Der Winter hatte Deutschland fest im Griff. Schneewehen fegten übers Glatteis, hier und da fuhren Zeitarbeitsfirmen mit der kompletten Belegschaft Schlitten, manche munkelten sogar etwas von sozialer Kälte. Ursula von der Leyen nagte an ihrem Kugelschreiber und zerbrach sich den Kopf. Wo sollte das alles noch hinführen? Würde es ihr gelingen, eine Klimakatastrophe abzuwenden und das wichtigste Ziel der christlich-liberalen Koalition: ein gutes Wirtschaftsklima zu erreichen? Die Ministerin grübelte lange, da fiel ihr die Lösung ein. Hei, wie war doch Regieren leicht, wenn man sich auf seine Kernkompetenzen verließ!
Gleich anderntags verkündeten die Zeitungen den Erlass aus dem Arbeitsministerium: Hartz IV müsse weg, so schnell wie möglich. Man habe da einen schweren Fehler begangen, schlimmer noch: man habe den Dingen ihren Lauf gelassen, nur zugesehen, nicht eingegriffen, die Entwicklung wider besseres Wissen nicht gestoppt, sondern eher noch verschärft – man habe die Falschen für Fehler und Versagen verantwortlich gemacht, Unschuldige bestraft, schließlich das Ansehen Deutschlands im Ausland so schwer geschädigt, dass man die Folgen für die internationalen Beziehungen noch gar nicht absehen könne. Hartz IV sei nach allem, was gewesen sei, nur als Irrweg zu bezeichnen.
Wer das BMAS-Bulletin gelesen hatte, wusste, es handelte sich um den Namen. Nur darum.
Natürlich war man in der Wilhelmstraße auf Nachfragen gut vorbereitet und freute sich auf die Pressekonferenz. Eine bessere Sprachregelung, so die Ministerin, sei geeignet, das Wirtschaftklima in Deutschland endlich angenehm zu gestalten. Die Frage eines niederländischen Journalisten, wem die Annehmlichkeiten denn gelten sollten, beantwortete von der Leyen mit der Auskunft, sie vertraue auf sich selbst, da sie ja auf sich selbst vertraue.
Erste Irritationen traten auf, als in den ARGEn einige Leistungsempfänger nach stundenlangem Schlangestehen herausgeworfen wurden. Sie hatten den ab sofort verbotenen Begriff ausgesprochen und arbeitsmarktpolitische Wachstumshoffnungen damit nicht ausgehebelt, aber doch verletzt. Auf einer nordrhein-westfälischen Kaffeefahrt gab die Ministerin ihrer Überzeugung Ausdruck, dass sich das Bild der Bevölkerung durch einen neuen Namen zum Besseren wenden könne. Man müsse vor allem die armen Kinder im Auge behalten, die sich ausgegrenzt fühlten, wenn sie den anderen Kita-Insassen erzählten, Papa sei ein Hartz IV.
Kaum eine Woche verging, der Gesetzesentwurf lag dem Kabinett vor und wurde eifrig diskutiert. Kristina Köhler, die noch genug von der Amtsvorgängerin aufzuarbeiten hatte, meldete neue Begehrlichkeiten an. Gerade für gewisse Senioren sei es ratsam, auch die Jugend in einem anderen Licht zu sehen; Rentenkürzungen seien mit den Pflichtbezeichnungen Maid und Bursche besser zu verkraften, die obligate Pluralform Jungens gebe sogar heimelige Wärme. Von der Leyen mahnte einen achtsamen und wachen Umgang miteinander an; der Boykotthetze der jungen Generation könne man derzeit mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnen.
Die Junge Union Paderborn fragte an, ob man im Zuge der neuen Kommunikationstransparenz nicht Homosexuelle wieder als Schwuchteln, Schwarzafrikaner als Bimbos und die Ehe mit nicht katholischen Frauen als Rassenschande bezeichnen dürfe. Die christliche Partei lehnte Stellungnahmen vor Jürgen Rüttgers Wahlsieg allerdings ab. Im Gegenzug biss die Bürgerinitiative auf Granit, die per Petition anregte, Korruption statt Parteispende, Schmiergeld für Reiche statt Kopfpauschale und Krieg statt Militäreinsatz zu sagen. Immerhin stellte die Kanzlerin eine gemeinsame Lösung in Aussicht. Mehrere Hersteller erwogen den Rückzug vom deutschen Schokoriegelmarkt, um langwierigen Rechtsstreitigkeiten wegen der ständig wechselnden Markennamen zu entkommen.
Beobachter monierten, zwar sei der Begriff Hartz IV nicht mehr gestattet, es mangele aber an Gegenvorschlägen. Die Ministerin ließ ausrichten, sie wisse, wie Gesetze gemacht würden. Das hatte nichts mit der Frage zu tun, fiel aber im Qualitätsjournalismus nicht weiter auf.
Doch wie nun weiter? Sprachforscher der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main äußerten sich pikiert, Hartz IV stehe überhaupt nicht zur Debatte; die Rechtsgrundlage heiße Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die daraus entstehende Sozialleistung Arbeitslosengeld II oder Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die nach dem rechtskräftig verurteilten Straftäter Peter Hartz benannte Hilfe zum Lebensunterhalt sei hingegen reine Schöpfung des Volkes und ein Maulkorb nichts weiter als Sprachlenkung.
Von der Leyen hatte nicht gleich geschaltet, aber dann begriff sie es doch. So einfach ließ sich das gesunde Volksempfinden nicht durchsetzen. Wieder musste sie in sich gehen und fand einen kleinen Wink, als sie mit der Kinderschar lustig Verstecken spielte: wenn man ganz fest die Augen zumacht, sind alle anderen plötzlich weg. Schnell beschloss sie, einen Kreativwettbewerb im Ministerium auszuschreiben, um ihren Einfall als fremden Geistesblitz verkaufen zu können. Doch die Zweifel blieben. Und würde Roland Koch seinen Namen wirklich dafür hergeben?
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