Gernulf Olzheimer kommentiert (DCXXXIX): Aggressionsverschiebung

4 11 2022
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Steppenleute waren schuld. Uga hatte schon den dritten Sommer erlebt, in dem die Fische im kleinen Bächlein an der westlichen Felswand nicht mehr laichen wollten, inzwischen ging ein Teil der Population dazu über, mit dem Bauch nach oben der Strömung zu folgen. Kausalzusammenhänge, die auf der Einleitung von Fäkalien in den oberen Bachlauf beruhten, ließen sich mangels sorgfältig durchgeführter Langzeitstudien mit Kontrollgruppe nicht belegen. Aber Uga wusste sowieso alles, vor allem wusste er alles besser. Die Steppenbewohner, die seit Generationen in Feindschaft mit dem Volk der Höhlenhauser lebten, sie waren der einzige plausible Grund für das aussterben der Fische. Nur sie, die ansonsten Säbelzahnziege und Panzerhase jagten, was ein Dutzend Tagesmärsche in Richtung Sonnenaufgang auch ohne Weiteres möglich war, kamen als Täter in Frage. Vielleicht schissen sogar diese bösen Stämme selbst in den Bach, um den Troglodyten in perfider Schuldumkehr Unfrieden zu bringen? Egal, das Narrativ hatte sich gebildet, und für kommende Zeiten stand fest, dass man die Jäger der Ödnis aus Rache töten dürfe, da man sich die eigene Verantwortung am Scheitern nicht offen würde eingestehen können. So etablierte sich die Aggressionsverschiebung als Abwehrhandlung.

Der Mechanismus ist immer derselbe: kann der Bauer nicht schwimmen, ist die Badehose schuld. Im kindlichen Stadium schmeißt der Hominide mit Gegenständen um sich, wenn ihm der Brei nicht schmeckt, was etliche Deppen an den Schaltstellen der gesellschaftlichen oder politischen, meist auch wirtschaftlichen Macht, einfach beibehalten, da sich jede Art von Verantwortung damit ebenfalls in die nächstbeste Ecke schlenzen lässt. Wie gerne wird alles, was uns nicht in den Kram passt, verdrängt und zu dem gekehrt, was andere unter den Teppich geschwiemelt haben. Abgesehen von der typischen Befriedigung, die das erfolgreiche Abwehren einer sittlichen Kraft auslöst, muss der Realitätsallergiker nun öffentlich handeln, und also schmeißt er eine Scheibe ein – von innen, deutlich sichtbar, da vor Zeugen, aber er ist zur tat geschritten, und nur das zählt für sein Wertesystem. Mehr muss man über diese Werte auch gar nicht wissen.

Es geht dem Aluhütchenspieler mit eigener Ich-Wahrnehmung im ihn umkreisenden Kosmos um Lustgewinn (wo nicht?) und Unlustvermeidung (die er seltener zugibt), und folgsam sucht das Egodings nach Abwehrmöglichkeiten. Wen es wundert, dass Regression, Spaltung, Verneinung, Dämonisierung gleich mit in der Suppe schwimmen, die Knöpfe für solche Hirnkorrekturen liegen ja gleich daneben.

Wir verneinen die Auswirkungen von Pandemie, Austerität oder Klimawandel so lange, bis wir die Folgen nicht mehr ausblenden können, weil der Elefant im Raum längst alles andere an die Wand klatscht; schuld sind aber immer andere, die wir mit aggressiver Anklage fein säuberlich an die Wand nageln: eine Jugendliche, die uns die rohe Botschaft überbringt und dafür gesteinigt werden muss, eine Gruppe von Aktivisten, die schon für das Richtige demonstriert, die aber zu den Bösen gehören muss, weil das keine von uns sind. Die just regierenden Nachtmützen fordern mehr Fortschritte, die die gerade nicht mehr Regierenden versäumt haben – Überschneidungen sind rein zufällig – verhindern sie aber, weil sich dafür ein Sündenbock finden lässt. Die nicht mehr regierenden Wurstverkäufer haben für Jahrzehnte alles für die Erhaltung der Zivilisation planmäßig in die Grütze gehauen, sind nun aber empört, dass die aktuell Regierenden nicht innerhalb weniger Tage den Stein der Weisen aus der Schublade ziehen, wie man es selbst immer der Bevölkerung versprochen hat, die nun vor den Trümmern einer gemeinsam demolierten Welt steht und längst eine leise Gleichgültigkeit empfindet, wer sie nun eigentlich zerstört hat.

Allen gemeinsam ist der Hang zur Regression, die das Verschieben unserer Affekte so wundervoll erleichtert, weil damit jegliche Verantwortung an der Garderobe abgegeben wird. Nicht zuletzt die anheimelnde Opferrolle, in der sich trotzig-infantil der gerade noch vor Kraft humpelnde Übermensch wälzt, ist ein schlagender Beweis dafür, dass mit dem Erleben von Frustration das Verhalten fixiert wird – wer einmal in seinem narzisstischen Ego Kränkung erfahren hat, macht dies auch weiterhin für die Folgen der eigenen Blödheit verantwortlich. Dass sich der durchschnittlich faktenferne Depp in einer Deckerinnerung alles wahrlügt, was in sein ramponiertes Weltbild passt, befördert die Neigung zur Verschwörungserzählung, die noch immer jedes Versatzstück harmonisch verarbeitet hat.

Und so bleiben wir bei den einfach gedengelten Erklärungen, warum die vielen Fremden in dieses Land kommen, das ja das beste und reichste der Welt ist, aber leider von allen ausgenutzt wird und unmittelbar vor der Auslöschung steht durch diese Leute, die eigentlich hier arbeiten sollten, aber nur für ganz wenig, und die trotzdem nicht herkommen, obwohl man sie sowieso irgendwann rauswirft, weil sie ja letztlich hier nichts zu suchen haben, wo sie uns schon nicht helfen, das schönste Land der Welt zu sein. Keiner versteht uns. Es ist ein Rätsel.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLXXXI): Das Phänomen der Beibehaltung

10 09 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Krach im Paradies: Rrts Lieblingsfeuerstein war einfach nicht mehr aufzufinden. Die gesamte Höhle hatte der Schwager des Sippenältesten durchwühlt, Winter- und Sommerfell umgewendet, Körbchen mit Buntbeeren und Nüssen geschüttelt – nichts. Auf dem kleinen Felsvorsprung, da Ugas Speer und ein paar Lagen Bast ruhten, Zweige für Pfeil und Bogen sowie die Kieferknochensäge von Nggr, da fand sich das Werkzeug unter anderen Keilen und Messern. Keiner wusste, wie das Utensil dort hatte auftauchen können, bewahrte doch Rrt seinen Lieblingsfeuerstein stets an anderer Stelle auf, auch wenn diese ihm hin und wieder entfiel, in letzter Zeit meist täglich. Leichter wäre es gewesen, er hätte sich zur pragmatischen Lösung entschieden und den Schneidestein stets an der Stelle deponiert, an der er für alle zu finden sein würde, zum Beispiel auf jenem kleinen Felsvorsprung. Aber das war mit ihm nicht zu machen. Viel hatte Rrt nicht im Kopf, aber das war gründlich verschaltet, wie das Phänomen der Beibehaltung zeigte.

Auch heute noch zeigt sich die Wirksamkeit des Gewohnten als Erleichterung für Praxis. Wo einmal der Stift auf dem gut gefüllten Schreibtisch abgelegt wurde, bleibt er fortan auch liegen – außer, von den südlichen Hängen des Eingangskorbs segeln zehn bis neunundneunzig Blatt herunter und begraben das Schreibgerät unter sich, worauf eine Mission archäologischer Art stattfinden muss, um Materie und Strahlung voneinander zu trennen. Wer immer am Donnerstag den Gang zum Gemüseladen antritt, wird seine Gründe haben, dies auch über Jahrzehnte beizubehalten, gerät aber angesichts gesetzlicher Feiertage leicht in Schwierigkeiten, wenn sich die Realität als zu unflexibel erweist im Vergleich mit der eigenen Organisation. Ganze Lebensentwürfe, wie sie ein geistig nicht gesegneter Kotzkopf hatte, der von gelangweilten Schnöseln nach ganz oben durchgereicht wurde, um irgendwann das Land im Bodensatz seiner Dämlichkeit zu verschwiemeln, werden einmal in die Gegend geklotzt, stehen da, bedeuten nichts, und man lässt sie doch da, wo sie sind.

Nicht jedes Gewohnheit bietet die Friedlichkeit des Rituals, das ein Dasein mit zeitentrücktem Sinn strukturiert; bisweilen ist es praktisch, den Stift zur Rechten hinzulegen, wenn es die Suche effektiver macht, gleichsam als gedankenloses Reagieren auf die Notwendigkeiten des Daseins, die nicht so viel Rechenleistung erfordert wie aktive Beschäftigung mit den Objekten der Umwelt, was bei manchen an festgerosteten Synapsen scheitert, bei manchen an der preiswerten Grundausstattung unter der Kalotte. Andererseits birgt der Trott in einer komplexen Umgebung auch Konfliktpotenziale, gerade in der Zweierbeziehung, in der eine Seite die Nagelfeile in der Schublade mit den Schwimmflügeln, dem Reisewecker und den Impfpässen versteckt und die andere Seite sie einfach nicht findet. Diese sozialen Defizite haben vermutlich dazu geführt, dass das Bernsteinzimmer, die Weltformel und der Stadtplan von Atlantis frühzeitig verloren gingen, nicht, weil sie nicht mehr gebraucht wurden, sondern weil sich derjenige, der noch genau wusste, wo sie immer gelegen hatten, aus dem Staub gemacht hat.

Sind die evolutionären Wurzeln der Gewohnheit auch unumstritten – immerhin können wir die nicht ganz so wichtigen Willensentscheidungen nebenher ausführen und müssen nicht ständig einen Akt der Verwaltung oder Verzweiflung ausführen – sie finden nur noch selten in lebensbedrohlicher Lage statt, wenn wir zielsicher den Feuerstein aus dem Gürtel ziehen müssen, um einen Pfeil zu schnitzen, bevor die Säbelzahnziege schlechte Laune kriegt. Sicherheit ist in der postmodernen Gesellschaft gründlich institutionalisiert, regelhafte Rationalität bringt uns dahin, Probleme mit Algorithmen zu lösen statt mit zielgerichtetem Nachdenken. Wir reagieren auf einen gewissen Reiz gar nicht mehr, lassen die Verhaltensunterdrückung arbeiten und werden automatisch, was wir bei entsprechender Routine als Fertigkeit verstehen. So wird der hinters Ohr geklemmte Stift alsbald zum Merkmal der pragmatischen Qualität, was kein Kunststück ist; das Ohr bleibt mit höherer Wahrscheinlichkeit an seinem Ort und wird nicht mit Schwimmflügeln in der Schublade verstaut.

Das Beibehalten einer noch so unsinnigen Handlung entlastet also die praktische Vernunft, steht aber gleichzeitig der Ausbildung ganzheitlich-kreativer Denkansätze im Weg, die die Verstarrung des Gewohnheitsmäßigen aufbrechen. Immerhin belohnt unser Gehirn uns für den Griff nach dem Griffel, nicht großflächig, aber mit einer gewissen Zuverlässigkeit, die bald Macht erlangt und alle Spuren des Gedächtnisses an Abweichungen vom Normalfall ausradiert. Bestimmt hat der erste unter Stress stehende Mensch am Rande des Paradieses den Zigarettenautomaten entdeckt, seinem Leben mit dem neuen Ritual eine neue Wendung gegeben und sein limbisches System austricksen wollen, während er von seinem limbischen System sauber ausgetrickst wurde. Am Ende, wir ahnen es, ist alles Biochemie. Irgendwer hatte es mal besser auf den Punkt gebracht. Irgendwer hat das verschlampt.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DLII): Aberglaube

19 02 2021
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

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Rrt musste es von einem Schwippneffen aus der dritten Quersippe angenommen haben. Jedenfalls klemmte man sich nun nicht mehr die Reiser des Buntbeerenstrauches symbolisch hinters Ohr, um das Jagdglück auf die Säbelzahnziege zu locken, man malte rote Beschwörungsbilder auf die dem Sonnenaufgang nächstliegende Wand der Höhle, in der das Tier zerlegt werden sollte. So oder so, meist zerlegte das Tier eher den Jäger, doch wer stur mit Zweig am Horchlöffel auszog, wurde fortan schief angesehen. Oft hielt man die Leute für etwas naiv bis ziemlich doof, und da Be- wie Verschwörung auch theoretisch gut funktioniert, dichtete man den Spökenkiekern mit dem Grünzeug auch gern etwas anderes am Kopf an, das bestimmt Unglück für den Rest der Sippe bedeutete. So wuchs auf durchaus gut gedüngtem Boden, was der durchschnittliche Feuchtbeutel bis heute Aberglauben nennt.

Aberglaube, das Wort drückt den Widerspruch aus, in dem sich die offizielle Frömmigkeit zu ihren meist sorgsam vergrabenen Wurzeln befindet; der sich mit Totem und Talisman behängende Bürger weiß natürlich, dass Laufrichtung und Farbe einer Katze nichts mit Zu- und Unfällen zu tun haben, lehnt auch die mittelalterlichen Begleitexzesse am Rande der Hexenverbrennung ab, gruselt sich aber instinktiv und vertraut auf vierblättrigen Klee als praktischen Angstlöser. Die superstitio ist übrig geblieben aus versunkenen Kulturen eines vorwissenschaftlichen Zeitalters, allerdings nur in den Formen, die sich nicht für eine geschmeidige Umsemantisierung eigneten. Den Krähenruf als Boten des Todes lehnt der aufgeklärte Citoyen ab, den christlichen Blutritt als Schutzzauber für exakt einen Herrschaftsbereich erkennt er als überformten Mystizismus gegen germanische Geister noch an, die inzwischen säkularisierte Fahnenweihe, bei der das Mana eines energiegeladenen Objekts durch die Berührung auf ein anderes Objekt übergeht und so die militärische Unschlagbarkeit eines Bataillons sichert, steht als behördliche Kulthandlung sowieso jenseits jeder Kritik und wird nur von gottlosen Kulturzerstörern abgelehnt. Aberglaube ist die bucklige Schwester der staatstragenden Religion, an die man glaubt, um sein soziales Image gegen die Anfeindungen des Teufels zu imprägnieren.

Doch ist er so hartnäckig wie produktiv, nutzt die Mundpropaganda und die Nachahmung in jeder Phase der Sozialisierung, ist bis zum Amorphen verform- und verschwiemelbar und dabei schneller unterwegs als die im Ritus langsam verkrusteten Strukturen und Inhalte des Hochglaubens. Während der postmoderne Pater noch nach seinem Brevier kramt, um das passende Stoßgebet zu finden, hat Erika Mustermann schon auf Holz geklopft.

Die Produktivität dieser Wahnvorstellungen, die oft einfach der Angstregulation und der Erklärung komplexer Sachverhalte dienen, sorgen so auch für eine fröhliche Auferstehung aller Hirnrissigkeit, die in schwierigen Zeitläuften den Bekloppten aus der Rübe rattert: mit magischen Mätzchen will der Bekloppte sich ein radikal vereinfachtes Weltbild zurechtzurren, damit das Denken ja kein Kopfweh macht. Was sich messen, zählen, wiegen und wägen lässt, das lässt im Epizentrum der Behämmerten die Gewissheit wachsen, Herr seiner Welt zu sein. Wo die Situation sich verfinstert, weil Zusammenhänge nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind – oder in ihrer Unerbittlichkeit das gewohnte Bild einer beherrschbaren Umgebung in die Tonne treten – glaubt der Hominide buchstäblich alles und alles buchstäblich. Wo sich mit institutionalisierter Vernunftreligion nichts mehr wegzaubern lässt, da greift der Kurzstreckendenker zu den religiösen Hausmitteln aus dem gut eingetrockneten Lager der Altvorderen: Hasenpfote und Hühnergott, jeder Strohhalm hilft, denn in angespannter Lage versteht eins die Welt vor allem zeichenhaft, ohne jedoch einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sich jeder aus Vogelflug und Gespenstern seine eigene Semiotik zusammenklöppelt. Allein dadurch, dass wir dem Tragen roter Mützen eine tiefe Bedeutung beimessen, die je nach Überlieferung für Reichtum sorgt oder die Wahrscheinlichkeit eines Brandes erhöht, schafft sich Illusion den Resonanzboden, den sie für ihre Selbstwahrnehmung als Realität nutzt. Man wird schon der organisierten Form von Hokuspokus nicht Herr, es wird gependelt und mit Heilstrahlen gewedelt, gesundgebetet und allerhand Murks für teuer Geld verkloppt. Was nun billig und schnell anwendbar ist, wenn man nur selbst daran glauben kann, setzt sich an die Spitze sämtlicher Desinformationskampagnen, die von Arschgeigen gegen Urteilskraft und Erkenntnis gefahren werden.

Wie putzig, dass sich in einer Gesellschaft der Leistungsträger die Verunsicherten auf esoterischen Firlefanz verlassen, der nur auf Selbstbetrug und Wunschdenken beruht und nichts als Täuschung hinterlässt – und Enttäuschung. Aber was erwartet man von einer Gesellschaft, die den Kapitalismus als Glaubenssystem wählt, das auf der irrationalen Vorstellung vom materiellen Fetisch als Retter vor der Bedeutungslosigkeit beruht. Wer’s glaubt, wird selig, wozu zeitnahes Ableben Voraussetzung wäre. Alles wird gut. Bei wem auch immer.





Gernulf Olzheimer kommentiert (DXVII): Deutsche im Todestrieb

5 06 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Sie sind, auch wenn sie so tun, als hörten sie es nicht gerne, die Musterschüler unter den halbwegs als Industrienation erkennbaren Pausenclowns der Erdgeschichte, zufällig in der von Flachland, einer Gebirgsregion und langweiligen Hügeln geprägten Geografie Mittelmitteleuropas geboren und damit erkennbar privilegiert, weil sie innerhalb der letzten Jahrtausende nur wenig Gelegenheit hatten, von Naturkatastrophen ausgelöscht zu werden. Hier und da nagten Sturmfluten kurz an der Küste, aber sonst führten sie ein apathisches Dasein. Hätten sie es nicht hin und wieder durch Kriege aufgelockert – teilweise blitzartig fürs Volk ohne Raum, teilweise als dreißigjährigen Versuch, Raum ohne Volk zu erschaffen – sie wären schläfrig in Trübsal und Verdruss versuppt, elend erschlafft, matt ins Grab gesunken und längst vergessen. Natürlich hätte eine Weltgeschichte ohne Deutsche auch funktioniert, mutmaßlich nicht schlechter, aber nicht ohne die manisch mahnende Vorbildfunktion dieses Volkes, das von nichts mehr beherrscht wird als von seinem Todestrieb.

Andere feiern Dolce vita oder Savoir-vivre, der Teutsche ist zuerst pünktlich, dann gründlich, und zuletzt trennt er den Müll, auch hier in der Stunde des Abschieds vom Dinglichen penibel, weil er sich vom Paradies der Einwegflaschen nur die sortenreine Auferstehung vorstellen kann. Wo Verwertungslogik regiert, und wo in diesem Land regierte die nicht, da sucht sie ihre Rechtfertigung im Rituellen, wofür der Preuße ja wie geschaffen scheint, liebt er doch nichts mehr als die Wiederholung des immer gleichen. Denn wo sich nichts ändert, nichts sich entwickelt, sind nur Stillstand und Zustandserhaltung möglich, von vorsichtigen Kritikern Konservativismus genannt, von Realisten Tod. Der labile Status, ob als Knick im Paradekissen oder billiger Sprit an der Tanke, alles das darf nie verloren gehen und wird zum Unvergänglichen verschwiemelt, das auf Erden und erst recht anderswo Ereignis wird, vornehmlich als Leitkultur, von der keiner weiß, was da eigentlich drinsteckt, eventuell das christliche Abendland, der Weihnachtsmann oder die Einheit. Alles das sind wir sofort bereit, über die Wupper zu jagen, damit es kein anderer mehr besitzen kann. Auch wenn es weg ist, das gehört noch uns: Ostgebiete, Kolonien, der Kaiser.

Das Klima erhitzt sich, der Acker verdorrt, doch der Deutsche will, will, will nach Malle fliegen, im Straßenpanzer über die Autobahn ballern und zu Weihnachten südamerikanischen Flugspargel in den Schlund schieben. Ja, er verheizt die Zukunft seiner Kinder, aber die sind selbst schuld – was mussten die auch so spät geboren werden. Der Bescheuerte ändert sich nicht, so wie sich Universitäten nicht ändern, weder Justiz noch Politik, Märkte oder die metaphysischen Diensteanbieter, die allesamt in ihren Handlungsmustern erstarrt sind, damit alles so bleibt, wie es niemals war. Es vereinfacht nicht nur das Leben, es entlastet vom nörgelnden Über-Ich, das immerzu die Vernichtung der anderen verbietet, mit Moral kommt und einem die Regression madig macht, in die sparsame anale Phase zu glitschen. Wen wundert’s schon, dass der Teutone in der Existenzkrise vor allem Toilettenpapier hamstert.

Und so kombiniert der teutonische Töffel im Angesicht der Gefahr beides, die Vernichtung des Lebendigen an sich und der Außenwelt. Die Bilder der Toten vor Augen greint er nach Haarschnitt und Biergarten, als müsse er im Bunker hocken und den Putz von den Wänden lutschen. Er will es einfach, am besten zurück in den Mutterschoß, wo er die Verantwortung für dieses Leben loswird. Alles soll sich so wiederholen, wie es früher einmal war, ohne die Hiobsbotschaften einer sich verändernden Welt, ohne Rücksicht auf Verluste. Der einzige Schmerz ist ihm, über Leichen zu gehen, denn dazu muss er sich ja bewegen. Aber was tut man nicht alles.

Jenseits des Unlustprinzips scheint sich der Deutsche ohnehin nach Ewigkeit zu sehnen, ohne sie aber noch durch erwähnenswerte Eigenaktivität am Laufen halten zu müssen; seine Vorstellung von Jenseits ist die einer andauernden Rente, die er am Nullpunkt der Teilchenbewegung verbringt, nur mit ausgeklügelten Messmethoden von der Zeitlosigkeit des Anorganischen unterscheidbar, eins mit allem wie ein beiger Fleck in der Landschaft, der sich erst bei sehr hoher Auflösung als Seniorengruppe am Einstieg eines Reisebusbahnhofs entpuppt, während um sie herum sich die Thermodynamik verhakt. Ein Meister aus Deutschland hat das Auto erfunden und den Verbrennungsmotor, Kernspaltung und alles, was ihm bis zum bitteren Ende einen Eintrag in der Geschichte der Auslöschung sämtlichen Lebens auf diesem Planeten sichert. Sollte es wider Erwarten doch intelligentes Leben geben, dann wird es unser Sonnensystem erst in ferner Zukunft entdecken und diesen mit einer Sauerstoffatmosphäre, zahlreichen Parkplätzen und Kriegsdenkmälern ausgestatteten Rotationsellipsoiden betreten. Sie werden sicher im Halteverbot landen, aber es wird keiner mehr da sein, der auf sie schießt. Schwer vorstellbar: ein Himmel auf Erden, alles tot. Wie traurig, dass wir das nicht mehr erleben dürfen.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXXIV): Die Krise der Männlichkeit

27 07 2018
Gernulf Olzheimer

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Nichts ging mehr. Die Vorstellung, seine Mutter guckte Uga beim Wässern der Buntbeersträucher neben der Einfamilienwohnhöhle über die Schulter, wuchs sich zur Dauerkrise aus. Doch nicht nur eine katastrophale Harnverhaltung machte dem Jäger das Leben schwer, zwanzig Kinder hatten Fleckfieber, Säbelzahnziege und die arteigene Blödheit im Laufe des letzten Sommers weggenascht, die Sippe mahnte langsam den Vollzug an. Nichts ging mehr, und für Uga war dies Desaster doppelt schlimm, litt er doch nicht allein an den objektiven Folgen. Seine Höhlengemeinschaft distanzierte sich nach und nach von ihm und lauerte schon, wer die ersten Fanale zum finalen Streich geben würde. Er galt nicht mehr als Herr im Haus, höchstens noch als Primadonna. Welche eine schreckliche Gewissheit, dass sein Leben nur noch an einem Zipfel hing.

Denn Männlichkeit ist zunächst ein kulturelles Konstrukt. Was Generationen und Generationen sich an Brusttoupet zusammengeschwiemelt haben, dient als Abzeichen einer verliehenen und daher nicht zu hinterfragenden Macht – im Gegensatz zur erworbenen und erkämpften, die zwar verteidigt werden kann, aber nicht nur aus Hülle plus Statusabzeichen besteht. Rein männliche Domänen, Feuerwehr und Herzinfarkt, Autobahnrasen und Physiknobelpreise, werden denn auch als natürliches Habitat des Y-Trägers gefühlt, ein wie evolutionär bedingter Bestandteil des Dings an sich. Nur echte Männer werden Chefköche, Fußballer, Bundeskanzler. Bis die erste Bundeskanzlerin den Plan betritt.

Das Reservat des Gonadenträgers bebt, ein waschweibisches Heulen durchätzt die Luft. Da muss He-Man umdenken, denn sein bewährtes Rezept, alles umzunieten, was ihm in die Quere läuft, scheint nicht mehr zu funktionieren, vor allem dann nicht, wenn die Frau im Spitzenamt ohne nennenswerte Emotion jeden Deppen von der Klippe schnippst, weil sie es kann. Sie hat vom spielerischen Umgang mit der Macht gelernt, dass nicht möglichst blutiger Splatter das Mittel der Wahl ist, sondern ein chirurgisch präziser Schuss in die korrekte Schädelpartie. So zieren ihre Wand im Jagdschlösschen unbehörnte Hackfressen auf dünnem Brett, das sie einst vor dem Kopf getragen hatten, nichts scheint selbstverständlicher. Langsam arrangiert sich der maskuline Part mit seiner neuen Umwelt, die nicht nur aus ihm selbst und ein paar unscharfen Nebeneffekten besteht. Es kann doch noch alles gut werden.

Da droht mit dem schwulen Fußballer der nächste Super-GAU, das Fukushima der geistigen Unterschicht. Ausgewaschen, fortgespült und voll verstrahlt der Frontallappen, die Koordinaten der bisherigen Existenz windschief gedengelt von der Vorstellung, dass sich Männer verschwitzt und bis zum Stehkragen mit Adrenalin vollgepumpt auf dem Platz umarmen und hinterher nackt in der Gruppendusche verschwinden, obwohl einer von ihnen homosexuell sein könnte. Im Damensport nimmt das die männliche Fantasie billigend in Kauf, insbesondere bei der Produktion billiger Erregungsmittel, die aus dem Internet schmerzlos herunterzuholen sind. Doch auch hier ist nicht die Tatsache an sich der Killer, es ist das Einbrechen in ein Konstrukt, dass dieses nun erst als hastig und wirr zusammengeklöppelte Seinsprothese sichtbar wird. Je absurder die Vorstellung, auch der andere könnte Rechte haben, desto verzweifelter der Rückfall in atavistische Verhaltensweisen. Der Mann degeneriert, und er hat ein Problem. Was bei Frauen mit sexualisierter Gewalt ging, nebenher die kleine Potenzpumpe für zwischendurch, will bei den Schwulen nicht recht hinhauen. Also haut er zu.

Endgültig verroht der Kerl, wo er sich mit der Andersartigkeit der anderen auseinandersetzen muss, die in Gestalt des kulturell Fremden noch nicht einmal kommen muss; es reicht, wenn der neue Nachbar schwarzafrikanische Vorfahren hatte und Zahnarzt ist, denn die, und das weiß der Weiße, spielen hier Fußball und nehmen uns die Frauen weg. Manche ministrieren sogar, die kriegt man gar nicht mehr los. Das Implodieren des Mandelkerns wirkt wie eine Lobotomie auf dem Küchentisch mit der rostigen Nagelschere. Jetzt wollen auch noch die dazugehören, denen man nicht einmal die Männlichkeit absprechen kann, und sie haben sich durch was auch immer Macht erworben, Respekt, eine soziale Rolle. Wie gut, dass auf dem Weg zur rational befreiten Zone das Grobraster mit neuen Einteilungen versehen wurde – konnte die Frau links und doof sein, so war sie doch grundsätzlich des Weißen Eigentum – und gemeinsam mit einer ganz neuen Qualität von Gewaltanwendung der Männlichkeit eine Stütze ist. Es ist so einfach, das schwammige Gehänge wieder zu richten. Die Krise ist nicht weg, sie ist nur woanders. Hauptsache, der Mann ist nicht mehr schuldig.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDIII): Faschismus und Impotenzneurose

16 02 2018
Gernulf Olzheimer

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Es gibt so viele Möglichkeiten, Kinder falsch zu erziehen, doch nichts wirkt so gut wie die schwarze Pädagogik. Das Über-Ich aus Stacheldraht schleift zuverlässig humanoide Verhaltensweisen ab, macht den Nachwuchs zu einem Instrument, das seine Dressur für freien Willen hält, und gibt dem Blag eine wunderbare Gebrauchsanweisung, sein Leben bis zum bitteren Ende zu hassen. So ganz leicht ist es nicht, das Subjekt derart zu deformieren, aber es wird immer wieder versucht und perfektioniert. Woher soll auch der Bodensatz der Gesellschaft kommen, der regelmäßig ein ganzes Land in die Grütze reitet und sich dabei duckmäuserisch vor jeder Verantwortlichkeit drückt, für Geschichte und Zukunft. Er feiert seine Impotenz, die umfassende Unfähigkeit, seinen Daseinszweck auszuleben, und steigert seine Neurose zur veritablen Kunstform.

Da steht also die Mammi hinter dem tapferen Helden und spielt mit ihm eine Kastration nach: zurück in den mystisch unbelebten Zustand, zurück in die dumpfe Stille des Anorganischen, wo die Proteine leise schnarchen. Das große Nein des Vaters ist erst mal wumpe, Gesetze sind für die Galerie, ab jetzt wird es existenziell. Die Mutter hat’s geboren, die Mutter wird’s nehmen, gelobt sei Deine Mutter, der heilige Matsch, der den Knaben in Blut und Boden rammt.

Aber Schnödipus hat versagt und bekommt die Quittung dafür. Ähnlich wie bei der Erbsünde ist das Kind unschuldig, es darf nur für die Dummheit seiner Erzeuger geradestehen, bevor die final auf Torfatmung umgestellt werden. Die Identifikation mit dem Aggressor sorgt zuverlässig dafür, dass über der zertrümmerten Triebstruktur sich ein demolierter Schutzpanzer schuppt, die alberne Souveränitätsattrappe für den Verlierer, der sich wie ein angeschossenes Tier windet und brüllt: noch ist das Biest nicht tot, es darf auch keiner dies in Erwägung ziehen.

Im Grunde ist das Triebmodell der feucht-völkischen Klötenkönige schnell erklärt: sie leiden nicht unter ihrer Störung der Impulskontrolle, sie genießen sie, und folglich hat das ganze Dasein für sie Krieg zu sein, Angriff und Zerstörung, mit dem ausgeblendeten Faktor Realität, in dem auch das eigene Schnellableben für Führervolkvaterland sich in teutschen Zuckerguss hüllt, alles nicht so wild, es ist ja bisher auch nur den anderen passiert. Die bisher abgearbeiteten Erfahrungen von körperlicher Gewalt beschränken sich bei dem Pack größtenteils aufs Zusehen, chirurgisch einfach korrigierbare Konfrontationsergebnisse und aktive Planung an Stamm- und Schreibtischen. Die wenigsten, die ihr Leben als Geplärr in der Opferrolle inszenieren – was macht man auch groß, wenn es zu einer funktionierenden Persönlichkeit nicht gereicht hat – haben schon mit Schmackes eins ins Esszimmer gekriegt, Blut durch die oberen Atemwege gespendet oder dem Krachen der eigenen Gräten gelauscht. Dass hier keinerlei Empathie entsteht, wo sich die Spiegelneuronen die Nüsse schaukeln, bedarf keiner großen Philosophie.

Die Crux für diese aus Schlachtabfällen und Testosteron geschwiemelten Parallelexistenzen ist doch, dass sie ihre Männlichkeit zwar viagrös und bullig ausleben könnten, durch das ihnen tief ins Stammhirn gedroschene Bewusstsein der eigenen Minderwertigkeit als Persona auch wissen, dass ihre Triebhaftigkeit schmutzig ist und abgetötet gehört. Da steht der Heckenpenner mit seiner Heinrich-Himmler-Gedenkschädelfräse vor dem Spiegel, weint sich wütend in die Unterhose und weiß: nur die Sehnsucht ist brauchbar, denn für den Vollzug ist der Volkskörper zuständig. Da knickt dem Schwallkörper der Schwellkörper, die latente Todesdrohung wendet sich feixend gegen den eigenen Unterleib und kaut knirschend machtloses Gemächt weg. Der unbedingte Gehorsam ist ja nicht zufällig das Mittel, sich Kanonenfutter für die anstehende Menschenmarmelade heranzuzüchtigen, und der Schmerz lehrt: wenn’s wehtut, war es gut.

Die Rache der Jammerlappen ist entsprechend. Aus Hass auf das Weibliche und das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit wird er zum Sexisten, der jede selbstständige Frau an den Herd und in den Kreißsaal zurück prügeln will. Alles, was nicht seinem okkulten Weltbild entspricht, wird mit sexualisierter Gewalt bekämpft, und schon wieder hat der maskuline Halbaffe einen Grund, vor dem Versagen wegzulaufen. Zu gut zementiert ist die Opferrolle, um dem Mistgabelmob Freiheit zu geben, die er meinen könnte – die meisten scheitern auf dem Feldzug der Abendlandser und werden keifende Wadenbeißer, Scheinriesen hinter der Flüstertüte, die den Kreuzzug gegen ihre eigene psychische Auffälligkeit zum Kulturkampf erklären, den Fahnen schwenkende Gesichtsschnitzelvereine mit nächtlichen Gewaltmärschen ausfechten sollen, weil die Schlitzpisser sich gerade noch mal über die Schulter schauen. Es gibt einen Ausweg, die meisten Faschisten haben sich früher oder später mit dem Gedanken an die Rückkehr zur Biomasse beschäftigt. Einmal im Leben das Richtige zu tun ist ja auch nicht ganz verkehrt.





Klinisch tot

30 03 2015

„Und wirklich keine Fälle von Autismus in der Familie? Ich muss das fragen, obwohl: nein, das war ja das alte Formular. Autismus ist out, und solange Sie nicht selbst Autist sind – Sie sind keiner? egal, ich kann Ihnen ja sowieso nicht das Gegenteil beweisen – ist uns das auch total gleich.

Aber Sie fühlen sich schon manchmal schlecht, oder? jetzt nicht so wie ein grippaler Infekt, wo man morgens aufsteht und niedergeschlagen ist, ein bisschen mies drauf, trockener Hals, Kopfschmerz und all die Sachen, das meine ich nicht. So richtig schlecht, dass man nicht weiß, was das eigentlich ist. Nein, kein Krebs. Das wäre ja behandelbar, außerdem stirbt man daran ja nicht, und wenn doch, dann ist das wenigstens nicht ansteckend. Sagen die meisten wenigstens.

Und Schizophrenie hatten Sie auch keine in der Verwandtschaft? Nein, das meine ich nicht. Ich hatte auch so einen Onkel, der war erfolgreicher Tapetenfabrikant und war im Widerstand, und bei der Hundertjahrfeier der Fabrik kam dann raus, dass er selbst den Vorbesitzer nach Auschwitz geliefert hatte, aber das ist völlig normal. Medizinisch auch. So ein wenig Gedächtnisschwund ist eine typische Begleiterscheinung von gesellschaftlichem Erfolg, während die psychischen Erkrankungen eher darauf schließen lassen, dass man irgendwann sozial völlig isoliert sein wird. Und die Folgen sind schlimm, das sollten Sie nicht vergessen.

Wir machen eine ganzheitliche Untersuchung. Wir verlassen uns dabei ganz auf Ihre Aussagen, und im Gegenzug überlassen Sie uns die Interpretation der erhobenen Fakten. Bislang ist uns zwar noch kein Patient untergekommen, der dann plötzlich klinisch tot gewesen wäre, aber selbst das sollte kein Problem darstellen. Wenn er sich wehrt, messen wir einfach so lange Fieber, bis er seine Meinung ändert. Wir sind da schmerzfrei.

Tics haben Sie auch keine? Ich frage das nur, weil Sie sich gerade an der Nase gekratzt haben. Das kann krankhaft sein, aber – nein, anders: das muss nicht krankhaft sein, kann es aber durchaus. Wir können es dann nur nicht beweisen, und dann ist man natürlich wieder sehr auf die persönliche Einschätzung angewiesen, auf den Gesamteindruck, den so ein Patient hinterlässt. Weil Sie sich gerade wieder an der Nase gekratzt haben, weil ich mich an der Nase gekratzt habe.

Deshalb kann ich bei Ihnen auch kein Aufmerksamkeitsdefizit diagnostizieren. Doch, könnte ich schon, aber ich weiß auch nicht, wozu das gut sein sollte. Vielleicht ist es auch gut zu irgendwas, aber ich es macht die Sache nur unnötig kompliziert, und dann lassen wir die Diagnose lieber weg. Vielleicht haben Sie tatsächlich ein Aufmerksamkeitsdefizit, und dann hätten wir es diagnostizieren können, aber das werden wir jetzt nicht erfahren. Erst hinterher. Weil man das auch aus den Folgen wesentlich besser diagnostiziert.

Nein, wir haben kein Problem mit Ihnen. Wir haben ein Problem mit den diagnostischen Möglichkeiten. Zum Beispiel damit, dass es sie nicht gibt. Wir sind immer noch darauf angewiesen, dass Sie zu uns kommen und uns möglich genau die Symptome einer mutmaßlichen Erkrankung schildern, auf die Gefahr hin, dass wir sie völlig falsch einschätzen, da es sich um Ihre subjektive Empfindung handelt und nicht um messbare Dinge wie Ihren Blutzuckerspiegel oder blaue Flecke.

Außerdem ist unsere Diagnose sowieso nicht viel wert, weil sie wegen der Notwendigkeit gesicherter Erkenntnisse erst dann stattfinden kann, wenn diese vorliegen. Für Verantwortungsträger ist das selbstverständlich zu spät. Wenn Sie politische Entscheidungen treffen müssen, dann wollen Sie die Entscheidungen am liebsten schon treffen können, bevor es etwas zu entscheiden gibt. Um das handhabbarer zu machen, haben sich die politischen Entscheider darauf geeinigt, genau dann zu entscheiden, wenn sie von einer Sache keine Ahnung haben. Behelfsmäßig werden sie ihre Entscheidung aus den Folgen irgendeines Sachverhalts herleiten; die Voraussetzungen sind ja meist nicht greifbar, aber sie verstehen: irgendwas muss man tun. Warum auch immer.

Weil die Entscheider mit uns auch ein Problem haben, und es ist dasselbe Problem, das wir mit ihnen haben: einer muss Entscheidungen treffen, für die der andere dann verantwortlich sein wird. Das ist schon schwierig genug, deshalb blenden wir die Unmöglichkeit aus, überhaupt eine vernünftige Grundlage für unsere Entscheidungen zu besitzen. Und damit wären wir dann bei Ihnen.

Unsere Diagnose steht keinesfalls fest, wie gesagt: wir können Ihr Telefon abhören und Ihre Briefe öffnen – gehen Sie zur Beruhigung davon aus, dass wir es tun, und machen Sie sich keine Sorgen, wenn wir etwas gefunden hätten, wüssten wir es vor Ihnen – und Ihr Verhalten analysieren, aber wir müssen immer davon ausgehen, dass Sie nicht alles immerzu und jedem sagen. Nicht einmal ein Mikrofon in Ihrem Schlafzimmer würde etwas helfen, aber erzählen Sie das den Entscheidern. Sie wissen es hinterher nicht besser, aber auch das wissen sie nicht.

Bis jetzt konnten wir nichts Auffälliges feststellen. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht doch etwas Auffälliges geben könnte, wir sind nur nicht in der Lage, es nachzuweisen. Es ist kompliziert, wissen Sie, aber machen Sie sich deswegen keine Angst.

Wir übernehmen das für Sie.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXXXIV): Verordneter Narzissmus

21 03 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Das hat die Natur ja wieder mal voll tricky eingerichtet. Wer mit etwas höherer Intelligenz und durchaus tauglichem Sozialverhalten ausgestattet ist, Elefanten etwa, erkennt seine Artgenossen. Für den Arbeitsalltag in freier Wildbahn ist das so verkehrt nicht, erspart mancherlei Missgriffe und reicht aus, um die Spezies zu erhalten, wenn sich die umliegende Evolution einmal weitergedreht hat. Einfach strukturierte Kohlenstoffklötzchen, die ihre Existenz nicht recht überblicken, etwa die ersten Hominiden, sie flippen komplett aus beim Blick in die spiegelnde Fläche. Was für den einen simpler Guckreiz ist, was der andere zur Selbsterkenntnis aufpustet, ist dem nüchternen Betrachter nur der Beweis, dass die durchschnittlichen Beknackten mit ihrem Spiegelbild irgendwas anfangen wollen, es heiraten, ihm ein in die Fresse möllern oder aber vor ihm schreiend weglaufen. Sei es, wie es sei, Objekt klein a hat definitiv gesiegt, und doch nölt das kapitalistische Verstörungspersonal, dass sie die Beute so leicht nicht vom Haken lassen. Das Spiegelbild ist der beste Hänger für eine besonders perfide Form, die Selbstentfremdung zum Inhalt der Inkarnation zu adeln. Wenn schon krankhafter Narzissmus, dann wenigstens verordnet.

Nicht die Epoche war es, es ist eine Geisteshaltung, die uns vorschreibt, noch ein Kilo Fett am Arsch loszuwerden. Und noch eins. Und noch eins. Und noch eins. Irgendwann zückt der Anorexieberater seine Visitenkarte. Wie erlösend muss es da sein, wenn die Tante mit der komischen Brille zu den Täubchen im Speckmantel sagt: alles gut so, Ihr findet Euch jetzt gefälligst mal hübsch, danke fürs Geräusch. Nein, es geht nicht darum, dass sie keine nennenswerte Ahnung von den Gelenkproblemen adipöser Schlunzen hat. Oder westerwelleske Epidermis für tageslichtkompatibel hält. Sie hämmert den Mehlmützen ein, dass jedes noch so gebeutelte Schnitzelkind sich selbst für perfekt halten soll. Nicht annehmbar, nicht knapp im Rahmen des Erträglichen, sondern: perfekt. Dann ist es auch so. Glaub dran und halt’s Maul.

Die neoliberale Esoterikkacke funktioniert nach dem einfachen Strickmuster, dass jeder Depp jedes noch so aberwitzige Ziel erreichen kann, wenn er sich nur genug anstrengt – die als Regierungen getarnte Zusammenrottung genetischer Dropouts plärren in stetiger Einheit, dass nur mit noch mehr Verarmung und sozialem Abstieg für alle ein Wettrennen gelingt, bei dem auch alle Erster werden. Warum also nicht die ohnehin kaum zu komplexer Logik fähigen Robbenbarbies mit in den Strudel der Schnellverdeppung schubsen, wo sie lernen, aus allen Knopflöchern nach Ich zu stinken.

Sie zwingen sich zur Fröhlichkeit, lassen sich bis über den Steiß liften, um eine jugendliche Fresse ziehen zu können, und wenn der Verfall sich dem Endstadium nähert, beten sie sich mit obskuren Methoden, Zuckerpillen und Hokuspokus gesund, weil der gezwirbelte Dumpfsinn sich so schön glauben lässt: es geht uns gut, solange wir es wollen, weil wir stark sind, unerschütterlich, nicht, in Worten nicht sterblich, und wer etwas anderes behauptet, gehört nicht zu uns. Der antiintellektuelle Schorf, an dem mancher Auswurf der menschenfeindlichen Gesinnung haften bleibt, ist auch hier wieder nur die reinste Form des Irrationalismus. Wider jede Vernunft, wider jeden Verstand klotzt sich die Kasperade auf, und wüssten sie, wie die filigranen Symptome der Beklopptheit auf die Außenwelt wirkten, sie hielten den Rand.

Leider haben sie auch noch Erfolg mit dem Schmadder. Ein Dutzend meist für ramponierte Egos ins Publikum geschwiemelte Zeitschriften, in diesem Fall: Periodika für Leserinnen, walzen die pseudolibertäre Befreiungsbotschaft so platt, dass sie unter jeder Tür durchsuppt. Nimm Dich selbst positiv wahr, jodeln die Hirnkneter, dann strahlst Du auch positive Energie aus, mit denen Du die Tranmöpse neben Dir aus dem Rennen kickst.

Dass sich keine der traumatisierten Tussen die Birne an der Erkenntnis zermarmelt, dafür sorgt die gründliche Selbstentfremdung, eingeübt über Jahrzehnte und Generationen, entstellt und in die Kategorien der Verwertbarkeit gedengelt. Sie sehen sich, wie die Sklaven ihren Kolonialherren gegenübertraten, Leibeigene ohne eigenen Leib, verzerrt, vom verinnerlichten Stereotyp verdumpft. Das Ich ist ein Anderer, es ist nur nicht das Ideal, das der Narzisst aufpoppen sieht. Die Zuneigung mag dem Anderen gelten, aber das ist nicht das Ich. Willkommen in der Schizophrenie.

Die Quittung folgt sowieso, sobald die Physis in der Realität aufschlägt. Gerade noch euphorisch vor dem Spiegel, alles supi, alles schön, und schon passt der Arsch wieder nicht in die Dinger, mit denen die Textilterroristen ihre Klientel zur Sau machen. Nicht einmal Lacan trug Größe 38. Tja.