Ein Neues

7 05 2023

für Kurt Tucholsky

Da stehst du nun mit nassen Füßen
im Gras, den Frühling zu begrüßen,
und denkst dir: so bei Licht besehn
ist diese Welt doch auch ganz schön.

Wie oft hast du das in der Nacht,
wenn’s mausestill war, schon gedacht:
jetzt blüht es auf, dann wird es rot,
dann schneit’s, und dann ist alles tot.

Du stehst am Anfang. Dieser Kreis
ist rund fürs Kindchen und den Greis,
und keiner weiß, wie lang, wie weit –
du hast ein ganzes Leben Zeit.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCLXI): Immunisierung

28 04 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Wo immer eine Trottelrotte aufmarschierte, um die chirurgisch präzise erfolgte Hirnresektion unter Beweis zu stellen, stets folgte das Gebrüll sattsam bekannten Strickmustern. In Zeiten der Pandemie, wo wirrlichternde Verschwörungsdeppen die Masse der evolutionären Montagsproduktion in geistiges Brachland führen, ist alles erlaubt, es sei denn, es widerspräche der ausgegebenen Parole; was das genau bedeutet, das wissen die meisten Clowns im Synapsenfasching nun nicht, nur Kritik, sagen die Kritiker, ist absolut verboten, da sie sich im Besitz der absoluten Wahrheit befänden. Wer sich etwa auf wissenschaftliche Untersuchungen bezieht, ist ein gekaufter Lügner des Systems, wie dieses System ja auch stets von bösen Mächten wunderbar geborgen die Zerstörung der Welt beabsichtigt – nicht die des Planeten, die geht recht ersichtlich von gekauften Lügnern organisiert vor sich – während die einzig wahre Wahrheit von einem Rudel antiintellektueller Sackpfeifen herausgefunden wurde, die nun mit der Unterhose auf der Rübe singend und klatschend in den Fußgängerzonen herumhüpfen, als hätten sie wegen Akutverstrahlung die Medikamentenausgabe verpennt. Was aber ist und wie funktioniert diese Strategie der Immunisierung?

Das älteste Gewerbe der Welt, das Priestertum, hat sich früh um die Sicherung ihres Berufszweiges gekümmert; das Bodenpersonal der Donnergötter hatte kein Interesse daran, sich in fadenziehenden Diskussionen um die innere Logik von Mythen zu verheddern, geschweige denn daraus resultierende Riten wie prächtige Opfergaben oder eine starke gesellschaftliche Stellung hinterfragen zu lassen. Das Wunder, Numinoses an sich, darf ja auch nicht hinterfragt werden, ohne sich einen Ruf als Ketzer einzuhandeln. Auch dieses ist System, nur eben in der nicht staatlich subventionierten Ideologie kaum so streng reglementiert, was andererseits jedem Bekloppten die Freiheit verschafft, seine eigenen Wahnideen individuell auszuleben. Entscheidet sich eine mehr oder weniger strukturierte Bewegung, Widerspruch grundsätzlich als Feindbild zu werten und dementsprechend aggressiv zu bekämpfen, bietet sich das Dogma an. Zwar haben Dogmen wie andere Überzeugungen ihre Halbwertszeit, nach der ein Funktionär die Vorhölle abschafft oder den Sieg des Sozialismus nicht mehr zum Staatsziel erklärt, aber auch diese bedürfen einer Abschottung.

Das probateste Mittel ist die Leerformel, die verbalen Bauschaum zur Abdichtung gegen böse Kritik oder die hässliche Wirklichkeit schwiemelt. Bekannt ist das Wortgeklöter aus der Esoterik, die im Gewand wissenschaftlicher Religionserklärung zum Allerlei der Paradoxa greift, indem sie jenes höhere Wesen, das sie steuerpflichtig verehren lässt, als transzendent und zugleich immanent, dies- und jenseitig, als alles und dessen Gegenteil beschreibt, da es unbeschreibbar ist. Nun wird der geschickte Theologe aus Kenntnis ost-westlicher Mystik diese Dialektik, die dem Faselbla marxistisch-leninistisch erzogener Kaderkasper Auslöser von Ohrenbluten und bestes Werkzeug zugleich war, für eine geniale Erfindung innerhalb der Heilslehren halten, da sie alle offenen Diskrepanzen zwischen Realität und Ideologie als billige Rechtfertigung einsetzen, alles zu leugnen, gegebenenfalls blutig zu beheben, was nicht der eigenen Ansicht entspricht, wobei es sich größtenteils schlicht um die Wirklichkeit handelt.

Flankiert wird diese Trapeznummer von einem niedriginstinktsicheren Framing, das Leerstellen für eine gelingsichere Totschlagargumentation schafft. Passgenau erfährt das Publikum, was natürlich ist (Verbrennungsmotoren, Atomkraftwerke) und was unnatürlich (Transsexualität, Bären im Wald). Jede Kritik also kommt immer aus der falschen Ecke, die Kritiker haben nichts verstanden, kapieren nicht einmal die Ideologie, die aber im Gegensatz zur Ideologie der Kritiker gar keine ist, und sie haben falsche Werte, meist, weil sie überhaupt welche zu haben meinen. Aus diesem Sumpf kommen die christliche Leitkultur und die Technologieoffenheit, und als Joker hüpft gerne die Menschenwürde aus der Schachtel, jenes Konstrukt, das man sich selbst vor allem zugesteht, wenn man über die Autobahn brettern oder Personen mit der falschen Hautfarbe anzünden will, das durch Grundrechtsmissbrauch aber von jedem Kriegsflüchtling beansprucht wird, obwohl die Verfassung irgendeines Drittweltlandes den Begriff gar nicht kennt, zumindest nicht auf Deutsch. So haben wir denn auch ein Land, in dem das exklusive Wir gut und gerne leben könnte, falls die Mitgemeinten endlich mal verschwänden.

Die hohe Schule des dialektischen Kunstturnens ist erreicht, wenn die Weichstapler mit den eigenen Widersprüchen gegen die eigenen Widersprüche schießen: ist alles wahr, auch das Gegenteil, dann ist das Gegenteil falsch, weil ja das Gegenteil wahr ist. Jeder an sich schon selbstbezügliche Diskurs ist damit sinn-, zweck- und ziellos, weil sie in guter aufklärungsfeindlicher Tradition Kritik als Methode diffamiert. Ein dreibeiniger grüner Affe hält alle dreibeinigen grünen Affen für Arschlöcher, denn er muss es ja wissen als dreibeiniger grüner Affe. Wir werden diesen Widerspruch irgendwann schon noch lösen. Ganz bestimmt technologieoffen.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCLVII): Das Märchen von der fremden Gewalt

31 03 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Das war bei Rrt noch verhältnismäßig einfach. Wer ungefragt seinen Wurfspeer anfasste, kriegte einen Satz heiße Ohren. Ob nur die Sippe am Bach bei der westlichen Felswand ihre Alltagsfragen auf diese Art klärte, weiß heute keiner mehr, doch liegt die Vermutung nahe, dass es in den Erdhöhlen der Steppenbevölkerung ähnlich zuging. Wüssten wir, wer aus welchem Antrieb die Impulskontrolle verlor, wir würden die Ergebnisse strukturieren und zum Ergebnis kommen, dass sich die Stämme zwar alle gegenseitig eine reinzimmern, wenn es gerade passt, dass wir sie aber anhand kleiner Unterschiede durchaus in Gruppen sortieren können, stets mit der Implikation der Wertigkeit, denn was wären solche Untersuchungen ohne selbstgefällige Moral. Eine ethnologische Betrachtung von Gewaltformen ist zwar theoretisch wenig sinnvoll, da es auch keine allgemeingültige Definition der Gewaltformen gibt, aber nichts hindert uns daran, derlei Märchen in die Welt zu setzen – warum also nehmen wir uns nicht einmal unsere eigene westliche Zivilisation vor?

Speziell der Deutsche reklamiert für sich, nicht mit den primitiven Hominiden in einen Topf geworfen zu werden, die er sonst als minderwertige Zuwanderer gerade noch erduldet, auch wenn er sie nur auf dem Arbeitsmarkt als Hilfskräfte verwenden und sofort aus dem Land schmisse, weil sich ihre rassefremde Hautfarbe nicht mit dem Straßenbild vertrüge – ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen wäre nach Ansicht der Arschgeigen mit besser verstecktem Migrationshintergrund ohnehin blanker Volksverrat. Woher also die Hybris, nur der Einwanderer wäre aus Hass auf Personen, die nicht seinem sozialen Hintergrund entsprächen und nicht seine Ideologie teilten, zu gewalttätiger Praxis fähig und würde sich einen feuchten Fisch um geltende Gesetze scheren? Neigt nicht der Deutsche aus tief verwurzeltem Nationalwahn, andere Ethnien als unbrauchbare Evolutionsversager zu bekämpfen, in struktureller Gewalt, die seine eigene Unfähigkeit, sich an die Realität anzupassen, kaum verbirgt? Hat nicht der Teutone quasireligiös verschwiemelte Ansichten zur Gewaltausübung, die er auch mit der Axt in der Hand noch als Notwehr deklariert, weil ja der böse Kriegsflüchtling seine Heimat durch die reine Anwesenheit schädigt und am Ende genetisch verwässert? Glaubt er nicht in einer Art Hexenwahn an die Weltverschwörung, deren Urheber er trotz industriellem Genozid und bewaffnetem Volkszorn nicht ausgerottet bekommt? Sperrt er sich nicht manisch dagegen, dass man seine Gewaltausübung hinterfragt, wenn irgendein Soziopath ein Dutzend Menschen abknallt, während die Polizei genervt ist, dass sie nachts ausrücken darf? Und beharrt er nicht darauf, dass Gewalt als solche nicht missverstanden wird und sich daher schon selbst rechtfertigt?

Alles das wirft der angeblich gesittete Germane den Fremden vor, etwa ein antiquiertes Denkmuster von Ehre und sozialem Rollenverständnis, das in Kapitalverbrechen endet – begeht er selbst Mord und Totschlag, meist Femizid oder Selbsttötung in erweitertem Rahmen, bauscht er seine Opferrolle post mortem zur Familientragödie auf, als hätte es in letzter Verzweiflung keine andere Möglichkeit gegeben, als den ehernen Gesetzen symbolischer Gewalt zu gehorchen. Einen Ehrenmord würde der Rheinländer ja nie verüben, mutmaßlich mangels vorhandener Ehre.

Interpretieren wir Gewalt als kommunikativen Akt, der durch Symbolkraft an Bedeutung gewinnt, wird auch klar, dass beispielsweise Racial Profiling als bedauernswerte, aber letztlich nur pragmatische Handlung zur Sicherheit der Mehrheit durchgesetzt werden muss, egal, was nun in diesem Grundgesetz wieder drinsteht. Ruft eine faschistische Tunte vor dräuender Umvolkungsgefahr dazu auf, dass das Deutschtum männlicher werden müsse, liefert das Heldenideal bereits Feindbild und implizite Freund-Feind-Raster mit, aus denen jeder den Auftrag zu stochastischem Terrorismus heraushören kann, der aus der herbeifantasierten Wehrlosigkeit des Staates die Anwendung von Gewalt durch kriegerische Eliten ableitet. Dies mündet im Paradox, dass die Reichshackfressen ihre eigene Staatsgewalt gegen den nicht existierenden Staat ausüben wollen.

Und so haben auch hoch entwickelte Staaten hinreichend Erfahrung mit einem Gewaltkontinuum von sozialer Ausgrenzung, Fremdkategorisierung, Entmenschlichung bis zur Versachlichung, die den Völkermord als logistische Leistung anerkennt, die nur deutsche Experten so reibungslos auf die Kette gekriegt hätten. Gewalt ist also keine Ausnahme der ansonsten friedlichen Gesellschaftsordnung, dient nicht eben selten zur Stabilisierung vorherrschender Werte und des Normalzustandes, der scheinbar von außen durchbrochen wird, wenn die Wirklichkeit sich wieder nicht an die Hausordnung hält. Wir haben die Destruktivität bereits so verinnerlicht, dass wir ihre Folgen als alternativlos markieren und von Opfern eine Entschuldigung verlangen. Nicht nur ungezügelte Aggression, auch die zwanghafte Unterordnung, die keine Macht verleiht, zerstört. Darum ist unsere größte Bedrohung derzeit der gewaltlose Protest, sich auf die Straße zu kleben. Wer duldet schon Ethik, der sie selbst nicht hat.





Schlussgesang

26 03 2023

für Erich Kästner

Wir gehen fröhlich vor die Hunde.
Wir drehen auf der alten Welt
noch eine allerletzte Runde.
Wir gehen fröhlich vor die Hunde,
bis dann der letzte Vorhang fällt.

Wir lassen den Planeten brennen.
Nichts wäscht von uns die große Schuld,
nach uns wird man die Zeit benennen.
Wir lassen den Planeten brennen
aus Habgier, Geiz und Ungeduld.

Ob wir das alles überleben?
Stehn Kinder dann vorm Weltgericht?
Wir haben ihnen nichts zu geben.
Ob wir das alles überleben?
Wen kümmert das. Die Welt wohl nicht.





Der Buddha

12 03 2023

für Kurt Tucholsky

Äußerlich ist er gerundet
und aus Bronze, blank poliert.
Dass beim Anblick man gesundet,
wurde er so ausgeführt,

dass des Leibes Wölbung bitte
um Berührung mit der Hand,
die sich in der Ruhemitte
wie zum Segen wiederfand.

Und wie er auch meditierte,
ist die Schwere scheinbar leicht,
was zu der Erkenntnis führte:
Setz Dich. Schweig. Du bist. Das reicht.





Gesang der Engel

26 02 2023

Was aber, wären tausende Millionen,
so unbegreiflich wie in fernen Sphären,
die in und außerhalb und durch uns wohnen
und uns in ihrem Wohlgesang verklären?

Was, wäre ihr Gesang unsre Begleitung,
und jedem in der Welt ein eigner Bote?
Und wüssten alle, Lebende und Tote,
von einem Weg und von seiner Bereitung?

Wir lauschen aber, und wir wissen nicht.
Es ist um uns ein unsichtbares Licht.





Der Hungerkünstler

12 02 2023

Da stehen sie. Sie schauen ihn beim Hungern,
und weiden sich an Dürftigkeit und Leid.
Ein wenig aber ist ihr Blick voll Neid,
wie sie beharrlich vor dem Käfig lungern.

Er leidet dort für sie. Wer das begreift,
missgönnt ihm doppelt den Verzicht auf Speise
und isst hernach auf die gewohnte Weise
für zwei, wie er die Schuld von sich auch streift.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXLIX): Narrative

3 02 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Das Herrschergeschlecht der Pumploiden kennt man in der Historie als Bezwinger des rotkarierten Schuppentiers, welches sich noch heute auf Wappen und Banknoten des Fürstentums erblicken lässt. In grauer Vorzeit hatte das Ungeheuer eine Jungfrau als Nachspeise verlangt, worauf sie vom legendären Gründer der Dynastie unter Zuhilfenahme eines Bratspießes in Biomasse überführt wurde. Hochzeit und Happy End, und bis heute nennen sich die Einwohner des strukturell benachteiligten Fleckens an den Ufern der Schlotter die Drachentöter. Nichts davon ist gerechtfertigt, Bruttoinlandsprodukt und Kriminalstatistik zeigen eine genetische Sackgasse. Doch die Folklore siegt, und das Narrativ bestimmt das Selbstverständnis der Menschen. Warum nur?

Weil es in einer zunehmend sinnfreien Welt den Sinn stiftet, der als Perspektive auf trübe Zukunft die emotional aufgeladene Vergangenheit zu einem Transportmittel macht für die Werte, die Identität versprechen. Manches davon ist pure Erfindung, wesentliche Narrative aber die Überhöhung der an sich banalen Wahrheit, die sich selbst in goldenem Licht spiegelt. Wir haben uns im Krieg gegenseitig platt gebombt? Das Wirtschaftswunder! Eine Rotte Soziopathen, deren religiöse Wahnvorstellungen als nicht mehr tragbar galten, hat eine Kolonie auf der Basis von Genozid und Versklavung gegründet? The Land of the Free! Die Konstruktion des Realen aus selbstgerechtem Gerümpel ist zwangsläufig subjektiv und bleibt es auch, wenn alle Variablen sich ändern. Was passiert, wenn sich die etablierte Klasse aus den Versatzstücken ihrer Mythologie ein Sortiment aus Legenden zurechtschwiemelt, sieht man an den Verzerrungen des Kapitalismus. Noch nie ist ein Tellerwäscher zum Millionär geworden, selten hat sich Leistung gelohnt, zumindest nicht für den, der sie erbringt. Werbung, Wahlkampf und Weihnachtsansprachen, allerlei Propagandaschwulst in wechselnden Gewändern, treten den Quark breit, in dem unsere geistigen Fundamente feststecken. Was von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sowie der FDGO bleibt, wenn der Vorhang gefallen ist und die Protagonisten sich abschminken, hat mit der Idee wenig zu tun. Dass wir uns in einem der reichsten Länder der Welt (Bierzeltversion) nicht leisten können, Kindern ausreichend Geld für eine gesunde Ernährung zur Verfügung zu stellen (Realpolitik), fällt öfter als gelegentlich auf.

Je gemütlicher es sich eine Gesellschaft als Erzähler des eigenen Lebens macht, desto weniger ist sie noch Autorin der eigenen Realität. Sie lässt sich, geübt darin, nicht aus dem Bild auszubrechen, in der Geschichte treiben, anstatt Geschichte zu schreiben. Nicht nur der Fatalismus der Fiktion, die nach bewährten Mustern immer gleich abschnurrt, ist ein massives Hindernis, unsere Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, auch der Irrglaube vom guten Ausgang des Märchens hält uns davon ab, in der Wirklichkeit anzukommen. Alle leben wir noch heute und sind infolgedessen glücklich. Bis auf die, die daran gestorben sind. Und so klammern wir uns an die Vergangenheit, aus der scheinbar folgerichtig alles wächst, was uns Bedeutung gibt, wenngleich wir die Auswahl haben, was wir wann anwenden. Entweder sind wir als Deutsche oder Europäer die aufgeklärteste Kultur der Welt, stark und innovativ, oder wir werden als christliches Abendland von den minderwertigen Völkern, die ungerechterweise viel kräftiger sind, unterdrückt und ausgerottet. Da die islamische Welt, China, der ehemalige Ostblock mit dem Platzen der Weltwirtschaftsblase jeweils ihre eigene Story entgegenhalten konnten, wankt auch die Hegemonie des westlichen Machtzentrums um eine kaum noch vorhandene Mitte. Öfter und mehr begegnen einem bigotte Bizarrerien, in denen die populistischen Dummschwätzer uns weismachen, die Werte der Aufklärung, eben Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nebst Gewaltenteilung, wären nicht gegen das christliche Abendland erkämpft worden, sondern dessen Folge. Kaum zu glauben, dass es geglaubt wird, weil es absurd ist.

Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass auch Verschwörungserzählungen Narrative sind, die an der Zielgruppe der Knalldeppen ausgerichtet die Wahrheit in eine unerwünschte Richtung verdrehen. Unter Ausnutzen der Logik werden Widersprüche einfach eliminiert, bis niemand mehr rafft, dass das Fiktionale der entscheidende Faktor von Fiktion ist. Die Geschichten wurden einst ersonnen, um in der gefahrvollen Welt der Zukunft einen Kompass zu haben, der heute aber immer seltener metaphorisch verstanden, sondern für bare Münze genommen wird. Was nicht plausibel erscheint, wird mit den Werkzeugen der Erzähltechnik zurechtgedengelt, bis es in den windschiefen Rahmen des modernen Weltbildes passt. Hier lohnt kein Ausbruch, wir laufen auf einem Möbiusband aus alternativen Fakten der Wirklichkeit hinterher, die keine andere Seite der Medaille kennt.

Eine Ermächtigung für Ohnmächtige in Form von Aberglauben ist der wirksamste Weg, jede Art von Selbstreflexion des Individuums auszuschalten. Wo der Hokuspokus symbolische Qualitäten erhält, sind wir für die kritische Vernunft schon so gut wie verloren. Leugnen ist zwecklos. Keiner glaubt uns.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXLVIII): Das Ende der Geschichte

27 01 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Fragt man Menschen im vorgerückten Alter, sie werden überdurchschnittlich oft von den guten alten Zeiten schwärmen, in denen alles noch besser war, weniger schnell und ermüdend, gesünder, tiefer in seiner Befriedigung und mehr getragen von dem nachhaltigen Bewusstsein, in einem qualitativ sich gut entwickelnden Dasein eine richtige Rolle zu spielen – im Gegensatz zu dem Zerrbild, das sich heute als Wirklichkeit ausgibt, mühsam als billige Fassade an die nackte Wand des sozialen Rohbaus getackert, hinter deren Kulisse besser keiner guckt. Da plärren die Gesellschaftsingenieure auf: aber die Zukunft! Flugtaxis! Künstliche Intelligenz! alles bollert mit synthetischem Sprit über Autobahnen! Wozu, möchte man fragen, brauchen wir da noch Zukunft, wenn uns das Ende der Geschichte, wie wir sie kennen, schon prophezeit wurde?

Früher bestand der Geschichtsunterricht daraus, Schlachten auswendig zu lernen, doch wir warten noch immer auf das Ende der Kriege. Was uns verheißen war, sollte nicht weniger sein als die endgültige Befriedung der Welt in einem Zustand der Ultrastabilität, äußerlich geprägt durch die aus militärischen Katastrophen gewachsene Erkenntnis, dass nur Allianzen uns als Menschheit solidarisch retten können, innerlich gefestigt vom Gedanken der christlichen Gesinnungsethik, dürftig mit der Schminke des Kapitalismus als Religionssurrogat verspachtelt, das nur für Grab- und Sonntagsreden reicht, ansonsten aber nur für grobes Grinsen. Die liberale Demokratie sollte das Allheilmittel sein.

Bündnisse hin, Verflechtungen her, allein in der Institution der Nationalstaaten gerinnt die übliche Trennung zwischen uns und allen anderen zu einem bei jeder Gelegenheit produktiven Anlass, den Bekloppten Wurstbrot und Sonnenschein zu versprechen, auf dass es ihnen besser gehe als den Bescheuerten jenseits des Schlagbaums. So dumm wäre kein machthungriger Politiker im Wahlkampf, dass er in seinem Regierungsbezirk, in seinem Staat oder sonst wo stünde und verspräche, dass es den Nachbarn bald genau so gut ginge wie dem eigenen Volk; man würde ihn mit dem Schlagring aus dem Bierzelt jagen und sich eine verlogene Arschgeige holen, die im Vollrausch der Machtbesessenheit ein intellektuell abgehängtes Stückchen Agrarland zur Krone der Zivilisation erklärt und als künftiges Zentrum des Kontinents in die Annalen schwiemelt. Es hat immer funktioniert, es wird auch weiterhin anstandslos funktionieren.

Denn was den Menschen, wenigstens denen mit westlich zentrierter Blickrichtung, eingetrichtert wurde, ist das angebliche Ende aller größeren transnationalen Konflikte unter dem Zuckerguss der kapitalistischen Globalisierung, die heimlich dazu benutzt wird, auf nationaler Ebene die guten alten Ängste zu bedienen, wenn wieder ein Konzern in ein anderes Land abzuwandern droht, weil ihm dort noch höhere Subventionen gezahlt werden, weil der Markt mal wieder anders regelt als erhofft. Einige Kulturen, die sich partout nicht in die westliche Geschichte einordnen, führen ein kapitalistisches Schisma herbei: China, die arabische Welt, die afrikanischen Militärdiktaturen, allesamt nicht an der Demokratie interessiert, nicht einmal an der marktkonformen, schließlich die alte Sowjetunion, die sich als neues Russland verkleidet, alle sie sind treffliche Gegenbeispiele von Kulturen, die in offener Feindschaft auftreten gegenüber einer als dominant empfundenen westlich-reformierten Politik, die auf Narrativen wie dem calvinistischen Gruppenethos oder der unsichtbaren Hand beruht, nicht aber auf dem Eingeständnis, dass jahrhundertealte Sprach- und Herrschaftsgrenzen mit einer Heilslehre nicht wegzuradieren sind, vor allem nicht dann, wenn zentrale Versprechen wie Aufstieg, Wohlstand und Vorsorge sich als dünnes Geschwätz entlarven lassen.

Vor allem aber versagt diese Erzählung, wenn die Menschheit als Ganzes vor ihrer Auslöschung steht, während die Macher der Geschichte sich mit fadenscheinigen Lügen aus der Affäre ziehen oder mit aggressiven Beschuldigungen alle anderen für die Katastrophe verantwortlich machen wollen. Die Rettung der Welt ist auf nationaler Ebene schwer zu bewerkstelligen, denn auf den Wettbewerb kam es nie an. Wo die beste aller Welten in der Theorie bereits so gut wie existierte, konnte man sich als Nutznießer gemütlich zurücklehnen und dem Paradies beider Entstehung zusehen. Wir haben in einem global vollkommen versaubeutelten System gelähmt zugesehen, wie der Wasserstand langsam bis an die Dachoberkante anstieg, und jetzt sind wir überrascht, dass das Wasser nicht nur in einer der vielen Statistiken erscheint, sondern höchst real ist. Auch das könnte das Ende der Geschichte sein, das Ende sämtlicher Geschichten sogar, und es gibt die eine oder andere Religion, in der man den falschen Propheten die Rübe weghaut. Sollten wir nicht den Kulturen, die wir so fleißig ausgebeutet haben, ein wenig entgegenkommen, könnten wir die Propheten sein. Denn Identität ist nach wie vor ein probates Mittel zur Sinnstiftung, und nach wie vor ist es die Utopie. Keiner hat behauptet, dass wir darin die Hauptrolle spielen müssen. Oder bis zum Ende.





Ideal

15 01 2023

für Christian Morgenstern

Was Du als Richtiges weißt,
wirst Du begreifen,
näher als alles dem Geist,
in ihm zu reifen.

Was vom Wahrhaftigen zeugt,
musst Du auch schauen,
wenn es den Stolz Dir auch beugt,
sollst Du vertrauen.

Was Dich am Anfang beseelt,
nimm’s zu behalten.
Erst, wenn Dein Eigensinn fehlt,
magst Du gestalten.