Gernulf Olzheimer kommentiert (DCLXII): Die Samstagabendfernsehshow

5 05 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Tatsächlich hatte Uga nur zwei Witze, die beide auf seinem halbwegs ausgeprägten Talent beruhten, eine wütende Säbelzahnziege zu imitieren. Wann immer es in der Einsippenhöhle zu Langeweile kam – das Leben im Einklang mit der feindlichen Natur ließ das selten zu – und seine Verwandtschaft sich nicht in Schlummer fliehen konnte, ertrug es das Publikum mit Fassung, denn sie wussten, so selten diese Unterhaltung war, so rasch ging sie vorüber, und schließlich sollten noch lange Winterabende kommen, an denen man sich das heisere Gekrächze des ansonsten wohlgelittenen Jägers wünschte, das hinter seinem Rücken als gedoppelte Parodie wenig Spaß hervorrief. Die Jahre vergingen, die Clowns wurden professionell und fingen an, sich mit Bällen und Torten zu bewerfen, sie tanzen auf dem Seil oder zu unerhörter Musik, rissen Zoten über den Herrscher, und schließlich fanden sie sich in einem kleinen Kasten wieder, der erst auf einem Tischchen Platz hatte, dann in einem monströsen Wohnsarg aus ehern furnierter Eiche eingekachelt war und nun an der Wand hängt, und also auch das Programm: dickleibig, quadrös fugenlos verdengelt, nun aber flach. Aus Moritat und Tanzball, dem bunten Abend der Jugend mit etwas Weltläufigkeit und mondän angelackter Biederkeit wurde die Fernsehshow am Samstagabend, was sie heute nur noch sein kann: ein lebendes Fossil.

Es bewegt sich noch, aber das ist auch alles. Das große Lagerfeuer für die ganze Familie, als es diese nämlich noch gab im medialen Kontext, es wartete pünktlich an der Uhr festgenagelt wie im Kalender Weihnachten und Neujahr, zwanzig Uhr fünfzehn, sobald die Eurovisionsfanfare aus der Wohnstube in die Küche scholl, stapfte die züchtige Hausfrau mit dem Käseigel bewaffnet zum Ort des Geschehens, wo sich engere Verwandtschaft, Hausbesuch und die Nachbarn ohne eigenes Röhrengerät halbrund um versammelt hatten, um die Außenwelt und ihre Allotria in die aus Muff und Kitsch geschwiemelte Geschmacksverkalkung der Wirtschaftswunderjahre zu senden, als man noch nicht das Geld für einen Badeurlaub in Südeuropa hatte, die Länder aber aus anderen historischen Zusammenhängen kannte und gerne wiedersehen wollte. Der letzte Krieg war so gut wie verdrängt, in der Öffentlichkeit hielt brave Verklemmtheit an, im Privaten jedoch riskierten die alten Helden schon wieder eine dicke Lippe, und sei es nur im Unterhaltungsprogramm. Was ein rechter Deutscher war, der überzuckerte seine schunkelnde Schlagertutigkeit mit internationalem Trallala, und sei es nur in Gestalt langsam alternder Herren mit mehr oder weniger gut sitzenden Perücken, die in operettenseliger Schmalzabsonderung die Damen gerade noch so wild machten, dass sie nicht die Scheidung einreichten.

Irgendwann war das alles überstanden, besser wurde nichts. Die Frisuren der jüngeren Generation von Mattscheibenonkeln wurden länger, ab und zu steckte man Radiogesichter in fragwürdige Anzüge, die Kulisse wurde erst poppig, dann pompös, nur die Showtreppe blieb irgendwann weg, damit die mühsam witzelnden Laberlurche direkt durch die Sitzreihen auf den Thron stolzieren konnten, wo sie Hof hielten zwischen allerhand Marketingfiguren, die eh gerade ein neues Buch, einen neuen Film, ein neues Album zu verkaufen hatten, sich allenfalls bis zur Hälfte der Sendung auf dem Sofa fläzten, weil da draußen alles wichtiger war als hier im TV, bis dann der Hubsi aus Bad Gnirbtzschen Buntstifte am Geschmack erkannt hatte und der Großmime Ernst van der Düne im Filmchen mit Senf beschmissen ward und gute Miene zum blöden Spiel machte.

Auch das ist vorbei, moderne Familien haben längst keinen Bock mehr, sich zeitunsouverän ohne Werbepinkelpausen derlei Klamauk reinzustellen, geschweige denn alle in einem Raum vor einem der letzten analog anmutenden Endgeräte einer analog eh auslaufenden Endzeit, in der sich die Mitglieder einer Patchworkveranstaltung kaum noch erbarmen, lineare Wiederholungen ewig gleicher Strickmuster zu verfolgen. Nach jäher Vermehrung von Kanälen und Diensten, nach diversen Krisenphasen in Netz und Wirtschaft kippt der Altersschnitt der freiwillig Zusehenden längst über die Rentengrenze, und kein Schwein will mehr sehen, wie alles castet, datet, ratet, rät, rankt, wettet oder die müdesten Kalauer exhumiert. Wie zäh sich die Glotze gegen VHS, DVD und ähnliche Konservierungsstoffe behauptet hat, ist so beachtlich wie egal, denn wer will seine Freizeit immer in demselben Museum verbringen.

Die Kombination aus talentfreiem Moderatoriat und üppigen Materialschlachten guckt inzwischen zu, wie die junge Generation, also alles unter 50, sich gar nicht erst einen neuen Fernseher anschafft, wenn der alte im Elektrohimmel ist. Ein Monitor mit entsprechender Auflösung reicht aus, um Serien zu bingen oder Nachrichten aus der Mediathek zu lutschen. Kognitiv suboptimierten Beitragszahler geben sich im Mutantenstadl dem Schunkelzwang hin, während rüstige Senioren im Bezahlkanal ihre Altersvorsorge verkloppen. Irgendwo setzt ein C-Promi hundert Euro auf die letzte Quizfrage. Sonst muss er zur Strafe eine wütende Säbelzahnziege imitieren. Wer will das schon sehen.





Realitätsverlust

6 04 2023

„… gefährliche Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben werde. Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer warne alle Eltern vor den Risiken des Lesens, die bereits im frühestens Alter die psychische Gesundheit von…“

„… noch immer verharmlost werde. So sei nach Ansicht des Bertelsmann-Konzerns aus der Politik bisher kein glaubhaftes Konzept zur Verringerung des Lesens im Kindesalter gekommen, das sich mit den Folgen für die emotionale und…“

„… habe sich Stark-Watzinger aus der Debatte heraushalten wollen, da es sich um eine Frage der Bildung handele, die ihren Kompetenzbereich weit übersteige. Außerdem gebe es auch hervorragende Fachbücher über Kernfusion, die sie mit viel…“

„… die Spätfolgen noch gar nicht untersucht worden seien. Spitzer warne vor einem frühzeitigen Umbau des kindlichen Gehirns, das während der entscheidenden Prägungsphase für Buchstaben und Satzzeichen überhaupt noch nicht zugänglich sei, so dass es mit einer posttraumatischen Reaktion auf die Anforderungen der komplexer werdenden…“

„… sich die Ampel auf einem Irrweg befinde, wenn sie die Gefahren des Lesens noch immer verharmlose. Merz verlange vom Bundeskanzler die sofortige Anwendung der Richtlinienkompetenz und eine umfassende Regierungserklärung, um die ungehindert fortschreitende Verrohung der Jugend nicht zu Lasten kommender Generationen als…“

„… die Medienkompetenz in der Schule als interdisziplinäres Fach gefördert werden müsse, wo sie mit den Lehrplänen zu vereinbaren sei. Die Kultusministerkonferenz wolle das Lesen daher keinesfalls einschränken, weise aber darauf hin, dass unter allen Umständen die wirtschaftliche Verwertbarkeit der Schülerinnen und Schüler im…“

„… auch in den Springer-Medien aufgegriffen werde. Der Tenor der jüngst veröffentlichten Studie zum Kommunikationsverhalten von Jugendlichen und Heranwachsenden sei, dass die längerfristige Beschäftigung mit Literatur zu einer signifikant geringer ausgeprägten Toleranz gegenüber der restringierten Sprache mit kürzeren Sätzen und sehr einfachen Botschaften, die nicht über den Horizont einer simpel aufbereiteten…“

„… einen Interessenkonflikt sehe. So halte der Bundesverband Produktion Film und Fernsehen e.V. die bereits in Kitas und Schulen einsetzende Fixierung auf das gedruckte Wort als versteckte Subvention der Buchbranche, die erhebliche Anteile am Taschengeld nicht mehr für den Besuch von Lichtspielhäusern, den Kauf elektronischer Medien oder die Streaminggebühren verfügbar…“

„… dass die Leipziger und die Frankfurter Buchmessen sowie andere kleinere Veranstaltungen von Dealerverbänden ab sofort für Minderjährige gesperrt werden müssten, um ein Anfixen von Kindern zu verhindern. Es müsse nach Ansicht der FDP verhindert werden, dass Kinder nicht mehr mit Autos spielen und stattdessen mit Büchern und…“

„… nicht in allen Punkten zustimme, da die CDU für die bürgerlich-konservative Haltung stehe, die auch in Erziehungsfragen eine Rolle spiele. Als langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen halte Laschet nichts von vorschnellen Verboten, um die geistig-moralische Entfaltung der heranwachsenden Bürgerinnen und Bürger von morgen vorschnell einzugrenzen. Er plädierte für eine straffreie Lektüre der Bibel, die auch ohne Kosten allen Haushalten zur Verfügung gestellt werden solle, um die moralische Unterweisung im Kindesalter auf eine angemessene…“

„… sehe Spitzer bereits einen Realitätsverlust bei den meisten Kindern, die sich mehrere Male mit unterschiedlichen Büchern beschäftigt hätten. Eine überwiegende Anzahl der Probanden unter zehn Jahren habe die Inhalte der Medien als ‚spannend‘ oder ‚lustig‘ bezeichnet, was auf die Wirklichkeit nachweislich nur sehr selten zutreffe und zu einer tiefgreifenden Störung des kognitiven Bewusstseins für eine adäquate Verarbeitung der…“

„… dass die Buchproduktion im Gegensatz zu anderen Medien oft nur das Interesse der Leser an der Verhinderung von Langeweile ausnutze. Eine sozialen Marktwirtschaft dürfe dies nach Meinung des CDU-Vorsitzenden nicht verwerten, um rein ökonomische Motive über die Leitkultur zu…“

„… problematisch werde könne, wenn Kinder in öffentlichen Verkehrsmitteln lesen würden. Für das Bundeskriminalamt seien Taschendienstähle sowie ein Verpassen der Haltestelle, das den Schulbesuch verhindere, eine ernstzunehmende…“

„… vor allem für Mädchen und Frauen Risiken berge. Spitzer fürchte, dass soziale Gegenentwürfe in der Belletristik für bare Münze genommen und als Vorwand für Feminismus, Gendern und andere Abweichungen von der normalen Rolle der…“

„… finde Lindner auch den Umweltaspekt in der öffentlichen Debatte zu wenig repräsentiert. Mit jedem Buch werde Holz verbraucht, dazu werde bei der Papierproduktion viel Chemie verbraucht. Unter diesen Voraussetzungen sei es für die Liberalen nicht logisch, die angeblich so sehr am Klimaschutz interessierte Jugend mit einen Tempolimit zu belohnen, das kaum die Folgen ihres anwachsenden Buchkonsums und der damit verbundenen …“

„… die Kinder- und Jugendkriminalität in den vergangenen Jahresberichten nicht angestiegen sei, so dass das Bundesinnenministerium auf eine viel genauere Aufschlüsselung der Delikte dränge. So sei beispielsweise unter Eigentumsdelikten nicht der Diebstahl von Büchern, Einbruch in öffentliche Büchereien, die vorsätzliche Überschreitung von Leihfristen bei Kinder- und Jugendbüchern aus…“





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXL): Überwachungskapitalismus

11 11 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Früh am Morgen steht der Arbeitnehmer auf und widmet sich der Körperpflege. Sollte der Proband noch nicht Qualität und Quantität seines Schlafs in die elektronische Handfessel eingespeist haben, so bleibt ihm wenigstens dieses kleine Geheimnis. Der Verbrauch an Zahnpasta allerdings, die Intensität seiner Dentalhygiene und das anschließend in die Waage getretene Nettogewicht gibt er freiwillig preis, um diverse Kosmetika günstig und schnell in den Haushalt geliefert zu bekommen. Ein kleiner, nervender Jingle erinnert ihn beim ersten Kontakt mit dem Smartphone daran, dass er schon seit zwei Wochen keine neuen Klamotten geshoppt hat, was für seine Alterskohorte gar nicht statthaft ist – auch deshalb nicht, weil er sonst der regelmäßigen Angebote seines Onlinehändlers verlustig ginge, in der Öffentlichkeit negativ auffiele oder sogar den notwendigen Sozialkredit verlöre, der ihm Zutritt zu angesagten Clubs verschafft. Er ist glücklich, er merkt es nur nicht. Aber vielleicht ist es auch nur diese eigenwillige Definition von Glück, die den Überwachungskapitalismus so kratzig macht.

Der Hominide ist nicht nur das Produkt, das sich unbeirrt selbst verkauft, er lässt sich bereitwillig kapitalisieren und entmündigen, denn die Datenspur determiniert sein Dasein. Wie immer steht am Anfang seiner Tragödie die Unfähigkeit, alleine in einem Zimmer glücklich und genügsam zu leben, da er seine Lieblingsmusik, alle 239.481 Stücke in zufälliger Reihenfolge, unbedingt überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit hören will, auch auf den Plastebömmeln, die ihm einst als Fernsprecher ans Ohr genietet wurden von einer Marketingabteilung auf schlechtem Koks. Wir kommunizieren, wo wir Dinge sehen und nicht sehen, wie selbstverständlich im Trachten, nicht nicht kommunizieren zu können und es auch gar nicht zu wollen. In der gehässigen Antwort, die geheimdienstliche Durchleuchtung sei auch nicht schlimmer als ständiger Verhaltenscheck durch die marktbeherrschenden Konsumschleudern, zeigt sich ein profundes Wissen kapitalistischer Politik, die Überwachen und Strafen von allen Seiten gleichermaßen nutzt, wo die von WLAN, Smart Home, Auto und Gesichtserkennung unsubtil gesammelten Einbrüche in die Privatsphäre in eine gemeinsame Verarbeitung durch die Maschine münden, die uns noch im hintersten Winkel der zivilisierten Welt mit Sonderangeboten und Klatsch zumüllt, damit die Trennlinien zwischen Ich und Markt sanft verschwimmen. Einmal mehr ist Freiheit das, was wir Grützbirnen aushalten müssen – kein Wunder, wir haben uns selbst eingebrockt, was wir als ubiquitäre Verfügbarkeit der Produkte feiern, auch wenn wir nichts mehr verstehen.

Das systematische Abschöpfen aller Daten aus dem Inneren unserer Verbrauchssteuerung liefert Paybackpunkte aus dem Immunsystem, dass auch Schopenhauer stolz wäre, wie wir den freien Willen der Markregulierung übertragen, die uns als Großer Bruder die Sorgen des Daseins abnimmt. Was ist eigentlich an einer übermächtigen Wirtschaft noch Nichtregierungsorganisation? Mit der Frage werden die Objekte einer neoliberalen Ordnung allein in der Wüste aufgestellt, wo sie nicht mehr finden, das an eine Gesellschaft erinnert, und hier lohnt sich dann auch Egoshopping, will moralisches Handeln längst in die Frage nach Besitz verschwiemelt ist.

Aber die Zivilgesellschaft schlägt zurück. Weiß der Algorithmus eventuell früher als wir selbst, ob eins schwanger ist, einen Tumor mit sich durch die Gegend schleift oder eine Sucht – alles, was die Finanzberatung interessiert, auf dem Jobmarkt oder für die Sozialversicherungen relevant wird – kann bereits die biestige Weigerung, irgendeiner Firma das Jagen und Sammeln zu erleichtern, Sand im Getriebe sein. Die Asymmetrie der Konzerne beruht auf ihrer Intransparenz, die erst in die Knie geht, wenn Gerichte sich damit befassen und Ansprüche auf Auskunft, Löschung und Betriebsgeheimnisse einklagbar machen. Auf den Putsch von oben lässt sich nur mit Ungehorsam antworten, nicht zuletzt in einer Ära, die potenziell gewaltsame Konflikte um Sicherheit und Ressourcen heraufbeschwören wird, obwohl das Wachstumsgeseier der Ökonomen auch mit brutalem Entsolidarisierungszwang nicht mehr durchzusetzen ist. Wir wollten die Digitalisierung, also haben wir sie auch bekommen, mitsamt der beidseitigen Öffnung aller Schleusen für Schmutz und Dämlichkeit. Wenn wir den Faschismus wieder als denkbare Alternative ansehen, wird er sich beim nächsten Aufschlag sicher nicht als Faschismus zu erkennen geben; es ist gut möglich, dass er zehn Prozent Rabatt auf die private Krankenversicherung verspricht, wenn wir allen verbliebenen Freunden unsere Lieblingsdroge empfehlen.

Und doch, wir sind gesegnet mit der Ignoranz, die einmal mehr nicht von Bonzen ausgeht, sondern von der heilsamen Beklopptheit der Deppen, die uns in Parlamenten ein Paradies aus Schmierkäse zu schnitzen versprechen, je um je, und es dann doch nicht auf die Reihe kriegen. Die Erlösung ist das Funkloch, ist der bescheuerte Algorithmus, der uns alles zum Kauf vorschlägt, was wir soeben erworben haben. Wenn das künstliche Intelligenz sein soll, was ist dann künstliche Dummheit?





Die Relativität der Zeit

9 11 2022

„So sieht man sich wieder.“ Nun hatte ich schon mehrmals im Funkhaus zu tun gehabt, auch schon mit Siebels, aber noch nie war es ein Ortstermin gewesen. Ein Irrtum? Der TV-Produzent ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er zeigte mir den Brief, der uns beim Pförtner Einlass gewähren sollte: der Programmdirektor selbst hatte uns beordert. Das konnte ja heiter werden.

Zwei Minuten standen wir in der opulent mit Grünpflanzen und billigem Marmor ausstaffierten Halle, bevor der gläserne Aufzug endlich kam. Ich schaute verstohlen nach der Uhr, aber er beruhigte mich. „Wir sind eh eine Stunde zu spät, weil wir neunzig Minuten auf dringende Termine warten müssen, denn irgendetwas ist immer noch viel dringender als eine Besprechung mit Beratern, die nach Stunden abrechnen.“ Wir glitten sachte empor, es klingelte leise, hier war der zwanzigste Stock. Die Türen surrten und öffneten sich, die Dame am Empfang begrüßte uns. „Herr Knobelsdorff ist noch nicht im Hause.“ Siebels seufzte. Immerhin hatte er noch einen Rest von dem billigen Automatenkaffee, den es in der Kantine gab. Wir würden wohl den halben Vormittag mit dem Ausblick auf die Stadt verbringen müssen, bevor wir in der anderen Hälfte den Klagen eines Intendanten lauschen dürften.

Die Mappe auf der Sitzbank sah tatsächlich so aus, als hätte man sie zufällig hier hingelegt. Ich war einen Blick hinein. „Genau das hatte ich schon erwartet“, erklärte Siebels. „Es geht mal wieder um Selbsterfahrungsversuche von Journalisten, die ihre anekdotische Evidenz zur Erkenntnis aufblasen.“ Ich verstand nicht gleich. „Denken Sie jetzt nicht an Enthüllungsstories, die in der Autofabrik spielen, um Rassismus in der Belegschaft, Lohndrückerei oder katastrophalen Arbeitsschutz anzuprangern.“ Langsam begriff ich. „Es geht um das Experiment, sich täglich eine Flasche Schnaps reinzugießen, um sich wie ein Alkoholiker zu fühlen.“ Er nickte. „Mit dem Unterschied, dass sich Ihre Leber nach einer Woche erholt, während der Stoffwechsel eines Suchtkranken nach zehn Jahren mit einer Flasche schon noch mehr genug hat.“ Das Exposé bot dann auch alles auf, was auf anderen Sendern bereits mit wechselndem Erfolg gezeigt worden war: drei Tage wach, eine Woche ohne Internet, zehn Schichten als Industriereiniger im Fleischzerlegebetrieb. Siebels klappte angewidert den Deckel zu.

Ich suchte in den Manteltaschen, fand aber kein Pfefferminzbonbon. Gelangweilte Menschen liefen so langsam wie möglich die Flure entlang, als hätte der Tag noch endlos Zeit. Nicht einmal die Uhr an der Wand tickte hörbar. Vielleicht wurde hier das Rohmaterial für ein neues Testbild aufgezeichnet, das den molekularen Zustand in Nahtodnähe zeigen sollte. Die Empfangsdame telefonierte, offenbar jedoch nicht mit dem Intendanten.

Mit einer nachlässigen Bewegung schlenzte Siebels den Becher in einen Papierkorb. „Ich habe ja damals noch die Anfänge des dokumentarischen Fernsehfilms miterlebt“, knurrte er. „Allerdings hat die Redaktion vor allem auf den dokumentarischen Aspekt bestanden, mit dem Ergebnis, dass wir eine Folge über drei Tage in der Mordkommission nicht zeigen durften.“ „Ging es um Täterwissen oder um Datenschutz?“ Er schüttelte den Kopf. „Die beiden Kommissare haben nur am Schreibtisch gesessen und Akten gelesen.“ Die Zusammenstellung der Themen ließ allerdings ganz anderes erwarten. „Und genau das ist so dumm, dass ich diesen Zirkus schon nicht mehr mitmachen will, obwohl es leicht verdientes Geld ohne anspruchsvolle Arbeit wäre.“

Ich klappte die Liste wieder auf. „Wie oft haben bisher körperlich und geistig einigermaßen fitte Redakteure in einer Fabrik geputzt?“ Siebels grinste schief. „Keine Ahnung, die meisten hier machen mir nicht diesen Eindruck.“ Was jedoch blieb, war der Eindruck, dass es nicht auf die Fabrik ankam. „Ob Sie in einem Bahnhof die Toiletten putzen oder im Schlachthof die Reste von getöteten Tieren mit der Schaufel beseitigen, ist letztlich vollkommen egal, solange die Botschaft, dass miserabel bezahlte Schwerstarbeit einem nicht das Fernsehvergnügen verderben soll, mit dem Mist ausgestrahlt wird.“ „Und der sozialkritische Effekt?“ Er sah mich an wie einen Idioten. Sicher nicht ohne Grund.

Keine Ahnung, warum ich auf die Armbanduhr blickte, schließlich hing die große Uhr direkt über uns. „Zeit“, sagte Siebels. „Denken Sie immer an die Relativität der Zeit.“ „Was hat denn Einstein mit diesem Fernsehmüll zu tun?“ Er runzelte kurz die Stirn. „Wenn Sie ganze zwei Wochen ohne Internet verbringen, werden Sie es überleben, da sie wissen, es geht vorbei.“ Das leuchtete mir ein. „Wenn sich ein Politiker zwei Wochen lang von Regelsätzen der Grundsicherung ernährt, wird er es auch lustig finden und nicht einmal merken, dass er sich von den Kollegen auf einen Kaffee einladen lässt, ohne den Betrag als geldwerten Vorteil abzuziehen – von den Einschränkungen bei Wohnraum, Energie und Mobilität einmal abgesehen.“ Ich begriff. „Dafür fahren Menschen in den Urlaub, um einmal in den ärmsten Ländern der Welt unter unhygienischen Begleitumständen den Sonnenuntergang zu sehen, und sie nennen denselben Dreck malerisch, der im Fleischzerlegebetrieb bei ihnen Brechreiz auslöste.“

Unvermittelt stand Siebels auf. „Wir haben hier nichts mehr verloren, solange sich das Programm nicht ändert.“ „Meinen Sie nicht, man kann solche Formate sinnvoll nutzen?“ Er überlegte nicht lange. „Wir haben eine Kollegin in den Heimwerkermarkt geschickt, als Verkäuferin.“ „Was ist passiert?“ „Sie wurde nie wieder gesehen.“ Und da kam auch schon der Aufzug.





Das muss mal zur Sprache kommen

4 08 2022

„Montag geht nicht. Montag ist ganz schlecht, da sind wir schon bei Drei gegen alle, Donnerstag wäre Ich habe recht!, und dann ist auch schon so ein Sommerinterview mit irgendeinem Grünen, dem müssen wir ideologisch motivierte Lügen vorhalten. Mittwoch wäre okay. Da kommt ein Spielfilm? Das ist mal wieder typisch für Ihren Staatssender, nichts darf man mehr sagen!

Herr Merz hat als wichtigster und führendster Politiker Deutschlands nun wirklich Besseres zu tun, als sich Ihre Programmvorschau durchzulesen, das ist Ihnen hoffentlich klar? Schließlich sind Sie bloß für die politische Propaganda zuständig, Volksaufklärung, wollte ich sagen, und worüber das Land aufgeklärt werden will, das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Sie sollten sich mal lieber Gedanken machen, warum man in diesem Land so gegängelt wird und das Image von Politikern so mies ist. Das hat Herr Merz schon letzte Woche bei Jetzt rede ich gesagt, wenn Sie sich erinnern. Ich weiß, dass das nicht Ihr Sender ist, aber zu einer gesunden Medienvielfalt gehört nun mal, dass die Sender sich einig sind und nicht irgendwelche obskuren Sonderinteressen bedienen. Nehmen Sie sich gefälligst mal ein Beispiel an den anderen Sendern, die sind nämlich noch nicht so gleichgeschaltet wie Ihrer.

Ich möchte Sie nur an die letzte Sendung Das muss mal zur Sprache kommen erinnern, wo Sie ernsthaft behauptet haben, wenn die Mehrheit der deutschen Bevölkerung für ein Tempolimit ist, dann kann das Herr Merz nicht als Einschränkung der Freiheit bezeichnen. Sie sind hier nur der Redakteur, Sie haben die Sendung nicht moderiert, schon klar – um Ausflüchte sind Sie hier in dem kommunistischen Hetzkollektiv ja selten verlegen. Ist ja auch egal, jedenfalls steht es Ihnen einfach nicht an, die Meinung eines so großen deutschen Politikers der CDU, der nämlich fast Bundeskanzler geworden wäre, wenn nicht ein anderer Politiker die Wahl für die Union verloren hätte, als seine persönliche Ansicht zu kritisieren. Haben Sie eventuell mal nachgeschaut, welche Mehrheit sich da für das Tempolimit ausgesprochen hat? waren das möglicherweise Bevölkerungsteile ohne eigenes Auto? Haben da diese linksgrünen Lastenradfetischisten eventuell ein paar Scheinchen liegen lassen, dass Sie sich so rührend um die Abschaffung des Autoverkehrs kümmern? Die Mehrheit der Deutschen kann sogar für ein totales Tempolimit sein, deshalb hat Herr Merz trotzdem recht, weil er immer recht hat, und wer immer recht hat, der hat auch recht, wenn er darin eine Abschaffung der verfassungsmäßig garantierten Freiheiten sieht. Mit Logik haben Sie’s eher nicht so, oder!?

Doch, es ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, wenn Herr Merz seine Ansichten nicht frei äußern darf! Neulich bei Wirtschaft im Blickpunkt, da war plötzlich das Thema nicht relevant, weil es da nur um Wirtschaft ging. Natürlich geht’s da um Wirtschaft, und zwar um die deutschen Autobauer, oder meinen Sie, die haben keine Absatzprobleme, wenn man hier nur noch mit Tempo 30 über die Autobahnen schleichen darf? Das ist strukturelle Diskriminierung, wenn Sie das mit Ihrem limitierten Intellekt kapieren sollten – man wird nicht gleich ausgeladen, weil man dem linksradikalen Publikum mit der Wahrheit nicht mehr zuzumuten ist, man wird für irrelevant erklärt, und das heißt doch, man wird gleich ganz aus dem Diskurs entfernt. Letztlich bedeutet das doch, dass Herr Merz recht hat, sonst würde man ihn eben nicht rausschmeißen!

Möchten Sie uns an dieser Stelle vielleicht noch ein paar Gedanken zum Thema Gendern mit auf den Weg geben? Kultur heute hatte ja angefragt, ob wir uns dazu äußern würden, aber das war eine Diskussion mit einer Wissenschaftlerin, und die reden ja sowieso Sachen, die man mit normaler deutscher Erziehung und gesundem Menschenverstand gar nicht versteht und auch gar nicht verstehen soll. Jedenfalls lassen wir uns da nicht von so einer woken Extremistin vorführen, die außer schwammigen Begrifflichkeiten aus der Soziologie nichts in der Hand hat und vom Sender bezahlt wird, um die Deutschen umzuerziehen. Da werden Sie halt dann auf die Stimme der Vernunft verzichten müssen, die fällt eben der Zensurkultur zum Opfer, oder kann man bei Ihrem Sender schon sagen: Zensurkult?

Sie hätten mal lieber die Sendung von Thema: Deutschland im Programm lassen sollen, statt die Debatte über Denken und Gesellschaft einfach abzusetzen. Dann wüssten jetzt nämlich Sie und die interessierte Bevölkerung, dass es nur zwei Geschlechter gibt! Das ist wissenschaftlicher Fakt, das wollen Sie nur unterdrücken!

Ich sehe das gerade, nächste Woche kommt Franz Hassberg schon aus der Sommerpause zurück? Vielen Dank, aber Herr Sarrazin hatte angefragt, ob er das übernehmen darf, und da wollen wir nicht dazwischengrätschen. So ein bisschen Meinungsvielfalt tut ja manchmal auch ganz gut.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXIX): Listicles

17 06 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Irgendwann muss irgendein Redakteur derart gründlich verschlafen haben, dass der für mittags fällige Einspalter ohne Bild ihn in die Nähe der ordentlichen Kündigung gebracht haben wird – es sah nach purer Arbeitsverweigerung aus, dass er nicht einmal die sommerlochtypischen Causerien ohne Tiefgang oder Geist aus der Rübe zu rattern verstand, wie das von einer routinierten Tippkraft zu erwarten war. Hatte er sonst die wichtigsten Punkte des Beitrags auf den Spiralblock geworfen, um sie dann geschmeidig in Form zu kneten, so waren es diesmal ein paar kryptische Krakel auf der Rückseite der Kopfschmerztablettenschachtel, was mit dem Anlass seiner körperlichen Beschwerden auffällig korrelierte. Statt nun aber in einem kurzen Prozess den Schmodder runterzukloppen, möglichst unkreativ und deshalb wasserdicht, verfiel er auf den Gedanken, die Materialsammlung einfach als Endprodukt zu verkaufen, ohne sich erst einen Text zurechtzuschwiemeln. In einfache Form gepfropft erschien das Zwischending aus Liste und Artikel, kurz: der Listicle.

Wer sich im Online-Journalismus tummelt – oder dort, wo sich alles irgendwie für Journalismus hält, was aus aufgeschaufelten Buchstaben besteht – kennt diese Klickfängerklebestreifen, die meist aus subjektiven Gründen entstehen und gelesen werden, wobei im Gegensatz zum Erzeugnis herkömmlicher Machart der Sachverhalt vernachlässigbar ist. Ob es um die lustigsten Katzenvideos im Internet geht oder um die zehn angesagtesten Hirnerkrankungen, die angebliche Würze der Kürze wird durch allerlei künstliches Gedöns aufgehübscht. Zum einen steht die Frage im Raum, welchen Nutzwert das Elaborat über zwölf Dinge, die eins schon immer über Fußnägel wissen wollte, für den schmerzbefreiten Leser haben sollte, falls er sich überhaupt für derlei Thematik interessieren sollte, zum anderen bleibt im Ungefähren, ob aus dem Müllbeutelinhalt je ein Artikloid hätte entstehen können, den der Textchef ohne Antesten des fabrikneuen Schlagrings hätte durchrutschen lassen.

Die journalistische Hybridsau hat seither nichts an ihrem schlechten Ruf eingebüßt, noch immer ist sie Verbalgerümpel auf Sinnsuche im bodennahen Niveau der Junkerzeugnisse, wie sie als Füllmasse schon im Totholzgewerbe weiße Flächen zwischen der bezahlten Reklame zu stopfen hatten. Was an Aufplusterung für moderne Schreibzwecke in den Hirnplüsch hineingeheimnist wird – Storytelling, Literarizität, Edutainment – ist letztlich nicht mehr als der Versuch, sich einer tiefgründigen Erörterung des Dingsbums an sich auf Elementarschulhöhe zu entledigen, gleichzeitig Haha-Humor anzutäuschen und sich mit der bereits genannten Manier von Widerstand gegen Arbeitsverträge sorgfältig zu disqualifizieren.

Irgendwelchen Schmalz in die weichen Formen suchmaschinenfreundlichen Marketings zu kippen war noch nie Kunst im engeren Sinne; die Nepper, Schlepper, Bauernfänger, die sonst vorwiegend für Drückerkolonnen in aufstrebenden EU-Ostgebieten tätig sind, nutzen den angeblich rechercheintensiv aus dem Sack geknüppelten Krempel, um sich in der Suchmaschine gelenkig nach oben zu schleimen und geistig weniger gesegnete Günstlinge dabei zu beeindrucken. Tatsächlich eignet sich das Stakkato aller fünf Gründe, warum man sofort einen neuen Heizkessel in die Butze schieben sollte, am besten fürs Verkaufsgespräch, nicht aber für ein Blättchen, das überwiegend von Hochhausmietern gelesen wird, die den ganzen Spaß bezahlen dürfen.

Wahrscheinlich existiert schon eine virtuelle Art der Inhaltsvermittlung, die Redaktionen als NFT oder Cyber-Content anbieten: fünf hingerotzte Punkte auf einem Stadtplan, aus denen der geneigte Rezipient sich eine Sightseeing-Tour auswürfeln darf. Die ideale Bikini-Figur in nur sieben Schritten (einer enthält die Adresse eines Fettabsaugers). In zehn leicht fasslichen Schritten Superstar werden. Spätestens hier wird klar, dass die Zehn Gebote so unbeliebt sind, weil sie die Rechenleistung eines durchschnittlichen Hasenhirns überschätzen, das sich nicht einmal wundert, warum Du sollst nicht töten nicht unter den Top 3 steht. Außerdem sind ungerade Zahlen eh attraktiver, was die Strukturierung noch nicht verarbeiteter Daten angeht – bei fünfzig Dingen, die man vor seinem Ableben unbedingt getan haben sollte, wirft der Bekloppte spontan die Flinte ins Korn, weil er noch etwas Besseres zu hat.

Spätestens in ein paar Jahren wird keiner mehr seinen Einkaufszettel von den sieben wichtigsten Kafka-Texten unterscheiden können, es sei denn, die Dinger gehören zu den 25 überflüssigsten Items in der Kohlenstoffwelt, haben sich den Ruf der effektivsten Vergrämungsmethode für Hipster im Netz erarbeitet und führen nur noch ein bisschen Schattendasein, bis die Boomer sie entdecken und endgültig ins Aus katapultieren. Ab dann muss man die elf schönsten Städte der Toskana wieder an den Fingern abzählen, bis irgendjemand etwas Neues entdeckt, um nicht schon wieder Prosa schreiben zu müssen. Dabei gibt es gute Gründe, die für den klassischen Fließtext sprächen. Mindestens fünf.





Gewinnabsicht

19 05 2022

„… mit der Chatkontrolle ein neues Instrument der digitalen Vertrauensbildung einführen werde, mit dem die Europäische Union weitere Fortschritte auf dem Weg der Verbrechensbekämpfung und des…“

„… es der Politik nicht um die Abschaffung der bisher praktizierten Grundrechte gehe. Für die EU stehe der Aufbau vieler neuer Arbeitsplätze in der digitalen Wirtschaft im Vordergrund, die mit der Überwachung sämtlicher…“

„… könne gerade nicht von Generalverdacht der Behörden gegen alle Bürger gesprochen werden, da es sich ja ausdrücklich um verdachtsunabhängige Kontrollen der jeweiligen…“

„… zeige das Beispiel China, dass staatliche Kommunikationskontrolle und wirtschaftlicher Erfolg einander nicht ausschlössen. Die EU habe für die Zukunft eine viel bessere Form gefunden, das Verhalten ihrer Bürger mit einem positiven…“

„… die Nachrichten der Handynutzer ohnehin zum Lesen durch andere erstellt würden. Eine fundamentale Kritik, die nur daraus entstehe, dass die Nachrichten der Handynutzer durch andere gelesen würden, sei daher nicht nur vollkommen unlogisch, sondern auch politisch sehr fragwürdig, so dass man darin eine höchst verdächtige…“

„… diene beispielsweise die automatisierte Fertigung von Strafanzeigen gegen Nutzer zur Senkung der Arbeitsbelastung bei der Polizei. Die Beamten könnten so wieder in Ruhe die Anschrift von Helene Fischer abfragen, Morddrohungen an Rechtsanwältinnen versenden oder sich in…“

„… die Friedenssehnsucht der westlichen Welt tatkräftig unterstützen könne. So sei durch eine größere Geschlossenheit in der Bevölkerung auch das chinesische Verhältnis zu Russland viel besser, was die deutsche Bundesregierung mit erheblicher Unterstützung für den…“

„… dass viele Nutzer ihre Daten bisher den großen Digitalkonzernen wie Google oder Meta anvertraut hätten, ohne dies für eine diktatorisch ausgerichtete Überwachungsstrategie zu halten. Die EU-Behörden seien im Gegensatz zu diesen Firmen nicht nur nicht gewinnorientiert, sie würden ihre Rechtsbrüche auch ohne Gewinnabsicht oder…“

„… es durch Manipulationen durchaus möglich sei, kriminelle Inhalte als nicht verdächtig im Sinne der verwendeten Suchalgorithmen zu erscheinen zu lassen. Zur sukzessiven Verbesserung der KI sei es daher unabdingbar, Strafverfahren gegen völlig unverdächtige Personen zu führen, um mit einer noch genauer arbeitenden Software schließlich irgendwann Ergebnisse zu erzielen, die der jetzt prognostizierten Trefferquote zumindest…“

„… dass der Staat nicht selbst für die Suche nach verdächtigen Inhalten zuständig sei. Durch eine Verlagerung der Verantwortung auf digitale Konzerne könne die EU-Kommission ausschließen, dass sich staatliche Stellen durch Rechtsbrüche oder massive Einschränkungen von Grundrechten im…“

„… sei es technisch durchaus möglich, dass die KI nachträglich Inhalte auf die digitalen Endgeräte der Nutzer kopiere, die eine Strafverfolgung nach sich zögen. Dies müsse aber immer im Verhältnis zum erwünschten Ermittlungserfolg stehen und sei nur für den Kampf gegen Cannabis oder…“

„… würden Anbieter wie Meta oder Google die Verschlüsselung der Nutzerdaten unterlaufen, um die Inhalte ausspähen. Solange der Staat auf der Seite der Bürger sei, könne man sich daher immer auf ein gemeinsames Feindbild arbeiten und es gebe keinen Anlass für eine…“

„… habe man bisher im Verfassungsschutz gute Erfahrungen mit gefälschten Daten gemacht, die sich heute beispielsweise bei der Bekämpfung der Clankriminalität, aber auch unmittelbar vor einer wichtigen Parlamentswahl und der…“

„… werde der normale Bürger von der Suche nach illegalen Inhalten gar nichts merken. Für die EU stehe ein uneingeschränktes Nutzererlebnis im Vordergrund, um die Ermittlungen nicht durch die übermäßige Vorsicht der…“

„… internationale Kooperationen mit IT-Firmen erlaube. Bereits jetzt seien russische Anbieter von Antivirensoftware durch anerkannte Expertise eine marktbeherrschende…“

„… sich falsche Positivtreffer spätestens bei einer ergebnislos verlaufenden Hausdurchsuchung oder nach der Untersuchungshaft zu einem…“

„… sei das Misstrauen der Menschen gegenüber den Digitalkonzerne im Gegensatz zur Ablehnung der staatlichen Pläne vollkommen gerechtfertigt. Die Firmen würden auf gesetzliche Anordnung der EU die Verschlüsselung umgehen, was für den Protest der Nutzer eine optimale…“

„… völlig ausgeschlossen sei, dass durch die Abschaffung der Verschlüsselung Mobiltelefone von den Ermittlungsbehörden ferngesteuert werden könnten. Dem BKA würden dazu nicht nur Personal und Fachkompetenz, sondern auch Erfahrung, finanzielle Mittel und die nötige technische…“

„… dass der Einsatz der Chatkontrolle gegen Missbrauchsdarstellungen unwirksam sei, da die Kriminellen bereits andere Wege zur Verbreitung von illegalen Daten nutzen würden. Für die EU sei dies jedoch nicht erheblich, da sich durch eine zur Serienreife gelangte Technologie auch Straftaten bekämpfen ließen, die heute noch nicht als…“

„… rechtsradikale Chats unter Polizisten oft nicht entdeckt oder gesichert werden könnten. Das Problem werde aber auch die EU-Kommission mit Kontrollmaßnahmen nicht lösen können, da es sich dabei um schwere Eingriffe in die vertrauliche Kommunikation und um einen verfassungsrechtlich unter gar keinen Umständen zu…“





Interdisziplinär

13 04 2022

Sie standen in kleinen Grüppchen zusammen und redeten leise aufeinander ein. Die meisten waren mittelalte, mitteldicke Männer. Nur vereinzelt ging einer von ihnen durch die Halle, blickte ab und zu in einen Schnellhefter oder murmelte vor sich hin. „Wir haben regen Zuspruch“, freute sich Doktor Eckermann. „Das Bildungswesen ist doch gar nicht so schlecht, wenn man es privat betreibt.“

Das viersemestrige Aufbaustudium stand jedem zur Verfügung, hieß es im Informationsfaltblatt. „Worauf baut denn dieses Studium auf?“ Der Chef des Instituts wiegte den Kopf. „Das kommt darauf an, so einfach lässt sich das nicht sagen. Aber wir geben uns im Regelfall mit einem Schulabschluss und einem Aufnahmegespräch zufrieden.“ Ich sah in den Lehrplan. „Sie verlangen eine Menge von den Absolventen“, mutmaßte ich, „auch wenn es sich größtenteils um Theorie handeln dürfte.“ Er nickte. „Das Studium der Expertologie ist neuartig und verspricht große Erfolge, außerdem ist es in der deutschen Bildungslandschaft geradezu großartig integrationsfähig.“ Das verstand ich nicht. „Nun“, lächelte Eckermann, „damit man Ihnen irgendetwas abnimmt, reichen zwar theoretische Kenntnisse, aber doch nicht ohne einen offiziellen Titel.“

Der erste Kandidat stand nun also vor unserem langen Tisch und wartete aufgeregt auf die so lange vorbereitete Zwischenprüfung. „Bitte fangen Sie an“, forderte die Beisitzerin ihn auf. „Wir erwarten einen Vortrag über die deutsche Wirtschaft.“ „Die deutsche Wirtschaft ist natürlich zuallererst die der Bundesrepublik Deutschland“, brach es aus den dicklichen Kahlkopf heraus. „Als rohstoffarmes Land müssen wir deshalb vor allem Subventionen in neue Technologien stecken, die aber nur durch fossile Energieträger…“ Er stockte. Eckermann malte zwei kleine Häkchen auf das Blatt. Offenbar hatte der Prüfling das Thema verstanden und ein paar sehr allgemeine Allgemeinplätze verwendet. „Und?“ Der Dicke sah verwirrt in die Runde. „Die Wirtschaft ist ja so“, mühte er sich, „der Mittelstand ist am wichtigsten für den Umsatz, aber am meisten Geld ist in der Industrie, die deshalb nicht ohne Kleinunternehmen…“ Die Beisitzerin lächelte. Auch der Chef war zufrieden. „Sehen Sie“, flüsterte er, „es geht doch. Damit gehen Sie in der normalen deutschen TV-Talkshow als Profi durch.“

Der nächste Examinand hatte bereits sehr gute Kenntnisse im Einzelhandel, wurde folglich also in Infektionsbiologie geprüft. „Mut zur Lücke“, sagte Doktor Eckermann. „So eine Ausbildung soll ja das Ziel haben, dass auch interdisziplinäre Forschung in die Gesellschaft getragen wird.“ „Ich kann es mir vorstellen“, antwortete ich. „Einen Virologen, der gleichzeitig einen Supermarkt betreiben kann, wird man ja kaum finden.“ Er musste es überhört haben. „Wir haben es bei Grippe vor allem mit Influenza zu tun“, dozierte der junge Mann. „Das heißt, dass die Sekundärinfektionen, und dazu zählen auch die, die erst nach einer Infektion, und das bedeutet dann, dass man nicht an, aber mit Influenza, die aber nur eine normale Grippe ist.“ Die Beisitzerin setzte ein Häkchen nach dem anderen. „Viele Absolventen bekommen gleich nach dem Abschluss attraktive Angebote aus der Wirtschaft“, erklärte Eckermann. „Der hier ist bereits als hoher politischer Beamter für die FDP im Gespräch.“ Er enttäuschte auch in der zweiten Hälfte nicht. „Wenn Gletscherschwund durch die sogenannte Erderwärmung immer nur als Problem betrachtet wird, dann ist das natürlich nur ideologischer Blödsinn, weil wir gleichzeitig daraus grünen Wasserstoff machen können.“ Ich war schwer beeindruckt. „Er soll vorher zweimal aus einem Rhetorikkurs geflogen sein – großartig!“

Ungefähr ein Drittel der Prüfungsgespräche war geschafft. Doktor Eckermann goss sich einen Tee aus der Thermoskanne ein. „Wenn Sie den Lehrplan einmal genau betrachten, fällt Ihnen sofort auf, dass wir keins der üblichen wissenschaftlichen Verfahren zur Theoriebildung bevorzugen.“ Ich sah auf das Faltblatt. „Genauer gesagt, Sie lehren gar nicht erst wissenschaftliches Arbeiten.“ Eckermann nickte. „Wer sich damit gar nicht erst belastet, fällt in der Praxis auch nicht durch vermeintliche Fehler auf.“ Das machte mich stutzig. „Aber heißt das nicht im Umkehrschluss, dass diese Experten einfach nur ein Sammelsurium zusammenhanglosen Wissens in die Öffentlichkeit tragen?“ „Das ist richtig“, bestätigte er. „Aber sehen Sie sich nur mal unsere moderne Kommunikation an, die sozialen Medien – ohne die Experten könnte man das ganze Internet zumachen, vor allem die öffentliche Meinung, Kommentare und Spezialwissen zu aktuellen Themen, über die es einfach noch keine fundierten wissenschaftlichen Analysen gibt.“ Das war natürlich richtig, denn wie sonst sollte man etwa einen gerade erst begonnenen Krieg beurteilen, wenn man darüber in der Schule noch nichts gelernt hatte.

Der nächste Prüfling war schon in den Raum gekommen. Die Beisitzerin legte die Papiere auf den Tisch, der Kandidat räusperte sich noch einmal und wollte beginnen. „Nicht so schnell“, unterbrach Eckermann, „Wir wollten eigentlich erst die Fragen zum Themenkomplex Straßenverkehr und Chemie stellen.“ Der Mann blickte konsterniert zu Boden. „Eigentlich hatte ich mich jetzt nur auf Fußball vorbereitet, und meiner Meinung nach hätte statt Klinsmann damals gleich Lothar Matthäus Trainer werden müssen, dann wären wir 2006 Weltmeister geworden.“ Die Beisitzerin nickte und Eckermann klappte den Aktendeckel zu. „Ja, das kann man gelten lassen. Mehr wissen die anderen auch nicht.“





Showtime

6 04 2022

Ich war früh dran, außer ein paar Bühnenarbeitern sah man noch nichts. Bestimmt würden sie im Laufe des Morgens erst die poppigen Kulissen der letzten Unterhaltungssendung abbauen, jedenfalls erwartete ich das. Doch nichts dergleichen geschah. Sollte ich mich im Studio geirrt haben?

„Immer noch dieselbe Brühe“, knurrte es schräg hinter mir; da war mir klar, dass Siebels mir keinen falschen Standort angegeben hatte. Der große alte Mann der TV-Produktion, oft als graue Eminenz der Mattscheibe bezeichnet, schlenzte den Becher aus dem Handgelenk in den Mülleimer an der Wand. Ohne Automatenkaffee war er nicht zu ertragen, mit aber auch nicht. „Wir sind hier richtig für dies neue Nachrichtenformat?“ Er nickte müde. „Kein Plan, wie man die Subboomer aus dem Chill catcht, aber wir sind on the fly.“ Vielleicht hatte ich mich auch nur verhört, aber die ganze Sache bereitete mir noch immer enorme Schwierigkeiten.

„Ich bin ein bisschen spät“, keuchte der Mann im goldenen Trainingsanzug. „Können wir das Skript bitte noch einmal kurz durchgehen?“ Er hätte Siebels auch um eine Einführung in die Philosophie in tausend Häppchen bitten können, seine Miene sagte: such Dir einen Job, bei dem Du Reißnägel nach Geschmack sortieren kannst. Die Assistentin hieb ihm das Papier in den Bauch. Der Produzent sah mich entschuldigend an. „Wenn man aktuelle Nachrichten auf den Tisch bekommt, kann man auch nicht um eine Stunde Bedenkzeit bitten.“

Stampfende Rhythmen brachen los. Eine Art Feuerwerk im Sparmodus – jeder musste ja seine Stromrechnung im Auge behalten – begleitete die Fanfare aus ein paar Dutzend Synthesizertröten, die den Auftritt von Paolo Tamburini begleiteten, der in Glitzermontur die Treppe hinabstieg. „Aus“, röhrte die Aufnahmeleiterin durch den Lautsprecher. „Ich habe schon viel Mist gesehen, aber das brauche ich wirklich nicht!“ Die Beschallung war bereits weg, die Lichter flackerten noch ein paar Sekunden nach, und schon ging alles wieder von vorne los. „Es ist anscheinend zu einfach“, murmelte Siebels. „Sie sind fürs Affektfernsehen nicht mehr geeignet.“ Doch der blinkende Anchorman tänzelte hüftstark und grinsend auf die Bühne und begrüßte sein imaginäres Publikum. „Meine Damen und Herren“, johlte er, „heute für Sie: Bombenangriffe!“

Hatte ich mich etwa verhört? Siebels warf einen kurzen Blick in den Plan. „Alles gut.“ Vielleicht war ich nicht ganz wach. „Wir sind so weit im Soll, er müsste jetzt nur noch die Übergabe an die da schaffen, die da eben gerade nicht steht.“ Offenbar hatte es auch die Aufnahmeleiterin bemerkt, die nur zögerlich aus ihrem Lehnstuhl aufstehen wollte. „Ich wollte das wirklich nicht sehen.“ Siebels zog unmerklich eine Braue in die Höhe. Ihre Karriere hatte sich für einen anderen Weg entschieden.

Günther Krzyznankowialek, wie der Goldjunge bürgerlich hieß, war die Sache unangenehm. „Sie ist manchmal etwas streng“, lächelte er verzweifelt, „sie versteht ja nicht, worum es hier geht.“ Siebels warf einen Blick auf sein Treatment. „Hauptsache, die Zuschauer verstehen es.“ Tamburini hüpfte die Treppe wieder hinauf, das Studio verdunkelte sich, die blecherne Musik setzte ein. „Heute für Sie: das Klima ist im Arsch!“ Irgendjemand musste etwas ins Leitungswasser gekippt haben, jedenfalls ging das nicht mehr mit rechten Dingen zu. „Regen Sie sich ruhig auf“, sagte Siebels seelenruhig. „Genau das ist ja der gewünschte Effekt.“

Insgesamt sieben Anmoderationen ließ er den armen Mann proben, der schwitzend und verstört auf der Treppe hockte und eine Zigarette rauchte. Die Aufnahmeleiterin hatte schon gar nichts mehr dazu gesagt. Der Kaffeeautomat streikte. „Wir könnten natürlich auch eine gewisse Komik in die Auftritte bringen“, überlegte der Produzent. „Aber das bringt die Stimmung auch schnell zum kippen, wir bewahren uns das als allerletzte Möglichkeit.“ Krzyznankowialek nickte geistesabwesend. Als Krawalldarsteller war er in allerhand Sendungen aufgetreten, aber das war auch für ihn neu. „Ich habe immer das Gefühl, dass das absolut unpassend ist.“ Siebels nickte. „Damit kommen wir der Sache schon mal näher.“ Hatte ich das richtig verstanden? „Natürlich nicht das reine Overacting“, dozierte er, „damit schaffen wir allenfalls kurzfristig ein wenig Aufmerksamkeit, aber hier geht es prinzipiell um Verfremdung.“ Ich begriff. „Die Zuschauer sollen wieder einen Maßstab dafür bekommen, was an den Nachrichten wichtig ist.“ Siebels wiegte den Kopf. „Ja und nein – nicht rein objektiv, wir wollen das Publikum ja auch emotional sensibilisieren.“

Tamburini war die Treppe emporgestiegen. Es wurde dunkel. Musik. Scheinwerfer. Auftritt. „Wieder gibt es neue Opfer unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“, rief der Schauspieler, „und die Deutschen sind in großer Sorge: wird es dieses Jahr zu Ostern ausreichend Plastikmüll zum Einwickeln von Schokoladeneiern geben?“ Die Assistentin sah auf die Aufnahmeleiterin; sie nickte gottergeben und hob den Daumen. Konservenlachen erscholl. Die Nachrichtensprecherin trat in den Lichtkegel neben der Treppe. Siebels war zufrieden. „Wir haben sicherlich nicht alle Antworten, wir stellen aber die richtigen Fragen.“ Tamburini tänzelte um die Sprecherin herum, die keine Miene verzog. Ob sich das Format durchsetzen würde? Vielleicht. Es würde sich nur irgendwann auch abnutzen wie alle anderen Formate, mit denen man das Interesse der gelangweilten Trottel auf dem Sofa gewinnt und wieder verliert. Aber so weit waren wir sicher noch nicht. Noch hatten wir diesen zappelnden Mann in seinem goldenen Trainingsanzug.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCIV): Die Overton-Spirale

4 03 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Kriegsvorbereitungen der antiken Epoche waren dem heutigen Vorgehen nicht unähnlich. In der Propaganda wurden dieselben hohlen Phrasen gedroschen, die Gegner als moralisch minderwertig und schwach, aber immer noch aggressiv genug zur Vernichtung des eigenen Gemeinwesens bezeichnet und mit allerlei Schimpf beschmiert: Langnasen, Schwarzfüße, Stotterer, Weiberknechte, Anbeter der zwar vor einigen Jahrzehnten auch im eigenen Staat verehrten Gottheit, die jetzt aber durch dynastische Verschiebungen nicht mehr statthaft ist. Schritt für Schritt wiegelte man das eigene Volk auf, heizte die Stimmung an, bis der präventive Schlag gegen die verhassten Feinde alternativlos schien. Man kennt diese Maschinerie aus der Fortsetzung der PR mit anderen Mitteln, und wie das Overton-Fenster dient sie zunächst der schleichenden Veränderung des Diskurses. Hat man zunächst das Brudervolk, das als eigene Nation lebte, schlechter Nachbarschaft geziehen, galt es irgendwann als normal, ihnen die Aushöhlung der eigenen staatlichen Souveränität durch pure Existenz vorzuwerfen. Eines Tages wird der Machthaber verkünden, jenseits der Grenze würde die durchschnittliche Bevölkerung Kinder zum Frühstück verspeisen. Die Brüllaffen fühlen sich bestätigt, der Krieg bricht los. Was aber jüngst in vermeintlich diktatorischen Zeiten, fernab von militärischem Vorgehen und Diktatur, in denen nur ein paar billige Dinger vom Aufmerksamkeitsstrich den Bürgerkrieg herbeijodeln wollen, weil sich ihre überflüssige Restexistenz gerade im Selbstmitleid ertränkt hat, die Erkenntnis deformieren soll, ist so subjektiv lächerlich wie objektiv infam.

Die Philosophie des Geistes setzt dummerweise Geist voraus. Das hatte sich in den Niederungen des Kommentariats eh nie herumgesprochen, weshalb die Pyromantiker sich nun am eigenen Feuer die Klöten verkokeln. Kaum noch ein Kolumnist, der in Erwartung des kommenden Rechtsrucks – der aller Paradoxie nach ja im herrschenden linksextremen Mainstream löckt – heiter den Holocaust relativiert, Hakenkreuze als deutsches Volksgut verteidigt oder sich solidarisch mit Hirnschadensympathisanten zeigt, die die Regierung vor den Internationalen Strafgerichtshof zerren wollen, ohne dass einer von den anderen angestachelt die Schraube immer noch weiter dreht, damit noch der letzte Idiot merkt, dass hier der Nachtfrost bleibenden Spuren hinterlassen hat. Natürlich haben sie das alles nicht so gewollt und nicht so gemeint, geben den anderen die Schuld an der notwendigen Selbstviktimisierung, ohne die sie in Stumpfstullenkreisen gar nicht mehr als die Speerspitze der degenerierten Arschgeigen gelten, und nässen sich die Alte-weiße-Männer-Windel ein, ohne die sie ihre tägliche Absonderung nicht für die Nachwelt erhalten würden.

Im Gegensatz zu den hysterischen Knalltüten, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit plärren, dies und das dürfe man ja nicht mehr sagen – was sie dann im Regelfall sagen und dabei sich selbst Lügen strafen – bereitet die Spirale des Schreiens zielgerichtet die Ausweitung der Kampfzone vor, zunächst nur verbal, aber wer die Mentalität rechter Intensivtäter kennt, der weiß, dass das nur eine Art präventiver Feuerschutz ist, sobald die Brandsätze auch real fliegen. Beachtung um jeden Preis ist die Währung, für die diese Blödföhne die zu Wortkotze geronnene Denkschwächelei in Fachperiodika für soziokulturelle Exklusion schwiemeln, damit ihre schenkelklopfenden Schnackbratzen schnell etwas zum Verdauen haben. Wo die Reizüberflutung eh schon die gängigen Einfallstore der Beklopptheit verstopft, müssen die Einschläge härter werden, und schon befinden wir uns in einem Rattenrennen um die absurdeste Stellungnahme zur eigenen Komplettverdeppung. Wir nehmen derlei Schmutz noch ernst, indem wie das Gejammer nach dem Rauswurf aus der Redaktion tatsächlich als Cancel Culture aufwerten, statt den Wunsch nach brauner Nestwärme im Lager der Kackbratzen zu erkennen.

Zur Verteidigung werden Wassersuppenkasper wie die Gewohnheitsskribenten anführen, sie seien ja nur Sprachrohre der Faschisten und würde mit ein paar provokanten Thesen für frischen Wind in der öffentlichen Debatte sorgen. Wonach die Abluft aber stinkt, merkt man schnell, sobald die üblichen Verdächtigen die Verteidigung übernehmen, wenn sich Opfergruppen ohne Erlaubnis des gesunden Volksempfindens angegriffen fühlen. Natürlich, so dröhnt’s aus dem Fußraum traditionsverbundener Blattmachereien, ist es unschön, wenn man diesen Juden immer wieder vorwerfen muss, zu laut gegen den Antisemitismus zu protestieren. Wenn sie jetzt ein bisschen konzilianter sind, hängen wir erst mal nur den Bundeskanzler auf oder die Impfmafia, die Jugendlichen, die die Todesstrafe für Besitz und Fahren eines SUV durchdrücken, und lassen diesen Typen genug Zeit, nach Israel auszuwandern. Bis dahin halten wir Hitler für einen Sozialisten, damit wir alle, die dagegen einschreiten, zu Kommunisten erklären können. Man muss schon ein degoutanter Schmock sein, um sich sein Publikum in diesem Faulschlamm zu erwinseln. Oder ein alternder Alki in der Privatinsolvenz. Natürlich ist das schlimm, aber das wird man ja wohl noch sagen dürfen.