Drei Farben: Blau

7 07 2016

Die klackernden Flaschen rasten das Band entlang. Das Geräusch war ohrenbetäubend. „Hier laufen gut zweihundertfünfzig Liter pro Minute entlang“, schrie Wabschke mir ins Ohr, obwohl er direkt neben mir in der großen Abfüllhalle stand. „Das ist der Hustensaft, und da hinten…“ Ein Arbeiter reichte ihm ein Klemmbrett hoch. Die Flaschen störte das nicht.

„Sie müssen das entschuldigen“, sagte er mit einem unbeholfenen Lächeln. „Wenn man aus der Anlage kommt, dann brüllt man in den ersten paar Minuten noch weiter, ganz unwillkürlich.“ Hier ließ es sich jedoch aushalten. Durch dicke Glasscheiben sah man die Flaschen, braun und weiß, groß und klein und mittel, in verschlungenen Bahnen auf den metallenen Laufbändern entlangsausen. Hier kippte eine Art Trichter sie zu Dutzenden in einer Sekunde auf die Transportraupe, sie wurden geschwenkt und geteilt, dort in einem Augenblick gefüllt und im anderen verkorkt, schnapp! saß eine dünne Hülle auf dem Verschluss, und batsch! wickelte ein langer Arm, eigentlich eher ein Finger, ein buntes Stück Papier als Etikett auf das gläserne Behältnis. Das also war Hinzpeters Hustensaft, der neben dem altbekannten Stärkungstonikum für die Hausfrau den Hauptumsatz des Konzerns ausmachte.

„Allein die krampflösenden Mittel haben im letzten Quartal einen Mehrumsatz von gut zehn Prozent zu verzeichnen gehabt.“ Wabschke sagte dies nicht ohne einen gewissen Stolz, schließlich ging es dem Unternehmen gut. „Dabei haben wir die Produktpalette sogar noch erheblich erweitert gegenüber den vergangenen Jahren. Unsere Schmerzmittel werden allgemein gut angenommen, auch als Kombinationspräparate, und dazu haben wir ein herausragendes Schlafmittel entwickelt, das in den nächsten Wochen auf den Markt kommen wird.“ Er griff hinter sich und zog eine Flasche mit einer wässrigblauen Tinktur aus dem Karton neben dem Schreibtisch. „Nun ja“, bemerkte ich, „auf dem Etikett wird es jedenfalls als Stimmungsaufheller bezeichnet.“ Wabschke guckte irritiert mich an, die Flasche, dann wieder mich. Er stellte sie zurück in den Karton. „Ich weiß jetzt gar nicht, ob das die richtige Farbe…“

Der Ingenieur schrie, aber das lag am Lärm in der Abfüllhalle. Dass Wabschke ihn ebenfalls aus vollem Hals anbrüllte, war dem weniger geschuldet. Nach allem, was ich erkannte hatte, musste es einen Fehler in der Abfüllstraße gegeben haben. „Das ist das andere Blau“, röhrte der Produktionsleiter. „Ich hatte doch eindeutig gesagt, dass wir das andere Blau nehmen! Wie sollen denn die Kunden das nun auseinanderhalten?“ Er raufte sich die Haare.

Inzwischen war im Karton noch eine dritte Flasche mit blauer Flüssigkeit aufgetaucht. Diesmal handelte es sich um ein Desinfektionsmittel. Wabschke stöhnte leise vor sich hin. „Das ist seit gut sechs Wochen im Handel.“ Er schob die Flasche entnervt über den Tisch und wollte sie schon wieder in den Pappkasten zurückstellen, da besann er sich plötzlich. Er griff nach einer Tasse, die im Regal gestanden hatte, pfriemelte die Folie vom Flaschenhals, entkorkte das Ding und goss sich ein. In einem langen Zug trank er die Tasse leer. „Aber es ist doch Desinfektionsmittel“, sagte ich voller Überraschung. Heftig stellte er die Tasse auf. „Kommen Sie.“ Sein Blick war schon glasig.

Die Kanister mit den Farben waren immens groß, sogar gemessen am täglichen Ausstoß der Fabrik. „Alles absolut lebensmittelecht“, bestätigte Wabschke. „Das können Sie trinken, bis der Arzt kommt. Wobei, wenn Sie das trinken, kommt er bestimmt.“ Die Flasche mit Desinfektionsmittel war seiner Kitteltasche; ich zog sie heraus und blickte auf das Etikett. Da begriff ich endlich.

„Unsere Kunden wollen immer das passende Therapeutikum verabreicht bekommen“, erklärte er. „Denen können Sie bei einer ganz stinknormalen Erkältung nicht einfach irgendein Zeug in die Hand drücken. Ausgeschlossen! Da muss dann die Farbe verändert werden. Bei leichten grippalen Infekten bernsteingelb, bei fiebriger Erkältung bis nussbraun und schon leicht blau, für schwere Erkrankungen mit bronchialen Spasmen tiefbraun bis schwarz mit einem leichten Schimmer ins Violette, schauen Sie mal.“ In dem betreffenden Kanister schwappte eine purpurne Flüssigkeit, die leicht nach Himbeeren roch. Offensichtlich kurierte man damit gefährlich klingenden Reizhusten. „Man kann leichte Aromen dazugeben, etwa Lakritze. Aber das nur nebenbei. Das fördert nicht die Heilung.“ Er griff zur Flasche.

In allen Flaschen befand sich nun nichts als reiner Alkohol. „Richtig.“ Wabschke nickte und setzte die Desinfektionslösung nochmals an. „Wissen Sie, die Kunden interessiert doch der ganze Firlefanz nicht, die würden ohnehin gegen alle Wehwehchen Schnaps trinken, und wenn wir ehrlich sind: raus kommt das auf demselben Weg.“ Er leerte die Flasche und ließ sie wieder in seiner Kitteltasche verschwinden.

Der Inhalt hatte seine Wirkung getan, Wabschke kam schon leicht ins Schwanken und mühte sich ab, die Treppe zum Büro zu erklimmen. Seine Schritte wurden schwer. „Ist etwas dran an den Gerüchten, dass Sie mit Hopp und Söhne fusionieren?“ Er drehte sich langsam um, ganz langsam, und dann schüttelte er ganz entschieden den Kopf. „Diese Scharlatane?“ Wabschke war empört. „Eine Firma, die nichts als dubiose Wundermittelchen herstellt?“ „Aber Ihre Medikamente…“ „Nein“, unterbrach er, ernsthaft und fast nüchtern. „Sie dürfen uns nicht mit Homöopathen in einen Topf werfen. Alkohol wirkt!“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXLII): Heilmittelchen

30 05 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Was hatte es der naturbelassene Hominide doch leicht. Bei einfachen Sprunggelenksbeschwerden legte er durchgekaute Kräuter auf die Haut – mit der anwachsenden Hirnmasse wurde ihm langsam klarer, dass bereits das Kauen half, Schmerz und Schwellung von innen zu bekämpfen. Mit der Zeit lernte er Wirkstoffe und Anwendungen, Dosierung und Kontraindikationen zu beherrschen, bekam ein Gefühl für Wechselwirkungen und Toleranzen, und es erschloss sich ihm eine vollkommen neue Welt, in der er jeglicher Krankheit Herr wurde. Leider überlebte so auch jeder Klötenkasper, den sonst die Evolution aus dem Genpool genascht hätte. Und dieses geistige Gewölle fing an zu studieren, möllerte sich die Birne an der Wand ein und erfand feinstoffliche Aromatherapie, orthomolekulare Psychiatrie und Heilquanten, kurz: die Pseudomedizin der vielen Heilmittelchen.

Alles wäre halbwegs gut gewesen, hätte sich der postdiluviale Bildungsbürger weiter an pflanzliche Substanzen gehalten und seine Wehwehchen damit kuriert. Allein die Aufklärung lockte filigrane Symptome der Beklopptheit aus der Tiefe der Seelen, Hexenwahn und Kapitalismus – der Verwandtschaftsgrad ist noch nicht raus, aber sie sind Angehörige derselben Sippe – und führte den Wahnsinn methodisch fort.

Eine ganze Industrie mit Tentakeln bis in die Werbewirtschaft lebt inzwischen von der Blödheit der Prä- bis Postgeronten, die nach der Lektüre der Apothekenfachperiodika jedes noch so beknackte Zeugs hinters Zäpfchen zwängen. Sie verkaufen den Heilungssuchenden Fischöl und Pollenpillen, Schlangenöl und Wässerchen jenseits von Gut und Böse. Geschickte Pharmazeuten drücken dem zahlenden Opfer gar Kürbis gegen nächtliche Pinkelattacken und Lavendeldrops für zügigen Schlaf in die Hand, wohl wissend, wäre Letzteres wirksam, könnte man sich Ersteres sparen. Die Koksgnome im weißen Kittel schachern fröhlich mit den Abfallprodukten der Forschung, anders ist ihr Umgang mit derlei Placebo und Zückerchen nicht zu deuten. Früher fuhren sie mit Planwagen über Land und priesen Brackwasser als Allheil-Tonikum gegen eingewachsene Fußnägel, Herz- und ähnliche Infarkte, schlechte Börsennachrichten und chronischen Hirnzellenauswurf. Heute schieben die Drecksäcke Schubladen auf und zu, um im Sekundenschlaf der Vernunft einer hilflosen Schar grundverdeppter Allesglauber Zink anzudrehen, das Nonplusultra der alternativen Medizin.

Weil Zink, sagt zumindest die Pseudomedizin, gegen eigentlich alles hilft, Allergie und Asthma, schwiemelnden Schweißfuß und Morbus Aua. So verkauft der durchschnittliche Pillendreher pro Tag den Gegenwert eines Kleinwagens an Zinkpastillen, obwohl er sein Examen nicht bestanden hätte, würde er den Schmadder, den er den Kunden hier auftischt, einem Pharmakologen ins Gesicht sagen. Vermutlich werden sie irgendwann die grassierende Zinkallergie der Bevölkerung entdecken und mit homöopathischen Nanozinkpartikeln kontern, damit sie wieder Salben, Tinkturen und Gelkapseln unters jammernde Volk jubeln können.

Man kann es den approbierten Mehlmützen nicht einmal anrechnen, dass sie größtenteils Unfug in Tüten ausgeben, der ungefähr so wirksam ist wie der Versuch, seinen Harndrang zur Schlafenszeit in eine Klangschale unterm Bett zu lenken. Da sie den offensichtlich kernhysterischen Patienten mehr oder weniger wirkungs- bis sinnlosen Schrott an die Backe packen, Pflästerchen und Sprühschaum, Creme und Murks-in-Wasser-Emulsionen, geleiten sie die Zweifelnden von einem Beschiss zum nächsten, währenddessen sich wenigstens die subjektive Befindlichkeit, größtenteils jedoch auch der objektive Status verschlechtert. Nach dem zwölften Zink-Magnesium-Kombipräparat mit Apfel-Qualle-Geschmack fegt der Apotheker dann die röchelnden Reste des reflexzonenresistenten Moribundus aus dem Laden und karrt ihn in die Notaufnahme. Vielleicht haben die ja einen besseren Blasentee.

Unterdessen schlägt die Fraktion professionell arbeitender Hypochonder gnadenlos zurück und zeigt den Pharmakolügnern, was eine Harke ist. Auf ihr Geheiß ballern sich Drogeriemärkte und Discounter die Regale voll mit Abführdragées und Pinkelpastillen für Untenrum, für die Omme gibt’s Gingkoglobuli, und wenn Kollege Alzheimer nach Retardkapseln quengelt, ist wohl auch etwas da. Warum in die Ferne schweifen? Wo der normale Konsument sich ohne Leidensdrückerkolonnen den Stoff holt, ist noch genug Platz für andere. Sollte dem Apotheker angesichts des Ansehens- und Einkommensverlustes der Kamm schwellen, empfiehlt sich frischer Ingwer, gerieben und mit Öl vermengt, wahlweise zur innerlichen Anwendung oder großflächig auf dem Kopf verschmiert. Und ansonsten hat er bestimmt noch ein Schächtelchen Zink im Haus.





Zucker für die Affen

12 01 2011

Zwei Tag lang hüstelte ich. Zwei Tage lang konnte ich vor Husten nicht einschlafen. Dann beschwerte sich die Nachbarin über meine Erkältung, und ich wusste, dass ich einem Arztbesuch langfristig nicht würde ausweichen können; schließlich wohnt sie seit Jahren schon im Erdgeschoss, und zwar im Nebenhaus.

Die Praxis war ungewöhnlich voll. Nicht nur die älteren Herrschaften mit Knochenreißen und Gicht, auch das zahlungskräftige jüngere Publikum aus den Privatkassen war zur Vorstellung erschienen. „Das klingt wie ein recht normaler Reizhusten“, konstatierte Doktor Klengel. „Sie hatten einen ganz herkömmlichen grippalen Infekt, eine knappe Woche Halsweh und Schnupfen, vielleicht etwas Fieber, möglicherweise auch Heiserkeit und leichte Kopfschmerzen, und Sie haben die Heizung aufgedreht. Dadurch sind Ihre Atemwege trocken und gereizt, und jetzt husten Sie eben.“ „Es ist wegen der Nachbarn“, bat ich den Hausarzt, „sie leiden unter der Leichtbauweise dieser Häuser – wenn ich abends im Bett einen Krimi lese, müssen sie hinterher Ohrstöpsel gegen das Herklopfen nehmen.“ Klengel wiegte den Kopf. „Ich würde Ihnen Tee verordnen, vielleicht eine dünne Suppe vor dem Einschlafen, oder auch Zwiebelsud mit Kandis. Wenn diese Regierung so weitermacht, werden Zwiebeln vermutlich bald rezeptpflichtig.“ Er blätterte in seinem Almanach. „So eine richtige Bombe mag ich Ihnen nicht geben – den Tussolini lässt sich meist nur unser Amtsarzt zwischen den Entziehungskuren verschrieben, der wurde früher auch gerne von Schlagersängern und Filmstars geschluckt – aber das hier könnte etwas für Sie sein. Bronchiflux forte, Spitzwegerich und Eibisch, ein neues Präparat. Wenn Sie mir mal die kleine grüne Flasche vom Regal herunterreichen mögen?“

Die Packung stand auf dem obersten Bord, ich musste mich recken. Fast hatte ich den Hustensaft in der Hand, da streifte ich das Tablett mit einigen Dutzend Schälchen, die auf mich draufkippten und unter Geräuschentwicklung zu Boden fielen. Kleine weiße Kügelchen sprangen umher. Ich war entsetzt Klengel lief schamrot an. „Das müssen Sie doch verstehen“, stammelte er. „Das dürfen Sie jetzt nicht in den falschen Hals bekommen, das ist alles gar nicht so, wie es aussieht.“ „Das hatte ich mir gedacht“, antwortete ich lakonisch und schnippte mir eine der Milchzuckerperlen vom Ärmel. „Das ist alles ganz anders.“ Die Tür öffnete sich einen Spalt. Fräulein Dickmann schon den Kopf hinein und zischte: „Achtung! Die Schmedecke, sie sagt wieder, es sei ein Notfall! Sie ist in zehn Sekunden hier!“ Die Tür schloss sich; Klengel packte mich an der Schulter. „Hinter den Paravent“, entschied er.

„Das war ja alles ganz wunderbar“, jubelte Frau Schmedecke und knipste erregt ihre Handtasche auf und zu. „Dies Ziehen in der Schulter ist seitdem fast verschwunden, und die Schwindelanfälle sind seit über einer Woche gar nicht mehr aufgetreten. Und was der Hans, also mein Mann ist, dem sein Ischias ist ja auch so viel besser geworden, der spürt den schon gar nicht mehr – Hans, sage ich gestern Vormittag zu ihm, Hans, wenn Du die Pillen immer ordentlich einnimmst, dann hast Du auch bald nicht mehr diese Last mit den Nieren und…“ „Schön“, unterbrach Doktor Klengel ihren Redefluss. „Sehr schön, nur hatte ich Ihnen das Präparat ja vor allem wegen Ihrer allgemeinen Abgespanntheit verordnet. Haben Sie denn seitdem irgendwelche Änderungen festgestellt?“ Frau Schmedecke holte gewaltig aus und zählte einiges auf, von den fettigen Haaren bis zum langsam nachlassenden Hautausschlag in der Steißregion. Ich fühlte meine Hinterpartie ebenfalls kaum noch, zusammengekrümmt zwischen einem Rollschränkchen und einer Klappliege. „Gut, dann nehmen Sie diese hier regelmäßig alle zwei Stunden ein.“ „Auch nachts?“ Klengel nickte entschieden, wie ich durch einen Spalt in der Spanischen Wand sah. „Auch nachts. Bis die Dose leer ist. Danach sollte Ihre Müdigkeit auch weg sein.“

„Ich glaube es einfach nicht!“ Fassungslos hielt ich dem Medizinmann ein Tütchen mit Globuli unter die Nase. „Klengel, Sie sind ja mit der Muffe gebufft! Das kann doch alles nicht wahr sein!“ Er stützte seinen Kopf in die Hände. „Sie haben ja Recht“, murmelte er. „Das hat mir die Höppelmann eingebrockt.“ „Doktor Friedegund Höppelmann-Reisberger?“ Da hörte sich doch nun alles auf. Die Frau kurierte mit Heilsteinen und Ohrkerzen, blies Pflanzenasche in den Wind und verschrieb Dörrobst gegen Bandscheibenschäden. „Sie hat doch in den Weihnachtsferien meine Praxis übernommen. Ich hatte keine Ahnung, dass sie diesen Alternativkram macht – aber sehen Sie es sich an, das Wartezimmer ist voll. Und es kommen auch die Bionadetrinker mit dem Volvo-Kombi, die Homöopathie gegen ihre eingebildeten psychosomatischen Wehwehchen wollen. Also gebe ich es ihnen. Zucker für die Affen. Milchzucker, um genau zu sein.“ „Aber Sie verstehen doch gar nichts von Homöopathie?“

Klengel stand wortlos von seinem Stuhl auf und zog die unterste Schublade des Schranks heraus. Ein Karton stand darin, bis oben gefüllt mit kleinen Tütchen. „Globuli“, stellte er fest. „Dreitausend mal fünfzehn Globuli. Milchzucker. Keine Hundehaare und kein Nieswurz. Reiner Milchzucker. Wenn schon Placebo, dann richtig.“ Er schob die Lade mit einem Ruck wieder zu und kehrte zu seinem Stuhl zurück. „Die Homöopathie ist ein Bombengeschäft für Idioten, die lieber Schüßler-Salze, Bach-Blüten und Schlangenöl nehmen, als das Gehirn zum Denken zu verwenden. Es ist auf eigene Rechnung, auf eigene Gefahr und meist auf gut Glück. Aber was soll’s, sie verlangen danach.“ Er seufzte tief befriedigt auf. „Seit die Höppelmann-Reisberger mir diese ganzen Spinner in die Praxis geschleppt hat, steigen die Heilerfolge stetig an.“ „Und was war mit der Diagnose für die Schmedecke?“ Klengel grinste. „Vierzig Globuli im Abstand von je zwei Stunden, so lange hält keiner durch. Sie wird irgendwann so kaputt sein, dass sie ins Bett fällt und einfach wegpennt. Und dann sollten sich auch ihre Schlafstörungen erledigt haben. Man muss dies homöopathische Zeugs eben nur richtig anwenden.“





Da helfen keine Pillen

27 04 2010

Vorsichtig setzte ich die Schutzhaube auf den Kopf. „Passt perfekt“, lobte Doktor Mierendörfer. „Sie haben einen Pharmazeutenkopf, wussten Sie das?“ Das war mir tatsächlich neu; die einzige Affinität zu jenem Berufsfeld hatte mir mein alter Lateinlehrer bescheinigt, der mir sagte, ich hätte die Handschrift eines Arztes – die Entzifferung einer Klausur über die Menaechmen übernahm ein Apotheker, wie er mir weismachte. Aber denen glaubte ich sowieso nur die Hälfte.

„Schauen Sie sich diese Maschine an. Eine wunderbare Maschine! Sie kann fast drei Tonnen Tabletten am Tag pressen, und sie ist dabei äußerst flexibel.“ Mierendörfer legte einen kleinen Hebel am Steuerpult um. „Jetzt schauen Sie mal.“ Die flachrunden Pillen schienen ein wenig dunkler. Er griff in den Strom der fallenden Ellipsoide und griff sich einige heraus; auf der flachen Hand zeigte er mir die Arznei. „Schauen Sie ganz genau hin – fällt Ihnen etwas auf?“ „Sie sind ein bisschen dunkler.“ Mierendörfer nickte wohlwollend. „Gut beobachtet, und woran liegt das?“ Ich zuckte die Achseln. „Es liegt an der Oberfläche, diese kleinen Noppen werfen Schatten auf die Oberfläche. Nehmen Sie ruhig einmal eine in die Finger.“ Das Ding fühlte sich rau und ungeschliffen an wie Sandpapier. „Das ist sicher erst der Prototyp, habe ich Recht?“ Der Medikamentenmacher krauste die Stirn. „Oh nein! Das Produkt ist vollkommen ausgereift, wir haben es durch eine lange Testreihe geschickt und dabei festgestellt, dass es in seiner Wirkung nicht mehr zu verbessern ist.“ Das aber verstand ich nun nicht. „Versuchen Sie eine“, ermunterte der Doktor mich. „Sie werden es schon finden.“ Doch das Ding ließ sich einfach nicht schlucken – die Pickelchen auf der Oberfläche scheuerten wie Widerhaken. „Sehen Sie? Halswehtabletten! Zwei bis drei Stück, und Sie haben die prächtigsten Schluckbeschwerden!“

Beißende Dämpfe wehten durch die Halle. Es roch wie ein Grillunfall. Meine Augen begannen zu tränen und ich musste unwillkürlich keuchen. „Was ist denn das hier“, japste ich. Mierendörfer reichte mir umgehend eine Wäscheklammer. „Pardon“, näselte er, „sie hätten die hier aufsetzen sollen. Atmen Sie flacher, sonst kommen Sie zu sehr in den Genuss unseres Heiltranks. Sehen Sie den Kessel dort drüben?“ Er führte mich an den Rand eines großen Bottichs, in dem es kräftig blubberte. Blasen kamen an die Oberfläche, denen beim Zerplatzen heiße Dünste entströmten. Ich begriff schlagartig. „Dann muss das hier also Hustensaft sein?“ Der Pharmazeut strahlte. „Sie haben es begriffen!“

Ein altertümlicher Fahrstuhl brachte uns ins Tiefgeschoss. Während die Drahtkabine ratterte, stellte ich mir schon vor, wie es bei der Herstellung von Kopfschmerztabletten zuginge. Der Korb hielt an; ein Glöckchen bimmelte und entließ uns auf einer Plattform, auf dem ein kleiner Pillenautomat stand. Das Ding surrte wie eine Kamera. „Kein Wunder“, klärte Mierendörfer auf, „hier werden ja auch Filmtabletten hergestellt.“ Ein vorsintflutlicher Schalltrichter krönte das Gerät, das unermüdlich einen alten Ragtime vor sich hin dudelte. „Zum Dragieren verwenden wir nämlich nur Schellack.“

Gelbe Kapseln, rote Kapseln, blaue Kapseln – am Ende des Laufbandes fielen die grünen neben den brauen Kapseln in einen Bottich neben den blassrosa-orange-gestreiften Kapseln. „Unsere innere Abteilung“, belehrte Doktor Mierendörfer mich. „Hier haben wir es vorwiegend mit Magen-Darm-Erkrankungen zu tun.“ Ich runzelte die Stirn. „Das hieße ja in letzter Konsequenz, dass Sie Medikamente herstellen, die Krankheiten auslösen. Wie verträgt sich das mit dem Hippokratischen Eid?“ „Ach wo!“ Er lachte hell auf und griff in die bunten Zuckerpillen. „Diese hier beispielsweise machen nur enormes Völlegefühl, wie nach einer zu großen Portion Bratkartoffeln. Ansonsten passiert da gar nichts.“ „Aber das hieße ja letztlich, dass alle diese Medikamente…“ „… Placebos sind“, bestätigte er, „richtig erkannt. Sie haben wirklich einen Pharmazeutenkopf.“ „Und worin besteht dann die Forschung, die Sie hier betreiben? Immerhin sind Sie doch Leiter der Forschungsabteilung, wenn ich mich recht entsinne.“ „Allerdings“, bestätigte Mierendörfer. „Denn nur mit etwas Milchzucker ist es ja in einem Placebo nicht getan. Es braucht Nebenwirkungen.“ „Nebenwirkungen?“ Er nickte.

Ich griff nach einer Packung und zog den Waschzettel heraus. Die Filmtabletten versprachen Übelkeit, Drehschwindel, starke Schweißausbrüche, krampfartige Magenschmerzen und depressive Verstimmung. „Das würde man doch mit zwei Pullen schlechtem Rotwein auch hinkriegen“, sagte ich und rümpfte die Nase. „Aber Sie hätten auch Kopfschmerzen“, trumpfte Mierendörfer auf. „Die macht unsere Tablette eben nicht.“ „Und wozu das alles? Wozu dieser Zauber mit den Wirkungen, die keine sind, und den Nebenwirkungen, die die Hauptwirkungen sein sollen?“ Er faltete die Hände vor dem Bauch. „Schauen Sie“, begann er, „es ist ja so: es wirkt ja doch nichts. Ob Sie die Tabletten nun schlucken oder wegwerfen – alles eins. Und da sollen wir nun (5S,10R)-5-Benzyl-12-hydroxy-2-methyl-9,10-dihydroergotaman-3,6,18-trion und Chinin und andere Stoffe mühsam herstellen, wenn sie doch im Ausguss landen?“ „Aber warum dann die Nebenwirkungen?“ Mierendörfer lächelte feinsinnig. „Wenn es tatsächlich jemand nimmt, muss es die haben – was keine Nebenwirkungen hat, wirkt doch gar nicht, oder? So, und jetzt lassen Sie uns weitergehen. Sie wollen doch bestimmt die neue Rheumasalbe ausprobieren?“





Ärzte ohne Grenzen

11 11 2009

„Lassen Sie nur, er ist mein Begleiter.“ Der bullige Türsteher ließ uns passieren. „Jetzt ganz unauffällig dreinschauen“, wisperte Doktor Klengel mir zu, „und denken Sie daran: Sie sind Doktor Rübele aus Potsdam.“ Ich tastete nach dem Schildchen in der Anzugtasche. Nichts konnte mehr schief gehen. Ich war tatsächlich auf dem Ärztekongress.

Die Lachshäppchen waren angenehm groß, aber unangenehm trocken. Dafür mangelte es nicht an lauwarmem Champagner. Klengel stieß mich an. „Der Vortrag geht gleich los, kommen Sie.“ Der Saal füllte sich schnell. „Der erste Referent ist ein Seuchenspezialist“, informierte mein Hausarzt. Unter schütterem Applaus betrat der Pestilenz-Professor die Bühne. „Wir stehen vor einer gewaltigen Katastrophe“, hub er an, „vor einer entsetzlichen Tragödie von, lassen Sie es mich beim Namen nennen, biblischem Ausmaß!“ Ein Raunen schlich durch den Raum. „Die Schweinegrippe ist eine furchtbare Prüfung, eine Plage, die wir, lassen Sie mich das aussprechen, alle durchstehen müssen. Sie wird sehr viel Kraft, ja, lassen Sie…“ „Was redet der Mann da eigentlich“, flüsterte ich, „die Grippewelle hat doch noch nicht einmal begonnen.“ „Er ja auch noch nicht“, kicherte Klengel. Ich begriff, als der Redner endlich auf den Punkt kam. „Lassen Sie mich das Schreckliche in aller Deutlichkeit zur Sprache bringen – kein Mensch glaubt an die Schweinegrippe!“

Man meinte, die versammelte Ärzteschaft in namenloser Erschütterung zu erleben. Unaufhörlich bohrte der Virenapostel weiter in der Wunde. „Wir haben nur wenige Mittel, nur begrenzte Ressourcen, um dieser Lage Herr zu werden. Wir müssen die Menschen aufklären.“ Tosender Applaus erscholl. „Wir müssen den Patienten klarmachen, dass die Chance, an der Neuen Grippe zu versterben, so hoch ist, wie von einem Hund gebissen zu werden!“ Ich räusperte mich. „Das ist Unfug“, widersprach ich, „woher hat dieser Mann die Zahlen?“ Klengel belehrte mich umgehend; er hatte den Artikel in der Fachzeitschrift gelesen. „Statistik, mein Lieber, reine Statistik. Die Zahl der Schweinegrippetoten, hochgerechnet auf zehn Jahre, ist annähernd so groß wie die der Hundebissopfer in Hessen im dritten Quartal 1983.“ „Das ist doch Quacksalberei! Würden Sie das Ihren Patienten sagen?“ Er zuckte die Schultern. „Die meisten fragen ja nicht nach.“

Das Pandämonium ging weiter. „Mittlerweile ist es so weit, lassen Sie mich das so ausdrücken, dass die Menschen sich immer und überall die Hände waschen. Sie verwenden Desinfektionsmittel! Flüssige Seife!“ Das Stöhnen der Medizinmänner richtete meine Nackenhaare auf. „Papierhandtücher und Mundschutz“, fuhr der Infektionsprophet fort, „Körperhygiene – doch keiner weiß, ob es nicht wirklich alles noch viel schlimmer als schlimm sein wird oder vielleicht noch viel schlimmer! Die Menschen müssen endlich begreifen, dass diese abscheuliche Krankheit von derart exorbitanter Entsetzlichkeit sein könnte, dass in diesem Fall die Hygienemaßnahmen völlig überflüssig wären. Und da wir ja auf das Schlimmste vorbereitet sind…“ Der Rest ging in aufbrandendem Beifall unter.

„Sagen Sie mal“, wandte ich mich an Doktor Klengel, „wer bezahlt eigentlich dies pandemische Panoptikum? Die Krankenkassen oder der Ärztebund?“ „Wo denken Sie hin?“ Er fächelte sich mit dem Programmheft abgestandene Luft zu. „Die Pharmakonzerne natürlich.“ „Ich dachte, dies sei ein medizinischer Fachkongress?“ Klengel nickte. „Ist es ja auch.“ „Aber ich komme mir hier vor wie auf einer Kaffeefahrt mit Heizdeckenpropaganda.“ „Keinesfalls“, entgegnete er, „auf der Kaffeefahrt sollen Sie die Heizdecken kaufen, um keinen Ärger zu bekommen. Hier sollen Sie sie verkaufen.“ Ich schluckte trocken.

Der Grippegreifer holte zum entscheidenden Schlag aus. „Und deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir lückenlos, müssen wir umfassend, lassen Sie mich das jetzt hier in aller Entschiedenheit sagen, darum müssen wir die Verdachtsfälle schonungslos dokumentieren, um überall im Land das richtige Bewusstsein für ein sich entwickelndes Gefahrenpotenzial zu schaffen!“ „Ich begreife es nicht“, murmelte ich, „sie klatschen und merken nicht, dass eine Massenhysterie geplant werden soll.“ „Aber das ist doch nicht unser Part.“ Klengel stimmte in den Schlussapplaus ein. „Das richtete sich an die anwesenden Medienvertreter.“

Wir verließen den Saal. Noch immer klemmte das Schild, das mich als Doktor Gotthold Rübele auszeichnete, an meinem Revers. Hier und da traf mich ein freundliches Nicken. Offenbar war mein Name ein Begriff. Ich war irritiert. „Wer bin ich eigentlich?“ „Sie haben einige Sachen über den Rechtsschenkelblock publiziert“, belehrte mich der echte Arzt an meiner Seite, „und sind folglich ein Kardiologe.“ „Was ist das genau?“ „Ein kleiner Zacken, den man im Elektrokardiogramm sieht. Er tut nichts, oft ist keine Ursache festzustellen, und infolgedessen braucht man dafür keine Therapie. Eine nutzlose Krankheit, gewissermaßen.“ Ich blickte ihn bissig an. „Es klingt, als litte das Gesundheitswesen daran.“

„Mein lieber Rübele!“ Der Pharmarodeur eilte auf uns zu. Mir wurde schwarz vor Augen. „Ihre Abhandlung über arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie – fabelhaft! Sie sind ein großartiger Diagnostiker!“ Geschmeichelt schüttelte ich ihm die Hand. Doch da konnte ich nicht widerstehen. „Und, lassen Sie sich auch impfen?“ Er tippte sich an die Stirn. „Ich? Impfen? Bin ich denn bescheuert?“