Mief

17 11 2021

„Gucken Sie mal eben nach, ob der noch lebt, und wenn er noch nicht tot ist, dann fragen Sie mal, ob er auftreten kann. Aha. Seit wann? Dann hat sich das wohl erledigt. Müssen wir die nächste Sendung mit Gottschalk irgendwie anders hinkriegen.

Sie wundern sich vielleicht, wo wir den ganzen alten Kram her haben, wir wundern uns, dass das jetzt erst wieder jemand haben will. Die Schlager aus den letzten zwanzig Jahren, das macht doch Zahnschmerzen, wenn man nur daran denkt. Die aus den Siebzigern, die wollen die Leute hören. Die meisten sind inzwischen ja längst in den Siebzigern, Gottschalk auch, da fällt das dann nicht so auf, und die ganzen Hupfdohlen sowieso. Vermutlich eine Art Regression, dass die Leute sich wieder jung vorkommen wollen. Innere Konflikte, Klimawandel oder Alte-weiße-Männer-Mimimi, keine Ahnung. Wir beraten ja nur, aber wir haben hier Dutzende von Anfragen, ob wir die Uhr nicht zurückdrehen können, bis wohin und für wie lange. Geld spielt da offenbar keine Rolle.

Hier, dieser andere Typ, der mal die Sendung mit dem Dings gemacht hat, tritt der noch auf? Aha. Und nach so einem Schlaganfall kann man nicht mehr moderieren? Ich meine ja nur. Wie gesagt, an der Gage soll’s nicht scheitern, aber der kann nicht mehr sprechen? Nee, kann man nicht machen. Das gibt nur negative Vibes. Dann lieber noch mal den Eumel, der bei der Rateshow immer so genuschelt hat, den konnte auch keiner ausstehen, aber der ist wenigstens noch nicht tot. Oder sieht nicht tot aus, so genau kommt es ja heute nicht mehr darauf an. Die Leichen werden halt auch immer jünger.

Wenn wir Schäuble da reinrollen, wäre das okay? Der verbreitet zuverlässig schlechte Laune, man erinnert sich sofort an die CDU-Spendenaffäre, das wäre eine großartige Besetzung. Rufen Sie den ruhig mal an, für Geld macht der alles. Vielleicht kriegen wir den sogar für eine Ratesendung, zehn braune Briefumschläge, und er muss rauskriegen, welcher in seinem Schreibtisch gelegen hat. Das ist super, schreiben Sie das mal gleich auf. Wir warten noch ein paar Jahre, bis Spahn und seine Pappnasen in der Versenkung verschwunden sind, und dann machen wir mit dem eine Rateshow – ‚Wer wird Millionär‘. Doofe Frage, Spahn natürlich.

Im Grunde könnte man heute schon die Fragen schreiben, vielleicht erinnert sich in dreißig Jahren keine Sau mehr an diese Arschgeigen, weil sie irgendwann in den Klimawirren gewaltig aufs Dach gekriegt haben. Wenn wir diesen Carpendale jetzt aus dem Verkehr ziehen könnten, hätten wir auch gleich den passenden Sänger. Der macht immer mal wieder eine Abschiedstour, dann gibt es Abschied vom Abschied, dann Abschied vom Abschied vom Abschied, und so weiter, und wenn wir den auf die Schnelle ausstopfen oder einfrieren, dann läuft die Sache. Den Schmodder können Sie auch noch in fünfzig Jahren singen, das fällt nicht auf.

Der Witz ist ja, selbst dieser ganze Retrokram ist nicht neu. Alles schon mal da gewesen, und viel schlimmer als jetzt. Vor hundert Jahren, da mussten Sie sich nur irgendwo auf eine Bühne stellen und greinen: ‚Unter dem Kaiser hätte es das aber nicht gegeben!‘ Wenn Sie Nazi sind, erzählen Sie halt irgendwas mit dem Führer, DDR kommt im Osten auch gut an, ansonsten war früher grundsätzlich alles besser. Wahrscheinlich war vor fünfzig Jahren das Internet schneller oder im Sommer war es nicht so warm, aber es gab noch die D-Mark, die Mauer und die Sowjetunion, Sendeschluss im Fernsehen und zwei Sorten Brause und Magnetseife und ein Sandmännchen Ost und ein Sandmännchen West, und heute kann man mit dem Frauenbild der Fünfziger noch locker Karriere in der deutschen Bundespolitik machen. Das ist wie Toast Hawaii, irgendwann kommt alles wieder. War damals schon scheiße, aber jetzt will das keiner zugeben.

Schreiben Sie mal auf: Rechercheprojekt über ersten Jahre nach Merkel. Was haben die Leute da gedacht, gesehen, gehört, Mode, Musik, Zeitgeist, der ganze Mief halt, den wir in den nächsten zehn bis dreißig Jahren verdrängen. So als Zeitkapsel. Das könnte man jetzt schon als Sendereihe planen, mit O-Tönen und Kommentaren, und wenn wir Glück haben, können wir dann die Originale mit ihren Kommentaren von heute, also dann: von damals, konfrontieren. Gut, ist jetzt auch irgendwie dialektisch, aber ich glaube nicht, dass in dreißig Jahren noch irgendwer diesen Ansatz intellektuell nachvollziehen kann, also hoffen wir mal, dass es dann noch irgendwie witzig ist.

Andererseits könnte man das psychoanalytisch aufarbeiten und den ganzen Knalltüten eintrichtern, die unbedingt ihr Deutsches Reich ohne Ausländer wiederhaben wollen und diskriminierende Namen für Schokoladenküsse und Paprikaschnitzel, weil das immer schon so war. Wir müssten mal über eine Einrichtungssendung nachdenken, in der wir die Wohnungen von diesen Leuten mit dem Sperrmüll ihrer Großeltern vollschaufeln, mit Nierentischen, Räuchermännchen, Musiktruhen, mit Tütenlampen und Cocktailsesseln und diesem ganzen kulturellen Rückwärtsgang, der irgendwo in den embryonalen Nullpunkt will, wo es keine Verantwortung gibt, der optimale Safe Space für alle, die die Nase voll haben vom Erwachsensein. Ich glaube, wir haben hier ein gutes Konzept, arbeiten Sie das bitte mal aus, wir bräuchten sechs Sendungen, Moderation, Einspieler, thematische Schwerpunkte, und eine Kulisse, voll Retro-Style. So, und ich will jetzt für die nächsten beiden Stunden bitte nicht gestört werden, gleich kommt Friedrich Merz.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDLXXIII): Das Trachtenfest

19 07 2019
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Es muss kurz nach der Einführung des Staatswesens gewesen sein, dass sich Bürger, Bauer und Bettelmann am Biertisch die jeweiligen Köpfe kratzten und also dachten: lasset uns distinktive Merkmale anbringen auf jegliches Kleid, auf dass ein jedes sehe, wenn einem ein Bürger auf der Straße entgegenkomme, denn sonst würde man ihn vielleicht mit dem Herzog verwechseln, dem Papst auf Urlaub oder einem Klempner. Und so geschah es. Die Bauern verzichteten fürderhin auf spitze Schuhe und seidene Hauben, unter den Klerikern sah man nur noch in Ausnahmefällen Lederjacken oder Tarnanzüge, und ehrlose Berufe wie Soldat oder Investmentbanker mussten gar durch hässliche Hüte von der anderen Gassenseite aus erkennbar sein. So weit, so gut. Schließlich und endlich aber siegte die Unvernunft, und die einzelnen kleinen Einzugsbereich der Macht forderten das Bewusstsein der Grenzziehung. So kam die Tracht.

Denn innerhalb der einzelnen Regionen musste sichtbar werden, ob eine Stallmagd nun aus dem Ober- oder aus dem Niederhüppelhausener Tal komme. Jammer, Pein, dräuend Ungemach hätten sonst die Welt überzogen, hätte auch nur einer es verwechselt. Also bommelten sich die einen bunte Puschel an die Wagenradhüte, an denen weithin zu erkennen war, ob es sich um eine verheiratete Magd oder noch zu verkuppelndes Brautmaterial handelte, während die anderen durch extrem bestickte Westen mit Puffärmeln und doppelt umgeschlagene Krempelmanschette mit sechs Reihen von Knöpfen aus goldbesetztem Hirschhorn mit eingefrästen Aposteln ihren Stand repräsentierten. Es hätten auch rote, blaue oder grüne Gürtel sein können, die optisch dieselbe Information für den Eingeweihten zeigen, doch wo bleibt da der Spaß, sich in wirrem Masochismus an Fest- und Feiertagen mit einem Zentner Leinwand am Leib durch sengende Hitze zu bewegen, um jedermanns Wohlhabenheit zu demonstrieren.

Die Sache ist ja, wie nicht anders zu erwarten, zoosemiotisch bedingt: kaum juckt dem Tier das zur Reproduktion vorgesehene Organ, schwellen ihm Kamm, Bauch oder Füße, zum Behufe der Vermehrung nicht zwingend notwendige Dinge, die aber ob ihrer Form und Farbe als Superzeichen wahrgenommen und also in der Hirnerbse verquast werden. Die ewige Wiederkehr der Erscheinungen, roter Kamm und angeschwollener Bauch mit grell gemustertem Federkleid, löst den entscheidenden Reflex aus in der Denkmasse angeblich niederer Organismen, so dass Singvogel und Mandrill, neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler oder jede andere gewöhnliche Braunalge auf Durchzug schalten, sobald die Argumente getauscht sind. Die Lampe glimmt, die Botschaft stimmt – rein ins Vergnügen, der Automatismus ist nicht umsonst einer, denn ab hier ist die Natur wieder unter sich und muss sich nicht durch die störende Vernunft in die Suppe spucken lassen.

Und so marschiert erst recht heute im Zeitalter der enthemmten Globalisierung zum Trachtenfest manch Landmannschaft untergegangener Ethnien auf, um wenigstens den textilen Leistungsnachweis zu erbringen, wie wichtig es doch ist, aus dem unteren Kreidefelsengebirge zu entstammen, wo die Frauen sich historisch stilisierte Eimer an die Ohren schwiemelten, damit man sie nicht gleich mit ihren Schafen verwechselte. Fern jeglicher historisch haltbaren Bildung, wie sich auch Vertriebene als angeblich kulturell motivierte Zusammenrottung gerieren, zelebrieren diese Sonntagsnostalgiker ein Jammerfestival, um ihre geklonte Herkunft zu zeigen. Dass gerade die urbane Bevölkerung sich in Lederhosen und gebirgstaugliche Kittelschürze zwängt, ist auch ein Zurück zur Natur, hier meist in der Version aus Biobaumwolle, von liebevollen Kinderhänden in Ostasien gekämmt, damit die ostdeutschen Regionalverbände tagesschaufähiges Bildmaterial schießen können. Zugleich feiert diese Gesellschaft in sonntäglicher Halbtrauer mit Personenstandsanzeiger und sozialem Marker an der Flanke ein erstaunlich offenes Verhältnis zur Migration, auch zur politisch erzwungenen – wer noch vor drei Generationen aus den Karpaten kam, ist heute selbstverständlich ein Teil der westlichen Kultur und darf auf seinen Sonderstatus hinweisen, der unsere vielfältige Identität bereichert. Wer vor fünfzig Jahren einmal aus der Levante kam oder aus Nordafrika, darf aber gerne dorthin zurückkehren, denn er passt ja augenscheinlich nicht zur Tradition der postmodernen Blut- und Bodenständigen. Die unfreiwillige Komik gebiert sich dabei nur dem Außenstehenden, der zuschaut, wie ein Aufmarsch von Knalltüten so undialektisch wie bedenkenlos Versatzstücke einer so nie existiert habenden guten, alten Zeit anzieht, als wären sie nie Indikatoren gewesen, die von der Mitwelt gelesen werden. Dass Unwissenheit das eigene Selbstbewusstsein enorm entlastet, war noch nie ein Geheimnis. Immerhin, es ist noch keine Uniform.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCLXVII): Die gute alte Zeit

31 03 2017
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Es ist dieser leichte Phantomschmerz, der einen an eine Vollmöblierung unter der Kalotte denken lässt, wobei doch nur die Reflexe den Hirnschmerz auslösen. Was die halbwegs nüchternen Augen noch wahrnehmen, passt nicht mehr zu den Zerrbildern, die sich die Erinnerung zurechtgeschwiemelt halt. Damals, da kostete das Brötchen noch drei Pfennige und schmeckte, wie Brötchen heute nicht mehr schmecken. Da hatte Örckelschwick noch einen annehmbaren Ortskern – das Hitlerstandbild war gut auf dem Marktplatz zu entdecken, auch für die sehgeschädigte Generation aus Stalingrad – und nicht diese Glaspaläste mit Betonfuß, wie man sie in jeder besseren Kreisstadt in den Morast pfropft, sobald sich der Baukredit verabschiedet hat. Und natürlich war die Musik besser. Roy und die roten Rhythmikboys hatten gerade die Ukulele entdeckt, und wer würde das vergessen? die gute, alte Zeit?

Natürlich war da alles besser, denn es war gut. Das Gute, so viel hat sich verfestigt, ist ja immer der Feind des Besseren, manchmal hat es sich auch als umgekehrt herausgestellt, noch öfter hat diesen Zusammenhang schlicht niemanden interessiert. Wer aus dem fahrenden Bus herauskrähen konnte, hatte recht. Beim Betrachten der alten Bilder aus dem Familienalbum pilzt es sanft rosa vom Papier, die seligen Tanten rollen unter dem Schönheitsideal von 1960 durch, quasi körperlos, die reine Eitelkeit gibt sich auf für eine Illusion. Jeder gibt sich auf für einen großen Traum, immer vorausgesetzt, es leben in dieser verwalteten Welt Renaissancehelden ohne Geschäftsbereich.

Vor allem durfte man damals noch ohne denn allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz jeden maximal pigmentierten Akademiker aus Nigeria als Scheißneger bezeichnen, der nur nach Deutschland gekommen ist, um einer Rotte kahlrasierter, geistig minderbemittelter Verlierer im DNA-Roulette den Förderschulabschluss mit Promotionsstipendium zu klauen, denn das wollen die Säufer: unbedingt am Elektronensynchrotron Teilchen zählen. Da war der Typ aus Afrika vollkommen falsch, und wir hatten das wieder auszubaden, dass wir größtenteils zu dämlich waren, um einen Schraubendreher in die richtige Richtung zu halten. Gut, dass diese Zeiten nie vorbeigingen.

Wahrscheinlich turnten bis zu diesem Augenblick noch Dinosaurier durchs Bild, wie sie bis ins hohe Mittelalter zur Rettung harmloser Jungfrauen etatmäßig vorgesehen waren. Jedenfalls hatte die Welt keine scharfen Kanten, keinerlei Konservierungsstoffe, die Eisenbahnen fuhren pünktlich und der Schaffner hatte immer einen robust ausgeführten Schnurrbart. Autos fuhren nur am Sonntag oder aus Versehen.

Wahrscheinlich war auch jeder zweite Nachbar arbeitslos, hatte Krätze oder Masern, beherrschte die Muttersprache dank teutonisch dominierten Genmaterials nur rudimentär und wusste nicht, wer Hegel war. Aber immerhin hatten wir den letzten Krieg gewonnen, vielleicht auch nur die letzte Schlacht, und schon rülpst der Furor sich zurück in ein ewiges Präsens mit Schimmelecken, wie sie die Koordinaten aus dem intellektuellen Untergeschoss an jeder rechtwinkligen Biegung erwartet hatte. So toll war die Zeit auch wieder nicht, alt ja, gut nein, aber dies schuf wenigstens Platz für persönliche Abneigungen: alles doof außer Mutti.

Die Neugestaltung des Alten malt nicht umsonst in unbunten Farben, verzerrt die Linien und kitscht munter drauflos, damit der gründlich verstörte Unsinn in die Matrix eines annehmbaren Schülers mit durchschnittlicher Denkschwäche passte – es wird ja nicht besser, nur weil der Abstand zwischen Einwohnern und mobilem Wissenspotenzial doch anwächst. Es muss freilich daneben auch die klar strukturierten Zeitgenossen geben, die sich um das luxuriöse Problem eines sozialen Status ernsthafte Gedanken machen konnten, aber kaum dazu kamen.

Wir hatten kein Internet, die Autos kippten noch ohne serienmäßigen Prallschutz vom Band, der Fernsprecher hatte eine Schnur, stand öfters in der gelben Zelle am Waldrand, Schlager verkündeten die Zukunft, wie sie die Tarifautonomie und die Sesamstraße nicht schöner hätten feiern können. Das waren die goldenen Zeiten, Blattgoldauflage, wahrscheinlich eher Bronze. Aber auch diese Bilder rufen noch immer Schnappatmung hervor, denn das Aussetzen der Blödklumpen vom Spielfeld fällt unter die fakultativen Gedächtnisleistungen. So ist die Vergangenheit immer porentief rein, wo sie doch objektiv betrachtet als eine Sammlung blauer bis brauner Flecken in die Geschichte eingegangen ist. Denn der Bekloppte ist ein großer Verdränger, er stapelt sich seine eigene Vergangenheit aus dem vorhandenen Material zurecht, und das nicht einmal ohne Geschick. Die eigenen Erinnerungslücken sind das Paradies, aus dem einen nicht einmal die Fakten vertreiben können. Auch wenn sie es wieder und wieder versuchen werden. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.





Mit gezinkter Karte

30 01 2013

Hansi schwitzte. „Wir sind geliefert.“ Brunos Schnurrbartspitzen vibrierten heftig. „Klotzmann.“ Die ganze Küchenbrigade blickte betreten zu Boden. „Ausgerechnet Klotzmann“, stöhnte Hansi. „Jeder weiß, dass der Alte nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, aber wenn er uns besucht, sind wir verloren.“

Bruno, Chef des gleichnamigen Landgasthofs, den man mit Ehrfurcht Fürst Bückler nannte, wie er Schwarzsauer und Aal in Gelee kochte, stierte trostlos in die Weite. „Dass es so enden muss!“ „Na“, tröstete ich ihn. „Noch ist ja nicht alles verloren.“ Hansi, sein Bruder und deshalb für den Service zuständig, schüttelte voller Resignation den Kopf. „Machen wir uns nichts vor. Bei Holtgrefe hat er den preisgekrönten Hecht bestellt und fand ihn tranig. Im L’Artichaut hat er an den getrüffelten Perlhuhnbrüsten nach Luigi Marinotti kein gutes Haar gelassen. Alles, was er bestellt, muss wohl auf dem Weg verunglückt sein. Lies das.“ Er schob mir die Zeitung über den Tisch. Ich begriff.

Klotzmann muss früher ein genussfreudiger Mensch gewesen sein, doch die Kollision mit einer Schranktür schickte ihn jäh zu Boden; als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war er ein alter Griesgram, dem an der jetzigen Welt nichts mehr lag. Er kleidete sich nach der Mode vergangener Jahrzehnte, schalt die heutige Musik Krach für Halbstarke und beharrte auf Erbsen in dicker Mehlpampe. Manche wollten gehört haben, dass er vor dem Einmarsch der Russen warnte und Ludwig Erhard hinter vorgehaltener Hand als Umstürzler bezeichnete. Er war nicht einfach, und dazu noch der einzige Kritiker, der Bocuse seit seinen Anfängen abwechselnd gelobt und verdammt hatte.

„Wir könnten Fisch totbraten“, empfahl Petermann. „Oder verkochte Kartoffeln mit zerlassener Butter.“ Ich schüttelte den Kopf. „Lasst mal, ich habe das so eine Idee. Hansi, wir haben doch noch diese alten weißen Jacken?“ Er nickte. „Und eine neue Speisenkarte bräuchten wir auch. Aber nur ein Exemplar.“ Bruno war verwirrt. „Warum nur ein Exemplar? Sollen wir für ihn etwa eine vollkommen neue Küche machen?“ „Nein“, beruhigte ich ihn. „Nur ein paar Kleinigkeiten, Du wirst schon sehen.“

Kurz nach halb sieben erschien der erwartete Gast. Mit angeklebtem Scheitel und einer weißen Serviette über dem Arm standen Hansi und ich an der Wand. „Wenn ich dem Herrn eine Kleinigkeit vorweg anbieten dürfte?“ Schon griff Hansi nach den Champagnerflöten, doch ich schickte ihn mit einer Handbewegung auf Distanz. „Eine kleine Königinpastete vielleicht? Wir haben auch schöne Ochsenzunge auf Graubrot, dazu Remoulade?“ Hansi riss die Augen auf. „Das haben wir doch gar nicht“, zischte er. „Zumindest die Pastete haben wir“, zischte ich zurück. „Da lagen vertrocknete Reste in der Speisekammer, die sind bestimmt original aus der Zeit.“ „Die Pastete bitte, und einen Wein dazu?“ „Einen Pokal Mosel, der Herr?“ Er nickte gnädig. Hansi staunte. „Kipp ihm einen Riesling rein, mit zwei Stück Würfelzucker.“

Da also saß Klotzmann, löffelte eine Tasse Fleischbrühe mit Ei aus kritzelte verstohlen auf den Knien in einem Notizbüchlein herum. „Mit Ei kostet neunzig Pfennig“, informierte ich Hansi, „bitte die Rechnung diesmal von Hand ausstellen, sonst hält er sie nicht für echt.“ Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich ließ mich nicht beirren. „Frag bitte mal Bruno, ob sie nicht auf die Schnelle noch ein Eisbein mit Butter und Toast hinkriegen. Sonst reicht auch ein Löffelchen verkochter Mischpilze auf Rührei.“ „Ich will damit nichts zu tun haben“, knurrte Hansi und drückte sich aus der Tür.

„Vorzüglich“, beschied Klotzmann. „Ganz vorzüglich. Wie bekommen Sie diesen grandiosen Kartoffelsalat zustande?“ Ich spielte den Geschmeichelten. „Ach, nicht der Rede wert. Wir haben einen kleinen Schrebergarten hinter dem Haus, da pflanzen wir die Kartoffeln an. Und natürlich die sauren Gurken. Wir nehmen ja nur Müllermeisters Gewürzte mit dem Frischeknack, verstehen Sie? Erstklassige Ware. Natürlich aus westdeutschem Anbau.“ „Natürlich“, nickte er. „Man schmeckt das sofort. Und jetzt könnten Sie mal etwas für hinterher bringen. Haben Sie einen anständigen Südwein?“ „Besser“, zwinkerte ich, „kennen Sie Mampe?“

Ich schwang die Küchentür auf. „Bereit zum Finale? Unser Gast möchte gerne etwas Exotisches. Bitte eine Portion Ananas mit Sahne. Und einen Schlehenlikör.“ Bruno hielt mich am Arm fest. „Ich will die Karte sehen.“ Bereitwillig schob ich ihm das schmale Ledermäppchen zu. In Schönschrift standen dort warme und kalte Speisen, Getränke, Kuchen, Torten und Desserts. „Buttercremetorte? Herrengedeck? Russische Eier? Wo hast Du den Krempel denn ausgegraben?“ „Wir hatten ja damals nichts“, gab ich lakonisch zurück. „Offensichtlich ist Klotzmann auf dem Level stehen geblieben, und genau das bekommt er hier. Der Geschmack seiner frühen Jahre, als man sich neben der Sättigung den kleinen Luxus von Tubenremoulade erlaubte. Das macht ihn zum unglücklichen Menschen, denn wer würde heute dieses Zeug anbieten. Also spielen wir mit gezinkter Karte. Wir werden die ersten mit einer guten Kritik sein.“ Bruno schluckte. Er schlug die Tür auf und schritt quer durch den großen Saal, wo Klotzmann unbeirrt in seinem Büchlein krickelte. „Bückler“, sprach er mit einer leichten Verbeugung. „Darf ich Ihnen einen echten Weinbrand-Verschnitt anbieten?“





Gernulf Olzheimer kommentiert (L): Nostalgie

26 03 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Der Mensch, er häuft Erfahrungen an, um aus deren Unterschied und Gemeinsamkeit sich eine praktikable Gebrauchsanweisung für die Welt außerhalb der Kalotte zu häkeln. Blau ist kalt, rot ist heiß – solche Erkenntnis prägt, strukturiert und macht fit für den Alltag, auch wenn interimsmäßig Freund Alkohol die Birne blockieren oder Hormone den Weg der Denkkrümmung einebnen sollten. Jedoch adelt den höheren Säuger das Einarbeiten der Komponente Echtzeit in den intellektuellen Prozess, der Ich-Hier-Jetzt-Nullpunkt gewinnt rasch an Bedeutung, wo er die richtigen Fragen stellen lässt. Wer beim Sprung vom Beckenrand feststellt, dass bis gestern definitiv noch Wasser drin gewesen sein muss, hat mit dem Update zu lange gewartet und bricht sich die Gräten nicht zu Unrecht. Wer auch noch den Aufprall ignoriert, macht sich der Nostalgie verdächtig.

Nostalgie, das ist die bekloppte Schwester des Heimwehs; sie wünscht uns auf einen beschissenen, kleinen Planeten zurück, der nie auch nur in einem Paralleluniversum herumexistierte. Alles, was sich seit der guten alten Zeit (nach der Scheidung, mit dem neuen Jahrtausend, vor dem Hintergrund einer sich verfestigenden Erdkruste) verschoben hat, hing zwingend am Bezugssystem und beweist, dass die gute alte Zeit möglicherweise alt war, aber mehr auch nicht. Der penetrant rosafarbene Qualm im Langzeitgedächtnis ist selbst schon eine Illusion, denn hinter ihm verbirgt sich: nichts. Das Paradies, als das sich Erinnerung versteht, aus dem die sich bürgerlich gerierenden Schimmelschädel nicht vertrieben zu werden wünschen, ist Vorspiegelung dessen, was falsch, aber nie Tatsache war – sonst wäre es ja nicht falsch – und die seitenverkehrte Form sinnloser Zukunftsträume.

Das Retro-Modding, das wörtlich den Schmerz am Vergangenen bedeutet, macht eben diesen zu seiner eigenen Therapie; logisch, bei Kopfweh hilft es ja auch, ordentlich mit dem Schädel an die Wand zu ballern. So hält sich der Erfolg fetischistischer Befassung mit dem Perfekt auch in Grenzen, die Bastelstunde mit Leichenteilen gebiert, wie denn auch, kaum Neues. Der Bekloppte wird von seiner Vergangenheit bewältigt, mehr passiert nicht. Das namenlos Schöne, in konkrete Form geschwiemelt – früher waren die Brötchen billiger, das Wetter war besser, die kleinen Mädchen trugen noch Röcke und die Polizei schoss in die Menge – dient nur dazu, das eigene Koordinatensystem zu synchronisieren mit verpfuschter Unschuld und ramponierten Tugenden zu einer rücksichtslosen Beschönigung des Wertlosen: keiner gäbe je zu, eine völlig überflüssige Randexistenz als Beknackter in einem Haufen von Bescheuerten an die grenzenlose Blödheit des puren Daseins verschleudert zu haben, nicht wesentlich wichtiger als eine Fruchtfliege, die man zwischen den ungewaschenen Fingern zerreibt, weil man ihr Fetzchen Bewusstsein für weniger bedeutsam hält als seine eigene Knallchargenrolle in einer Population freischaffender Mehlmützen, die versehentlich geboren werden, lächerliches Schuhwerk tragen, zu beschränkt sind für Graphentheorie oder Seerecht und dann unter zu viel Geräuschentwicklung erheblich zu spät den Sauerstoffverbrauch einstellen.

Um professionelle Nostalgiker stufenweise in den Wahnsinn zu treiben, den Hauptdarsteller in einem Hieronymus-Bosch-Gemälde erleben, lohnt es allemal, sie konsequent in diese Spirale der ewigen Heimkehr zu stoßen, die beim Einstrudeln gleich einer Regression in den Mutterleib Schritt für Schritt in der Zivilisation zurückstolpert: der Gegenwartsmensch preist die 80-er Jahre, der Achtziger die frühen Siebziger, der 68-er die Vorkriegsepoche, der die Kaiserzeit, und über Biedermeier, Frührenaissance und spätrömische Dekadenz landet der Betrachter im Hirn einer Dungmücke, die gerne Pantoffeltierchen wäre, um sich nicht ständig ein paar Tausend Namen für die Eier merken zu müssen. In ebendiese Kerbe drischt der Behämmerte, der das Archaische aufpustet, bis es sich zum Götzen eignet – ein Instant-Mythos, so windschief wie unausgegoren. Alles das dient allein der Biografiebereinigung, denn in einem quasi keimfreien Idyll voller Rosen und Puschelquark ist alles moralisch, politisch, ästhetisch und sonst wie dufte, der Bescheuerte selbst ein Mustermann vor dem Herrn und über jeden Zweifel erhaben perfekt, weil die Verhältnisse ihn so erschaffen haben. Erst mit dem Einbrechen der beschissenen Wirklichkeit in dies untadelige Sein beginnt der Niedergang, und er entschuldigt alles, was der Dumpfmull an Wirrsinn denkt, sagt, tut, lässt oder duldet, kurz: die aus Unsinn zusammengezimmerte Vita des typischen Brezelbiegers von nebenan. Er stemmt sich verzweifelt gegen die ihm eigene Unzulänglichkeit, gegen das Allzumenschliche, gegen die präexistierende Vergänglichkeit. Das ist sein gutes Recht. Dennoch geht er allen anderen damit auf die Plomben. Und er kriegt es nicht weg. Auch wenn wir uns bald schon zurücksehnen werden nach dem, was übermorgen gewesen sein wird. Denn Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie nie war.





Meine lila Schrankwand

21 01 2009

Manchmal, wenn ich ganz nostalgisch werde – zwei Gläser Bordeaux, ein Käseigel, etwas Salzgebäck, Hildegard ist wieder zu ihren Eltern gefahren und bis übermorgen nicht erreichbar, so dass mir nur Katze, Glotze und Fotoalbum zum Kuscheln bleiben – also das ist ein Zustand, der die meisten Menschen in die Existenzkrise treibt. Ich verstehe das. Diese Suche nach der Befriedigung an sich. Wieder zurück in den Embryonalzustand, die Birne ausknipsen, Decke über den Kopf und Kopf in den Sand. Es graut einem dann vor gar nichts mehr. Man wünscht sich die Zeiten zurück, in denen Berti Vogts noch Bundestrainer war und die SPD noch die SPD. Als der Papst noch aus Polen kam und die Rennräder noch nicht aus der Apotheke. Und was würde man nicht alles billigend in Kauf nehmen, könnte man nur ein einziges Mal die Zeit zurückdrehen. Kohl als Kanzler, Nena und die Schlager-Süßtafel, Breitcordhosen und Milde Sorte aus dem Kippenkasten neben dem Schallplattenautomaten. Heute bekommt man das nur noch vorgekaut als Musical. Oder im Fernsehprogramm, gelobt sei dessen zyklische Wiederholung.

Aber das alles gilt nicht für disco, die Musiksendung aus dem Zeitalter, als eine Musiksendung „Musiksendung“ hieß und noch eine Musiksendung war. Als man noch „dufte“ sagen konnte, ohne gleich für originell zu gelten und bei Margarethe Schreinemakers entsorgt zu werden. Als es noch richtige Fernsehmoderatoren gab, die Conférence konnten und nicht eine eigene Show bekamen, nachdem sie sich vollendet talentfrei gezeigt hatten. Nein, disco war gut. Trotz allem. Und nicht nur, weil man damals noch jung war.

Über die Inneneinrichtung braucht man nicht groß zu debattieren, sie war ein Opfer der Siebziger. Weiß, Orange und eine massive Auswahl an Brauntönen zieren in der Gegend herumvegetierende Stellwände mit kreis- und wabenförmigen Durchbrüchen, die überraschend Sinn stiften, sobald Balladenbarden sich beim unmotivierten Durch-die-Kulisse-Mäandern dahinter verlaufen und wie durch Bullaugen in die Kamera singen. Jedenfalls glaubt man beim Anblick der Fernsehbilder sofort, dass es nach Bauhaus per definitionem keine brauchbaren Sitzmöbel mehr geben kann. Die versilberten Hockpilze gemahnen dunkel an Klosettbecken, die wie Schwammbefall an den Wänden entlang wachsenden Polsterstrecken sehen aus wie ein früher Kniefall vor der Molekularküche: Gelatine ist erst als Kubus genießbar. Und mal ehrlich, sahen nicht die Bühnenbilder genau so aus wie jedes unter Einsatz überbezahlter Innenarchitekten weitgehend geschmacksresistent eingerichtete Neubau-mit-Balkon-Wohnzimmer? (Oder Ron L. Hubbard hatte am Ende doch Recht und die Décors in westlichen Lichtspielhäusern wurden tatsächlich schon vor 75 Millionen Jahren von sadistischen Klingonen erfunden, um die ganzen Thetane preiswert in den Irrsinn zu treiben, weil es ja seinen Psycholaden damals noch nicht flächendeckend gab.)

Aber die Musik. Klar, es gab Glamrockgruppen, die in ihren Overalls aus Alufolie mit Strassbesatz einfach nur beknackt aussahen, höchstens zu toppen von Männern im brustfreien Schmetterlingskostüm und rhythmisch zuckenden Gogo-Girls auf Plateaustiefeln, die jede Diskussion über einen Ortswechsel im Keim ersticken; man hat sie vermutlich schon anlässlich der Stellprobe am Boden festgeschraubt, um Wadenbeinbrüche zu verhüten. Es gab Schlagersänger, die verbalen Sondermüll unter sich ließen und heute in mir spontan den Wunsch nach Verlust der Muttersprache auslösen. Es gab feine Abstufungen von Playback. Bei Frank Farians diversen Discotruppen wusste man das halt irgendwann und trug sein Los mit Fassung. Bei Barry Ryan sah das Antäuschen von ekstatischem Gesang eher aus wie der Halbfinal-Zieleinlauf bei der internationalen Meisterschaft der Grobmotoriker.

Immerhin hatte diese Inszenierung etwas Heimeliges. Da gab’s noch Schlagersänger, die sich fußläufig durch Kulissen bewegten (siehe oben), schmachtende Teenager in Polstergruppen (siehe oben) ansangen und überhaupt ein Gefühl verbreiteten von trauter Wohnzimmereinrichtung (siehe oben). Es hätte nicht viel gefehlt, und Katja Ebstein wäre aus der lila Schrankwand gestiegen. Machen Sie das mal im Jahr 2009. Sie bräuchten Ihre Nichte beim Tokio-Hotel-Konzert bloß etwas zu weit über die Sicherheitsabsperrung zu halten. Da gäb’s aber sofort richtig auf die Fresse.

Spot aus. Licht wieder an. Das lohnt heute gar nicht mehr. Was auf den Musikkanälen herumschwafelt und Filmchen ansagt, wäre damals maximal als Quotenknalltüte zu Lou van Burgs Butterfahrten eingeladen worden. Auch wenn ich auf die Les Humphries Singers längst verzichten kann. Auf Christian Anders sowieso. Und auf Juliane Werding erst mal. Aber ich bleibe trotzdem auf der Couch sitzen, trinke ein drittes Glas und hole noch Salzgebäck aus der Küche. Und gucke disco bis ganz zum Ende. Weil Ilja Richter damals schon Dreiteiler tragen konnte und darin einfach dufte aussah.