge und viel Propagandamaterial kokelte. Sprechchöre wie Wir wollen keine Mitläufer mehr sein und Pussies raus aus der NPD schollen gen Himmel. Abends verzeichneten die Nationaldemokraten eine Mitgliederzahl im hohen zweistelligen Bereich.

Im Bundesministerium des Innern schäumte der Behördenleiter. Drohte seinem Staatssekretär mit Entlassung, wenn nicht die Nazis wieder durch Deutschland marschierten. Man könne den Leuten so keine innere Sicherheit mehr verkaufen.

Die Dönerproduktion erlahmte. Auch Leberwurst gab es nicht mehr. Xavier Naidoo erklärte, er selbst fände seine Musik unerträglich.

Die Boulevardpresse griff begierig auf, wie Schmidt und Pocher sich an die Kehle gingen. Pocher nannte Schmidt einen notorischen Langweiler, dem man die Gags dreimal erklären müsse. Der nannte Pocher einen talentfreien Noob, dessen Namen er sich gar nicht erst gemerkt habe. So herrschte milder Friede.

Das Bundesministerium für Gesundheit löste sich selbst auf. In einem Bulletin hieß es, man wolle nicht den nunmehr ausgeglichenen Haushalt mit Milchmädchenrechnungen gleich wieder in Unordnung bringen. Zumal den Krankenversicherten dies Gesundheitssystem nicht länger zuzumuten sei.

Auf einer Kaffeefahrt im Sauerland schockte Wolf-Dieter K. sein Rentnerpublikum mit dem Bekenntnis, die Ginsengextrakt-Ampullen seien wirkungsloser Schund und die 400 Euro dafür zum Fenster rausgeschmissenes Geld. Der Materialwert der Kurpackung liege unter einem Euro, inklusive Karton und Cellophanhülle. Als K. dann auch noch das Raststättenpersonal angriff, den Schonkaffee als traurige Plörre und die Schinkenbrötchen als Sondermüll bezeichnete, drohte ein Eklat. K. beruhigte die Kellner mit Heizdecken, warnte aber zugleich vor deren mangelhafter Verarbeitung.

Nur bei BILD änderte sich nichts. Dort wurden zwar auch alkoholfreie Heißgetränke verzehrt, die Redakteure waren allerdings immun. Für sie waren Lüge und Wahrheit ein und dasselbe.

Die Mitglieder der Volksbefreiungsfront hatten das alles gewusst. Es war genau so gelaufen, wie sie es in ihrem Hauptquartier zuvor geplant hatten. Ein schöner Tag neigte sich seinem Ende zu. Der Tag der Wahrheit.