Warum sie nun ausgerechnet nach London gezogen war, hatte mir Karen nicht gleich verraten. Nicht ohne Ausflüchte. Sie ist nicht nur anglophil, spricht die englische Sprache besser als mancher Brite (woran man sie auf der Insel auch innerhalb kürzester Zeit als Kontinentaleuropäerin enttarnt) und hegt eine große Liebe für die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs. Nein, Karen ging so weit, dass sie meinte, lieber Putzfrau in Hoxton sein zu wollen als Grundschullehrerin in Köln-Sülz. Nun ist Köln-Sülz ja nicht gerade als Metropole mit Anziehungskraft für weltoffene Charaktere berühmt. Kein Linksverkehr, kein eigenes Königshaus, und finden Sie da nach Einbruch der Dunkelheit mal eine vernünftige Curry-Bude.
Doktor Klengel unterdessen erläuterte mir die Sache vom physiologischen Standpunkt aus. Es sei letztlich alles nur eine Angelegenheit des Histaminspiegels. Schweine und Löwen nämlich würden so gut wie nie seekrank. Bei Schweinen, die als lebendiger Vorrat auf Schiffen mitführen, hätte man nie Anfälle von Schwindel und Übelkeit bemerkt. Auch asthmatische Ferkel seien bislang nicht gesichtet worden. Diese Arten fräßen Aas, die Histaminbombe schlechthin, und bauten das Zeug innerhalb kürzester Zeit wieder ab. Alles, was ich zu besorgen hätte, wäre eine geeignete Prophylaxe, um meinen Histaminspiegel wieder auf ein verträgliches Maß zu bringen, und schon könnte ich die Weiten des Ozeans genüsslich auf mich wirken lassen.
Nun hat mein Hausarzt als Allgemeinmediziner einen derart reichen Erfahrungsschatz, dass ihm sein Pharmavertreter bereits die dritte Karl-Marx-Gesamtausgabe (Halbband, Goldschnitt) verschafft hat. Man kann ihm vertrauen. Ein Marx ist so gut wie unberührt, die beiden anderen sogar noch originalverschweißt.
Histamin, so Doktor Klengel, sei beispielsweise in Rotwein und Schokolade reichlich vorhanden. Und in Tomaten. Man könne bereits vorbeugen, indem man an Bord auf solche Nahrungsmittel verzichte. Das klang nun aber doch einleuchtend. Ich hatte neulich zur Feier des Tages – Hildegard hatte mir fernmündlich eröffnet, dass sie einen derart unbürgerlichen Chaoten wie mich niemals zu ehelichen gedächte – nach einem Stück Ochsenfilet in Schalottenbutter nebst gratinierter Tomate große Mengen von Mousse au chocolat in mich hineingelöffelt. Noch dazu hatten wir, Jonas und ich, die drei Flaschen 1996er Château La Dominique im brüderlichen Doppel gleich an Ort und Stelle gekippt. Also, das heißt eigentlich, Jonas war dann schon vor dem Essen wieder gegangen. Aber Drehschwindel und Sodbrennen können nur biochemische Ursachen gehabt haben.
Man könne mit zwei recht einfachen Mitteln der Sache Herr werden, so Doktor Klengel. Mit Schlaf. Und viel Vitamin C. Am besten solle ich mich vorab schon reichlich mit Orangen eindecken.
Meeresstille und glückliche Fahrt. Da lag ich Versuchskaninchen nun auf einer Nussschale, die über den Kanal zu schippern anhub. Und noch 34 Kilometer bis Buffalo. An Schlaf war nicht zu denken. Jetzt ein Stück Obst.
Warum ich nicht einfach den Tunnel genommen habe? Noch verhasster als Nickachsengependel in Luft- und Wasserfahrzeugen ist mir der Gedanke, in einem übermäßig gefederten Reisebus zu sitzen, der mich bereits im Überlandverkehr bei jeder Talsenke in den Schleudergang versetzt, so dass ich unwillkürlich nachschmecken muss, ob noch etwas vom Frühstück übrig geblieben ist. Außerdem lehne ich es ab, inmitten der Touristenhorde an einer ordinären Rauchvergiftung zu verscheiden. Ich ziehe das personalisierte Ableben vor. Notfalls durch Ertrinken kurz nach Calais. Da bin ich Individualist und durchaus ein ganzer Mann.
Auch Horatio Nelson, seines Zeichens britischer Nationalheld zur See, litt heftig unter Reiseübelkeit. Und der hatte es immerhin bis zum Admiral gebracht sowie zur Verwirklichung eines Kindheitstraums: einmal in einem Schnapsfass unterzutauchen. Dummerweise hatte man ihn erst ganzkörperalkoholisiert, als es galt, seine sterbliche Hülle einigermaßen originalgetreu in die Heimat zu verschiffen. Ob daher der Ausdruck „Marinade“ stammt?
Meinethalben, sollen sie mich eben in Spiritus einlegen. Der Gedanke an so einen Tod schien mir gar nicht mehr so unfreundlich, wenn es sich nur endlich, endlich um den Tod handelt. Einfach mal so daliegen und zuschauen, wie sich nichts mehr bewegt. Keine Ahnung, warum man Schweine auf Schiffen mitfahren lässt. Mit einem Löwen hätte ich jetzt gerne die Sanitätskabine geteilt. Die Unterhaltung wäre kurz, aber für beide Seiten durchaus geschmackvoll gewesen.
Verdammt, die Leute sollten viel öfter Marx lesen. Im real existierenden Sozialismus gab es so gut wie keine Südfrüchte, da hätte ich mich auf das Experiment gar nicht erst einlassen müssen.
Kenneth, mit dem Karen demnächst (in Köln-Sülz übrigens) zusammenziehen wird, holte mich mit dem Auto in Dover ab und war ein bisschen pikiert. Er meinte nicht meinen sandfarbenen Sommeranzug, der vielleicht etwas altmodisch geschnitten ist. Er meinte die rotbraunen Flecken auf dem Hemd. Man solle, so Kenneth, vor einer Schiffsreise stets mit seinem Hausarzt sprechen. Wegen der Seekrankheit.
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