05:58 – Der Wecker rasselt. Schlaftrunken nestelt Günther Oettinger die Decke beiseite, versucht aus dem Bett zu steigen, knickt um und schlägt auf dem Boden auf. Glück gehabt, er wird wieder jedem sagen können, er sei mit dem falschen Fuß aufgestanden.
06:03 – Während der Wasserkessel melodiös durch die Küche pfeift, ärgert sich der Kommissar beim Zähneputzen. Früher hätte es auf den Bürsten kein digitales Display gegeben. Früher hätte man sich auch mit Kernseife die Zähne geputzt. Früher war eben alles besser.
06:15 – Oettinger legt sich alles zurecht für seinen ersten Termin. Er wird vor dem Fischereiausschuss über die Harmonisierung des Datenschutzes in der Union sprechen. Schnell schlägt er in seinem alten Brockhaus nach, was das Werk zum Datenschutz zu sagen hat. Das Schlagwort fehlt. Immerhin ist auch die EU nicht in der Auflage enthalten. Er atmet erleichtert auf. Wenigstens musste er sich beim Lesen nicht geistig überfordern.
06:34 – Der ehemalige Ministerpräsident wirft einen kurzen Blick auf die Morgenzeitungen. Er fühlt sich massiv durch diesen grassieren Zeitgeist gestört. Bunte Bilder, Papier aus Holzfasern – früher hat man noch Keile in die Wand gemeißelt. Er beschließt, diese kriecherische Anpassung an den Zeitgeist bei passender Gelegenheit mit deutlichen Worten anzuprangern.
07:03 – Oettinger gießt sich noch eine Tasse Kaffee ein. Früher hätte die Zubereitung nicht so lange gedauert, aber der Techniksachverständige war mit dem neuen Vollautomaten nicht zurechtgekommen, weil die Anzeige englische Digitalziffern hatte. Er beschließt, wieder Milch von deutschen Kühen zum Frühstück zu kaufen.
07:18 – Der Dienstwagen ist endlich da. Der Christdemokrat fühlt sich in seinem Auto nicht wohl, seit er weiß, dass das Modell serienmäßig mit Internet ausgeliefert wird. Seit Monaten fürchtet er sich, dass das WLAN-Kabel auf dem Weg zum Büro irgendwo hängen bleibt.
07:47 – Gerade noch rechtzeitig zum Meeting im Verwaltungsgebäude angekommen. Oettinger geht noch einmal kurz seinen Redetext durch und ist sich sicher: irgendeiner wird schon wissen, worum es heute geht. Und fragen beantwortet er ja schon lange nicht mehr.
08:10 – Die Rede kommt hervorragend an. „Wieh masst orl apon kähr tehken, ßäd ßieh dehda ahr rilli die fens.“ Das ungläubige Staunen der Fachgruppe gibt ihm das gute Gefühl, dass er mit exorbitantem Wissen glänzt.
08:39 – Mit eindringlichen Warnhinweisen, dass es endlich ein EU-weites Bundesgesetz geben muss, das verbietet, Disketten falsch herum in die Crowd einzuschieben, entlässt Oettinger sein Publikum. Es scheint ihnen wirklich zugesagt zu haben, denn einige der Gäste wälzen sich nach dem Ende der Veranstaltung bitterlich weinend am Boden.
08:51 – Der Assistent reicht Oettinger eine Karte mit der Bitte um kurze Unterschrift zum Ehrentag eines Parteikollegen. Der auf internationalem Parkett bewanderte Politiker schreibt schnell ein paar Worte: Heppi Börßdeh fromm juhr’s äntschent kompanjong!
09:03 – Der beliebte Computerversteher stolpert kurz auf dem Weg ins Erdgeschoss, schafft es dann aber doch, die Treppen unfallfrei hinunterzusteigen. Früher, denkt er sich, hätte man doch wenigstens einen Aufzug nehmen können.
09:15 – Auf der Fahrt zur spanischen Wirtschaftsdelegation blättert Oettinger in seinen Papieren. Dabei fällt ihm ein enorm witziger Witz ein, den er sofort notiert. Zur Sicherheit tippt er ihn auch in sein Handy. Manchmal sind diese Dinger auch ganz praktisch.
09:25 – Nach einigen einführenden Worten des Attachés zum Thema Tourismusförderung durch digitales Marketing stellt der Ländler fest, dass er seine eigene Schrift nicht mehr lesen kann, weil das Auto beim Verfassen der Randbemerkung über Kopfsteinpflaster gefahren war. Da der Wortlaut in seinem Mobiltelefon exakt derselbe ist, schließt er messerscharf, dass er dort wohl gar nicht erst nachzuschauen braucht. Was für ein Ärger.
09:42 – Nach einigen launigen Bemerkungen, ihm komme die gesamte südeuropäische Wirtschaft eher spanisch vor, versucht Oettinger die Runde doch mit Humor aufzulockern. Er probiert es mit einem Witz, der ihm jüngst in der chinesischen Botschaft viel anerkennendes Schweigen eingebracht hat. „Was machen die Spanier Diät? sie essen Suppe mit Stäbchen.“ Ehrfurchtsvolle Stille auch hier. Früher hätte es das nicht gegeben.
09:58 – Im informellen Gespräch mit den Teilnehmern der Konferenz äußert sich Oettinger besorgt über die Anzahl afrikanischer Flüchtlinge in Südeuropa. Er vertritt die Ansicht, die Bimbos hätten nur deshalb so kurze krause Haare, damit man sie daran nicht zurück ins Mittelmeer ziehen könne. Da keiner lacht, erkennt er: sie wissen alle, wie ernst es ihm doch in Wirklichkeit ist.
10:19 – Zeit für einen kurzen Zwischenstopp in der City. Der Fahrer besorgt dem Kommissar schnell einen Coffee to go im Pappbecher. Oettinger ist sauer. Während sein Dienstwagen im Schritttempo in Richtung Europaparlament rollt, muss er selbst im Laufschritt hinterher. Dass er die Hälfte seines Heißgetränks dabei verschüttet, macht die Sache nicht besser.
10:33 – Oettinger reagiert auf die Pressemitteilung, die ihm gegenüber der japanischen Regierung taktloses Verhalten vorwirft. Er habe mit der Bemerkung, die Schlitzaugen würden sich von rohem Fisch mit Seetang ernähren, weil sie alle komplett verstrahlt seien, die Gefühle der Japaner sehr verletzt. Der designierte Nachwuchspolitiker im europäischen Haushalt fragt den Gesandten, ob er wisse, wie eine japanische Diät gehe.
10:45 – Im Büro sind die ersten Akten eingetroffen. Der Halbressortleiter blättert lustlos in einem Dossier über Frauenförderung in börsennotierten Unternehmen. Er schreibt an den Rand, er sei für eine Frauenquote, denn die sei ein Instrument, um die Minderleistung von Frauen in Spitzengremien zu erreichen.
11:04 – Oettinger feilt weiter an seinem Vorwort für eine Denkschrift, die den Brexit als Möglichkeit diskutiert, Europa umzudefinieren. Mit raschen Strichen umreißt er eine Neuordnung technischer und wirtschaftlicher Verbindungen. Besonders ist er angetan davon, das englische Internet von den anderen Staaten abzukoppeln.
11:32 – Bei einer Telefonkonferenz mit europäischen Presseverlegern verspricht der Experte aus Baden-Württemberg, ihre Einnahmen vor dem Diebstahl im Datennetz zu schützen. Er plant, ins Internet gestellte Zeitungsartikel dann mit einer Kopfpauschale abzurechnen, wenn sie nicht gelesen werden.
11:55 – In einem Fernsehinterview beklagt Oettinger, dass die Kanadier die Europäische Union nicht mehr für handlungsfähig halten. Er bekräftigt, dass er Vertragshemmnisse wie Demokratie oder frei gewählte Parlamente im Interesse des Marktes aus dem Weg schaffen will.
12:13 – Irgendetwas stimmt mit dem Computer nicht. Es werden keine neuen E-Mails mehr angezeigt. Hastig schickt Oettinger ein Dutzend Nachrichten an die eigene Adresse, wartet den Empfang ab, druckt sie aus und vergleicht das Ergebnis mit dem Bildschirm. Kein Fehler zu sehen. Er wird den Servicetechniker rufen müssen. Mit einer elektrischen Schreibmaschine wäre das jedenfalls nicht passiert.
12:34 – Mittagspause. Der baldige Haushälter der EU sucht in der Schreibtischschublade verzweifelt eine Briefmarke, um sich per Fax eine Terrine Hühnersuppe aus der Kantine kommen zu lassen. Als er sie endlich aufgeklebt hat, ist das Faxgerät kaputt: das Schreiben kommt unten immer wieder raus. Seine erste Amtshandlung wird sein, den Finanzbedarf für eine Rohrpostanlage zwischen seinem Büro und der Pförtnerloge zu eruieren.
13:05 – Immer noch keine Suppe. Schlimmer noch, im Vorzimmer haben sie kein sauberes Besteck mehr, nur noch Stäbchen.
13:07 – Eine E-Mail trifft ein. Oettinger ist extrem erstaunt, wie schnell er das gemerkt hat. Wurde da etwa hinter seinem Rücken das Netz reguliert? sind in Brüssel bereits Taliban unterwegs? Er weiß es nicht, wie so vieles anderes auch.
13:29 – In einer Entscheidung für eine höhere Abgabe auf mobile Speichermedien notiert der Digitalwirtschaftsweise, dass er ein virtuelles und digitales Sachenrecht, das sowohl für virtuelle Daten, die digital im virtuellen Raum als Sachen gespeichert werden, einem digitalen Recht auf die virtuellen Sachen, die als Daten gelten könnten, weil sie als räumlich nicht virtuellen Sachen dem Datenrecht unterliegen, vorziehen würde, falls das virtuelle Recht auf die digitalen Sachen, die als Daten eine virtuelle Sache seien, auch für virtuelle Räume gelten würden, in denen es Sachen gibt. Er beschließt, innerhalb der nächsten Tage unbedingt mal sein Handy aufzuschrauben, um die Sachen selbst in Augenschein zu nehmen.
13:50 – Auf dem Weg zur Toilette läuft er fast in den französischen Präsidenten hinein. „Hello juh frock ihta“, scherzt er, „juh luck aut äs wenn juh äs behbi tuh ollreddi wantz wann glahs rettwain biekamm heff!“ Hollande fragt seinen Begleiter, ob heute die Medikamentenausgabe ausgefallen ist. Ansonsten nimmt er von dem aufgeregt winkenden Mann im schlecht sitzenden Anzug keine Notiz.
14:08 – Aus seiner Zeit als Energiekommissar hat Oettinger noch über dreißig Päckchen Batterien im Schreibtisch. Er legt einige in seine Taschenlampe ein und muss feststellen, dass auch sie nicht mehr leuchtet. Ihm kommt der Verdacht, dass es sich um alte Analogbatterien handeln muss, die in einer modernen Lampe mit digitalen Leuchtdioden nicht mehr funktionieren. Enttäuscht baut er die Leuchte wieder auseinander und überlegt, ob sich der Versand in eine Wiederaufbereitungsanlage lohnt.
14:24 – Eine Bürgerinitiative zum Schutz des Bargeldes hat eine Demonstration in Brüssel angemeldet. Für eine Pressemitteilung erklärt Oettinger, dass keiner vorhabe, das Bargeld abzuschaffen. Auch in Zeiten des Internetbankings sei es für jeden Teilnehmer einfach möglich, sich zu Hause Bitcoins auszudrucken, auszuschneiden und beim Einkaufen im Datennetz damit zu bezahlen.
15:00 – Ein wütender Anruf der Frauenbeauftragten stört Oettinger bei seinem Nachmittagskaffee. Sie verlangt von ihm die umgehende Richtigstellung der Äußerungen über die Frauenquote. Er wiegelt ab und erklärt, man müsse seine Ausführungen im Gesamtzusammenhang sehen. Eine Minderleistung von Frauen sei auch ohne eine Quote zu erreichen, er erwarte nur nichts anderes und befürworte eine Regelung, bei der er nicht unnötig nachdenken müsse.
15:36 – Nach längerem Aktenstudium stößt der EU-Beamte auf seinen alten Vorschlag, in verschuldeten Staaten die Flagge auf Halbmast zu setzen. Er gibt in einem Rundschreiben bekannt, diese Empfehlung zurückzunehmen. Vielmehr soll seiner Ansicht nach die Nationalflagge eines Schuldnerstaates gleich durch die deutsche ersetzt werden, um die Bürger nachhaltig an ihre Verpflichtungen zu erinnern.
16:02 – Bei der Gesprächsrunde im Kreise des Brexit-Ausschusses stellt sich Oettinger den Fragen der britischen Teilnehmer. „Nätschörlieh will wieh juh orl aut ße Iih-Juh autkick“, droht er, „batt wieh känn juh tuh still miehner pannisch, bei wieh juh orl ße worm brasass send. Hau tehst juh ßed, juh ailend ehps?“ Die Stimmung kippt. Irgendwo musste doch dieser Zettel mit dem Suppenwitz sein.
16:23 – In einer älteren Zeitung liest er, dass die Ausländermaut nur EU-weit erhoben werden soll, um den deutschen Tourismus nicht zu gefährden. Sofort ruft Oettinger in der CSU-Parteizentrale an und warnt, dass der Verkehrsminister hier einen schwerwiegenden Fehler begehen könnte. Die chinesischen Autos seien nach seiner Kenntnis so klein, dass sie regelmäßig unter der Kontrolle durchfahren würden.
17:16 – Der Dienstwagen steht bereit, der Kommissar steigt ein und lässt sich zu einem Geschäftsessen fahren. „Bonn tschorno Mafiosi“, begrüßt er den Chefkellner des Sternerestaurants, „haben Sie bei der Tolle noch Schuhkrem für die Stiefeletten übrig?“ Es wird ein kurzer Besuch, da der Tisch versehentlich schon für den König von Togo reserviert worden war.
19:03 – Die Podiumsdiskussion Europas Werte schützen – Zukunft für die Menschen ist reichlich besucht. Nach einem engagierten Beitrag der italienischen Referentin zur Wahrung des kulturellen Erbes des Rinascimento beharrt Oettinger darauf, dass der Euro auch weiterhin unter der Obhut der EU sein wird. Die Europäische Zentralbank habe ihn jedenfalls nie dafür bezahlt, die gemeinsame Währung abzuschaffen, und er habe auch nie eine Weisung dafür bekommen.
20:30 – Fast hat der EU-Kommissar sein Tagwerk geschafft, da entdeckt er in seinem Taschenkalender noch eine vollkommen verdrängte Expertenrunde. Der Fahrer lädt ihn vor dem Seiteneingang eines Verwaltungsgebäudes ab, in dem sonst nur zwielichtige Lobbyisten unter Korruptionsverdacht sich die Klinke in die Hand drücken. Man begrüßt einander herzlich.
20:46 – Die Fachleute sind ungefähr auf demselben Kenntnisstand. Einer der Vertreter erklärt, er sehe in letzter Zeit eine enorme Zunahme an Kommentaren im World Wide Web und fürchte nun, das Internet sei innerhalb weniger Monate vollgeschrieben. Aus dem Stegreif erläutert Oettinger den anderen IT-Sachverständigen, was ein Browser ist und dass man daran die Größe der Schrift verstellen kann. Bei einer konsequent angewandten Verkleinerung der Schrift, so der Informationstechnokrat, könne viel Platz im Netz gespart werden, um Zeit zu gewinnen für die Entwicklung eines digitalen Radiergummis.
21:13 – Im Nachgang der Besprechung kommt es zu einer kleinen Meinungsverschiedenheit, als der Digitalkommissar darauf beharrt, man könne den Radiergummi auch für virtuelle Sachen einsetzen, die dann als Objekt quasi Seinsqualität besitzen und rein rechtlich wie Entitäten behandelt werden müssten, die wegen ihrer Substanz als privilegierte Subsidiarität einer sich in Idealkonkurrenz einer So-als-ob-Dinglichkeit dem Prinzip der Realpräsenz zu gestalten haben, weil das eben so ist. Die Runde ist zufrieden, Oettinger kündigt an, einen Antrag auf EU-Förderung wohlwollend zu erwarten.
23:11 – Der Fahrer hält vor der Haustür. Wenigstens findet heute keine Filbinger-Mahnwache statt, er kann sofort ins Bett. Während sich Oettinger beim Ausziehen des Sakkos verheddert, überlegt er, ob eine EU-weite Vereinheitlichung der Lochkarten den Informatikunterricht vereinfachen würde. Gleich morgen wird er auch den Bürocomputer aufschrauben, um herauszufinden, ob darin ein Hollerith-Lesegerät eingebaut werden kann.
00:06 – Der Anzug ist etwas ramponiert, zwei Knöpfe sind abgerissen, aber Günther Oettinger liegt endlich im Bett. Er ist nicht glücklich, aber schon auch happy. Während er überlegt, ob er nicht auch ein kleines bisschen lucky haben könnte, schläft er ein. Im Gesamtzusammenhang ist das ganz okay.
Satzspiegel