Bis der Arzt kommt

16 08 2012

„Oh, sehr gut, sehr gut.“ Ich knöpfte das Hemd wieder zu. Hildegard sollte damit vollständig befriedigt sein. „Sehr gut“, befand Doktor Klengel und setzte das Stethoskop ab. „Es war ja nur ein kleiner Reizhusten. Etwas frische Luft, ein paar Lutschpastillen, Salbeitee, dann geht’s schon.“ Er setzte sich an seinen Schreibtisch und notierte ein paar Zeilen auf dem Pappkärtchen. Plötzlich riss der Hausarzt die Augen auf und stöhnte. „Das ist mein Ende.“ Mutlos ließ er den Kugelschreiber sinken. „Jetzt muss ich diesen Mann wieder eine ganze Stunde lang ertragen.“ „Ihr Steuerberater?“ „Schlimmer“, seufzte Klengel, „der Medizinbetrieb hat wieder einen von seinen Heizdeckenverkäufern für heute Vormittag angekündigt.“

„Nehmen Sie Platz“, wies ich den jungen Mann mit der adretten Frisur an. „Wie sind Sie denn auf meine Praxis gekommen?“ „Der hohe Anteil an Privatpatienten ist in diesem Viertel angenehm“, bekannte er, „außerdem bekommt man hier einen Parkplatz, weil das Haus in der Seitenstraße liegt.“ Ich rümpfte die Nase. „Zunächst einmal bedeuten Privatpatienten, dass man als Arzt den Honoraren nachlaufen muss, und dann überlegen sich die Leute auch immer mehr, welche Zusatzleistungen sie überhaupt noch brauchen. Wenn ich mir ein Auto kaufe, will ich ja auch nicht den ganzen Schnickschnack mit Rallyestreifen, Außenventilator und blinkenden Sportfelgen.“ „Und genau da“, tönte er, indem er eingeübt lässig seine Mappe aufschlug, „genau da setzt unser Unternehmen an – zielgenau, passgenau, auf den Punkt.“

Sie hatten offenbar gerade ihr Sortiment neu bestückt; bunte Bilder fröhlicher Senioren beim Besteigen von Ultraschall- und ähnlichen Röhren wechselten sich ab mit sinnlosen Leistungstests für olympische Wettbewerbe, wahlweise an werdenden Müttern oder frisch geschlüpften Säuglingen zu verrichten. „Sie machen bei den Zusatzleistungen einen hübschen Schnitt“, säuselte der Vertreter. „Sie können das als Paket anbieten, als individuelle…“ „Moment“, unterbrach ich, „nicht so schnell. Erst einmal wüsste ich gerne, worüber wir hier reden. Was biete ich den Patienten an, und vor allem, was bekomme ich dafür von Ihnen?“ Er lachte. „Sie haben das Prinzip verstanden. Keine Leistung ohne Gegenleistung.“ Ich wiegte mich genüsslich in meinem gepolsterten Ledersessel. „Sehen Sie es als Unterstützung für Ihre Bemühungen. Gegenleistung muss sich wieder lohnen.“ Tatsächlich verfügte die Firma über einige Kleinigkeiten. „Als Basisprämie haben wir diese hübsche Gesamtausgabe von Sigmund Freuds in Leder mit Goldschnitt. Als kleine Anerkennung, dass Sie sich an unserem Programm beteiligen. Und dann müssten wir mal sehen, wie wir das abrechnen.“

Wir begannen mit dem Lungenfunktionstest für Sportler, Ohrakupunktur und einer unspezifischen Hyposensibilisierung. „Einfach zu machen“, klärte der Verkäufer mich auf, „Sie testen am Patienten einfach etwas herum, bis Sie gefunden haben, wonach Sie eigentlich hatten suchen wollen.“ „Und das bringt?“ Er suchte angestrengt in einer Liste. „Für zehn Ohrakupunkturen wäre das eine formschöne…“ „Nichts da“, fiel ich ein. „Ich arbeite doch nicht für Kleckerbeträge!“ „Sie können das anrechnen lassen. Zehnmal Akupunktur sind dann einmal Ultraschall.“ „Und das macht in Doppler-Sonographie wie viel?“ Er begann zu schwitzen. „Sie müssten entweder einmal im Monat eine fehlenden Hirndurchblutung haben oder aber dreizehn, nein: fünfzehn Ganzkörperakupunkturen.“ „Zu viel Aufwand.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn finster an. Es ist auch manchmal direkt unverschämt, was man sich mit uns Ärzten erlaubt.

„Selbstverständlich haben wir auch ein ganz ausgeklügeltes Bonus-System“, beeilte sich der Referent. „Ab drei Belastungs-EKGs am Tag plus je einer Ohrakupunktur und Hormonstatus können Sie für jede Untersuchung zehn Punkte extra anrechnen lassen, das sind dann dreizehn…“ „Sagen wir fünfzehn?“ „… meinetwegen fünfzehn, und je eine Akupunktur, macht dreihundert Punkte, das sind dann pro Quartal…“ Langsam ärgerte mich seine zögerliche Art; hatte der Mann nie gelernt, beherzt im rechten Augenblick zuzupacken? „Rechnen Sie es doch bitte gleich auf das ganze Geschäftsjahr aus, ich muss auch langfristig kalkulieren können.“

Es sollte sich gelohnt haben. Nach endlosen Rechenoperationen verkündete er mir, das ich bei einer zusätzlichen Brustkrebsfrüherkennung pro Woche – Einführungsangebot für Jugendliche, männliche Patienten und Notfälle mit sieben Prozent Preisnachlass – bereits die sechswöchige Karibik-Kreuzfahrt für zwei Personen sicher hatte. „Plus Thrombophilieprofil, das ist unser neues Produkt, und wir geben besondere Anreize, deshalb verschreiben es unsere Partnerpraxen besonders gerne. Fünfzig Punkte extra, das macht dann in Ohrakupunkturen fünfzehn, nein – “

„Widerlich!“ Doktor Klengel kroch unter der Liege hervor und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen. „Was für ein widerlicher Mensch – sich auf so ein Geschacher mit Ihnen einzulassen!“ Ich reichte ihm seinen Kittel. „Sie sehen, das System verlangt von uns einige Opfer. Wir müssen alle ein bisschen mehr leisten, um über die Runden zu kommen.“ „Sie wissen genau, dass ich seekrank werde!“ Der Arzt zog sich umständlich den weißen Kittel wieder an. „Und ich wüsste auch gar nicht, mit wem ich die Kreuzfahrt unternehmen sollte. Mit meiner Schwester? Das hätten wir uns genauso gut sparen können!“ Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Ach was“, gab ich zurück, „sehen Sie es mal positiv. Den ganzen Sigmund Freud in Goldschnitt, ist das nichts? Vorausgesetzt…“ Er runzelte die Stirn. „Vorausgesetzt, was?“ „Vorausgesetzt, Sie lassen Ihre Patienten hübsch in Ruhe.“





Ärzte ohne Grenzen

11 11 2009

„Lassen Sie nur, er ist mein Begleiter.“ Der bullige Türsteher ließ uns passieren. „Jetzt ganz unauffällig dreinschauen“, wisperte Doktor Klengel mir zu, „und denken Sie daran: Sie sind Doktor Rübele aus Potsdam.“ Ich tastete nach dem Schildchen in der Anzugtasche. Nichts konnte mehr schief gehen. Ich war tatsächlich auf dem Ärztekongress.

Die Lachshäppchen waren angenehm groß, aber unangenehm trocken. Dafür mangelte es nicht an lauwarmem Champagner. Klengel stieß mich an. „Der Vortrag geht gleich los, kommen Sie.“ Der Saal füllte sich schnell. „Der erste Referent ist ein Seuchenspezialist“, informierte mein Hausarzt. Unter schütterem Applaus betrat der Pestilenz-Professor die Bühne. „Wir stehen vor einer gewaltigen Katastrophe“, hub er an, „vor einer entsetzlichen Tragödie von, lassen Sie es mich beim Namen nennen, biblischem Ausmaß!“ Ein Raunen schlich durch den Raum. „Die Schweinegrippe ist eine furchtbare Prüfung, eine Plage, die wir, lassen Sie mich das aussprechen, alle durchstehen müssen. Sie wird sehr viel Kraft, ja, lassen Sie…“ „Was redet der Mann da eigentlich“, flüsterte ich, „die Grippewelle hat doch noch nicht einmal begonnen.“ „Er ja auch noch nicht“, kicherte Klengel. Ich begriff, als der Redner endlich auf den Punkt kam. „Lassen Sie mich das Schreckliche in aller Deutlichkeit zur Sprache bringen – kein Mensch glaubt an die Schweinegrippe!“

Man meinte, die versammelte Ärzteschaft in namenloser Erschütterung zu erleben. Unaufhörlich bohrte der Virenapostel weiter in der Wunde. „Wir haben nur wenige Mittel, nur begrenzte Ressourcen, um dieser Lage Herr zu werden. Wir müssen die Menschen aufklären.“ Tosender Applaus erscholl. „Wir müssen den Patienten klarmachen, dass die Chance, an der Neuen Grippe zu versterben, so hoch ist, wie von einem Hund gebissen zu werden!“ Ich räusperte mich. „Das ist Unfug“, widersprach ich, „woher hat dieser Mann die Zahlen?“ Klengel belehrte mich umgehend; er hatte den Artikel in der Fachzeitschrift gelesen. „Statistik, mein Lieber, reine Statistik. Die Zahl der Schweinegrippetoten, hochgerechnet auf zehn Jahre, ist annähernd so groß wie die der Hundebissopfer in Hessen im dritten Quartal 1983.“ „Das ist doch Quacksalberei! Würden Sie das Ihren Patienten sagen?“ Er zuckte die Schultern. „Die meisten fragen ja nicht nach.“

Das Pandämonium ging weiter. „Mittlerweile ist es so weit, lassen Sie mich das so ausdrücken, dass die Menschen sich immer und überall die Hände waschen. Sie verwenden Desinfektionsmittel! Flüssige Seife!“ Das Stöhnen der Medizinmänner richtete meine Nackenhaare auf. „Papierhandtücher und Mundschutz“, fuhr der Infektionsprophet fort, „Körperhygiene – doch keiner weiß, ob es nicht wirklich alles noch viel schlimmer als schlimm sein wird oder vielleicht noch viel schlimmer! Die Menschen müssen endlich begreifen, dass diese abscheuliche Krankheit von derart exorbitanter Entsetzlichkeit sein könnte, dass in diesem Fall die Hygienemaßnahmen völlig überflüssig wären. Und da wir ja auf das Schlimmste vorbereitet sind…“ Der Rest ging in aufbrandendem Beifall unter.

„Sagen Sie mal“, wandte ich mich an Doktor Klengel, „wer bezahlt eigentlich dies pandemische Panoptikum? Die Krankenkassen oder der Ärztebund?“ „Wo denken Sie hin?“ Er fächelte sich mit dem Programmheft abgestandene Luft zu. „Die Pharmakonzerne natürlich.“ „Ich dachte, dies sei ein medizinischer Fachkongress?“ Klengel nickte. „Ist es ja auch.“ „Aber ich komme mir hier vor wie auf einer Kaffeefahrt mit Heizdeckenpropaganda.“ „Keinesfalls“, entgegnete er, „auf der Kaffeefahrt sollen Sie die Heizdecken kaufen, um keinen Ärger zu bekommen. Hier sollen Sie sie verkaufen.“ Ich schluckte trocken.

Der Grippegreifer holte zum entscheidenden Schlag aus. „Und deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir lückenlos, müssen wir umfassend, lassen Sie mich das jetzt hier in aller Entschiedenheit sagen, darum müssen wir die Verdachtsfälle schonungslos dokumentieren, um überall im Land das richtige Bewusstsein für ein sich entwickelndes Gefahrenpotenzial zu schaffen!“ „Ich begreife es nicht“, murmelte ich, „sie klatschen und merken nicht, dass eine Massenhysterie geplant werden soll.“ „Aber das ist doch nicht unser Part.“ Klengel stimmte in den Schlussapplaus ein. „Das richtete sich an die anwesenden Medienvertreter.“

Wir verließen den Saal. Noch immer klemmte das Schild, das mich als Doktor Gotthold Rübele auszeichnete, an meinem Revers. Hier und da traf mich ein freundliches Nicken. Offenbar war mein Name ein Begriff. Ich war irritiert. „Wer bin ich eigentlich?“ „Sie haben einige Sachen über den Rechtsschenkelblock publiziert“, belehrte mich der echte Arzt an meiner Seite, „und sind folglich ein Kardiologe.“ „Was ist das genau?“ „Ein kleiner Zacken, den man im Elektrokardiogramm sieht. Er tut nichts, oft ist keine Ursache festzustellen, und infolgedessen braucht man dafür keine Therapie. Eine nutzlose Krankheit, gewissermaßen.“ Ich blickte ihn bissig an. „Es klingt, als litte das Gesundheitswesen daran.“

„Mein lieber Rübele!“ Der Pharmarodeur eilte auf uns zu. Mir wurde schwarz vor Augen. „Ihre Abhandlung über arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie – fabelhaft! Sie sind ein großartiger Diagnostiker!“ Geschmeichelt schüttelte ich ihm die Hand. Doch da konnte ich nicht widerstehen. „Und, lassen Sie sich auch impfen?“ Er tippte sich an die Stirn. „Ich? Impfen? Bin ich denn bescheuert?“