04:58 – Der Wecker klingelt zwei Minuten zu früh. Schlaftrunken setzt sich Heimat- und Bauminister Horst Seehofer im Bett auf. Er greift nach dem Diktiergerät auf seinem Nachttisch und spricht den ersten Verwaltungsakt des Tages ein: Strafanzeige gegen das Läutwerk wegen staatsfeindlicher Ruhestörung eines Verfassungsorgans.
05:03 – Während das Radio den Wetterbericht für den Freistaat Bayern bringt, schlurft der Ex-König ins Bad. Die poröse Schnur des Rasierers ist in Auflösung begriffen – typisch für die Landesgruppe Bayern, die immer solche Geschenke macht. Nach dem Anschalten knackst und rauscht es hörbar im Rundfunkempfänger, bevor die Sicherung mit Getöse herausspringt. Seehofer erstattet sofort Strafanzeige wegen Verunglimpfung eines Symbols des Staates.
05:14 – Er hat die Sicherung endlich gefunden und wieder reingedrückt. Und weiter geht’s für den verhinderten Vizekanzler. Der Kaffeeautomat hat durch die Stromunterbrechung seinen Brühvorgang eingestellt und muss neu gestartet werden. Seehofer zeigt ihn wegen Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgans an.
05:36 – Endlich kann sich der Innenminister auf den Lieblingsplatz in seiner Wohnküche setzen: ganz rechts, direkt an der Wand. Unter der Collage aus Heiligenbildern – Strauß, Pinochet, Orbán – wirft er einen kurzen Blick in die Morgenzeitung. Das Blatt bringt schon wieder nicht die erwünschte Schlagzeile, dass Deutschland über Nacht von linksextremistischen Asylanten mit mindestens je einem Urgroßelternteil mit Migrationshintergrund dem Erdboden gleich gemacht wurde. Die nächste Strafanzeige wegen Hochverrats zu Sabotagezwecken ist raus.
05:44 – Eine Mülltonne vor dem Seehoferschen Anwesen steht leicht schief. Der Hausherr will nachsehen, ob sie ordnungsgemäß geleert wurden, kann den Deckel jedoch nicht öffnen. Er erstattet reflexartig Strafanzeige wegen Zuhälterei.
05:46 – Der Dienstwagen steht abfahrbereit vor der Tür. Der Bundesinnenminister liest noch schnell sein Zeitungshoroskop zu Ende und haut eine Strafanzeige wegen uneidlicher terroristischer Falschaussage zusammen, bevor er das Fahrzeug besteigt.
05:56 – Der Verkehr im Regierungsviertel wird durch zahlreiche Baustellen erschwert; der Fahrer kommt nur langsam voran. Vor der roten Ampel formuliert Seehofer rasch eine Strafanzeige wegen sicherheitsgefährdender Wehrkraftzersetzung.
05:59 – An der Gertrud-Kolmar-Straße Ecke Führerbunker schneidet der Fahrer einen Radler, der den Minister erkennt und ihn als „degenerierte Faschistendrecksau“ beschimpft. Seehofer notiert umgehend eine Strafanzeige wegen Preisgabe von Staatsgeheimnissen.
06:11 – Endlich im Ministerium. Der Pförtner hat noch kein Schild aufgestellt, das vor dem frisch gewischten Boden im Foyer warnt. Der Minister zeigt ihn wegen Personenstandserschwernis an.
06:16 – In der Hauspost des Leiters befindet sich eine Karte, mit der die Abteilung Bürokratieabbau einer Kollegin zum Geburtstag gratulieren will. Da die Adressatin durch eine Eintragung deutlich zu identifizieren ist, zeigt Seehofer sie wegen Ausspähens und Abfangens von Daten an.
06:28 – Zur Entspannung spielt Seehofer ein paar Minuten auf der elektrischen Orgel, die er in seinem Aktenschrank aufbewahrt. Da ihm vor einigen Jahren das Anschlusskabel abhanden gekommen war, hatte er seinerzeit schon Anzeige wegen Strafvereitelung im Amt erstattet.
06:54 – In der Abteilung Statistik werden viel mehr Klarsichthüllen als veranschlagt verbraucht. Der Bundeshorst erinnert in einem eilig aufgesetzten Rundschreiben an die Obergrenze und erstattet gleichzeitig Strafanzeige wegen unrichtigen Gebrauchs von Urkunden.
07:12 – Die Bundeskanzlerin hat sich wegen eines dringenden Telefonats mit der deutschen Botschaft in Teheran verspätet, so dass die Videokonferenz des Bundeskabinetts nicht pünktlich beginnen kann. Statt ihrer übernimmt spontan Markus Söder die Moderation. Seehofer leitet eine Strafanzeige wegen Parteiverrat an die Rechtsabteilung weiter.
07:31 – Der aktuelle Verfassungsschutzbericht liegt vor. Seehofer ist mit der erheblichen Steigerung von Straftaten im rechtsextremistischen Milieu nicht einverstanden und moniert, dass Nationalsozialisten nicht wegen ihrer sozialistischen Gesinnung als Linke gekennzeichnet werden. Er erstattet gegen den zuständigen Abteilungsleiter Strafanzeige wegen staatsgefährdender Vorteilsnahme.
07:58 – Die Kanzlerin hat ihre Mission beendet und betritt nun gemeinsam mit dem Außenminister den Videochat. Merkel befragt ihn zu Einzelheiten des Verfassungsschutzberichts, den er entgegen seiner Ankündigung aber noch nicht gelesen hat. Seehofer erstattet Strafanzeige wegen Aussageerpressung.
08:33 – Die anderen Kabinettsmitglieder haben keine Lust mehr, Seehofers Gerede zu folgen, und schalten ihn gemeinsam stumm. Der Innenminister erstattet sogleich Strafanzeige wegen gemeiner Computersabotage.
09:01 – Kaffeepause im Ministerium. Bei seinem Betreten des Aufenthaltsraums verlassen zwei Staatssekretäre sowie eine Referatsleiterin die Sitzgruppe. Seehofer erstattet kurzerhand Strafanzeige wegen Störung des öffentlichen Friedens in einem besonders schwerem Fall.
09:16 – Die geheime Verschlusssache Adolfs Erben Sektion Ost wird in Seehofers Büro geliefert. Das Dokument listet eine Reihe hochrangiger Mitglieder mehrerer Bundesbehörden auf, die einen bewaffneten Umsturz zur Lösung des Freistaates Sachsen als nationalsozialistisch regierte Führerrepublik aus dem Staatsgebiet der BRD planen und dafür seit 2015 Waffen aus dem Besitz der Bundeswehr gestohlen haben. Es liest sich sehr interessant, so dass der Innenminister fast seine tägliche Blutdrucktablette vergisst. Für eine Anzeige sieht er hier keine Veranlassung, da es ja bisher nicht zu staatsgefährdenden Straftaten gekommen war.
10:31 – In einer Tageszeitung ereifert sich ein Sportredakteur in einer sprachlich ausbaufähigen Glosse über den Dauermeister Bayern München, deren Spieler er als „Rumpelmonster“ bezeichnet und denen er den Einsatz auf einem Rübenacker empfiehlt. Seehofer ist verärgert, da auch Sport und Leitkultur zu den Befugnissen als Heimatminister gehören. Flugs erstattet er Strafanzeige wegen Volksverhetzung.
10:49 – In einem hausinternen Schreiben weist das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge darauf hin, dass am kommenden Tag 68 Personen nach Afghanistan abgeschoben werden sollen, da sie nicht individuell, sondern kollektiv bedroht würden. Seehofer stört sich an der Zahl, die ihm zu niedrig vorkommt, und macht die Ressortleiterin dafür verantwortlich, zahlreiche Fälle ohne Prüfung positiv zu bescheiden. Er erstattet Strafanzeige wegen Missbrauchs von Ausreisepapieren.
11:08 – Von seinem Fenster aus sieht der Minister, wie in einem Einsatzfahrzeug der Polizei der Motor nicht anspringt. Er erstattet sofort Strafanzeige wegen schweren Hochverrats in Tateinheit mit Raubmord, terroristischer Staatszerstörung und schwerer staatsgefährdender Boykotthetze.
11:15 – Bei einem Pressetermin wird Seehofer zur Kabinettssitzung sowie zur Meinung der Kanzlerin in Hinsicht auf den Verfassungsschutzbericht befragt. Er erklärt, Merkel habe heute mit ihrer nur am Grundgesetz und nicht an den Interessen des deutschen Volkes ausgerichteten Hetzrede die Herrschaft des Unrechts ausgerufen. Er erstatte nun sofort Strafanzeige wegen verfassungsfeindlicher Einwirkung auf öffentliche Sicherheitsorgane.
12:02 – In der Mittagspause bedient sich Seehofer an der Salatbar der Behördenkantine. Ihn regen die hohen Preise für Wurstwaren auf, außerdem gibt es entgegen seiner Anweisung dort immer noch kein Weißbier. Er diktiert schnell eine Strafanzeige wegen böswilliger Wehrkraftzersetzung.
12:10 – Während der Minister einen gemischten Salat mit einer Leberkässemmel verzehrt, hört er am Nebentisch, wie er von zwei ihm unbekannten Kollegen als „Klagemauer der Bundesregierung“ bezeichnet wird. Er erstattet sogleich Strafanzeige gegen Unbekannt wegen schwerer Störpropaganda.
12:48 – Die an die Bundesregierung herangetragene Petition, im Zuge der zahlreichen Gefährdungen der Coronakrise ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen, erfährt von Seehofer postwendend eine Abfuhr. Er erstattet Strafanzeige wegen räuberischer Erpressung von Staatsorganen.
13:20 – In einem Krisentelefonat erörtert Seehofer mit seinem Kabinettskollegen Scheuer alle noch bestehenden Möglichkeiten, ohne eine Haftstrafe aus dem Betrugsskandal um die Ausländermaut zu entkommen. Diese zwanzig Sekunden fehlen ihm empfindlich an der Arbeitszeit des Nachmittags.
13:21 – Seehofer erhält eine Spam-Mail, in der ihm gebrauchte Fahrräder zu Spitzenpreisen angeboten werden. Da die Nachricht nicht von der Polizei in Leipzig stammt, löscht er sie sofort und erstattet Strafanzeige wegen staatsgefährdender Belästigung.
14:13 – Auf eine Pressemitteilung der Linken, die Kosten für Mund-Nasen-Schutz für Bezieher von ALG-II-Leistungen zu tragen, reagiert Seehofer mit harscher Kritik. Er bezeichnet die Partei als „linksfaschistische Staatszersetzer“ und droht an, „Deutschland endgültig vor ihrem schädlichen Einfluss zu schützen“. Den Text lässt er nebst der Androhung einer Strafanzeige wegen schweren bandenmäßigen Rauberpressungsdiebstahls auf der Startseite der Ministeriumswebsite verlinken.
14:49 – Zeit für ein kurzes Telefonat mit seinem demokratischen Freund Orbán. Der ungarische Despot rügt seinen deutschen Vertrauten, dass in der Bundesrepublik Homosexuelle immer noch wie Menschen behandelt werden. Mehr als einen mehrmonatigen Lageraufenthalt zur Feststellung potenzieller Infektionskrankheiten kann Seehofer dem Rechtsgefährten nicht versprechen. Er regt an, beim Internationalen Strafgerichthof Anzeige wegen schwerer sexueller Nötigung seelisch normaler Volksteile zu erstatten.
15:15 – In Brandenburg wurde ein Polizeiwagen durch einen stark alkoholisierten Wachtmeister an eine Hauswand gesetzt. Das eigens für Seehofer nach Berlin verbrachte Fahrzeug muss nun genauer behördlichen Kontrolle unterzogen werden, da der Innenminister nicht glaubt, dass sich ein derartiger Unfall ohne Zutun linksterroristischer Kreise hatte ereignen können. Er lässt sich die Stauchung der Frontpartei sowie die gesplitterte Frontscheibe durch die Kriminaltechnik erklären und erstattet zur Sicherheit Strafanzeige gegen Unbekannt wegen staatsgefährdender Vortäuschung nicht geschehener Straftaten.
15:20 – Die Beschlussvorlage zur Neuregelung der Einsatzmöglichkeiten privater Sicherheitsdienste ist angekommen. Danach dürfen nun auch angelernte Kräfte mit einschlägigen Vorstrafen Schusswaffen führen und verdächtige Personen verdächtigen, wenn diese wie verdächtige Verdächtige aussehen. Um Arbeitszeit zu sparen, formuliert Seehofer für die Parlamentsdebatte schon mal eine Strafanzeige wegen Sabotage an für die Staatsnotwehr nötigen Mitteln der Landesverteidigung.
16:14 – Im Asylstreit zeigt sich der Bundesminister nun plötzlich kompromissbereit. In einem Telefonat mit der EU-Kommission verspricht Seehofer, 400 Flüchtlinge aus griechischen Lagern aufzunehmen, allerdings nicht mehr in diesem Jahr. Bedingung sei außerdem, dass diese sofort wieder abgeschoben werden könnten. Für jeden dieser Flüchtlinge lässt der Innenminister schon einmal eine Strafanzeige wegen Widerstandes gegen Deutsche aufsetzen.
16:44 – Früher als gewohnt verlässt Seehofer seinen Arbeitsplatz und lässt sich noch für ein Gespräch mit Merkel ins Bundeskanzleramt fahren. Die Regierungschefin ist hingegen nicht mehr im Haus, da sie wichtige Termine wahrnimmt. Der ehemalige CSU-Chef überlegt, ob er sie wegen Amtsanmaßung anzeigen soll.
17:02 – Der Minister bekommt per SMS mitgeteilt, dass eine Journalistin mit bedrohlich klingendem Namen einen Artikel über Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht hat. Da der Beitrag bereits morgen erscheinen wird, erstattet Horst Seehofer an Ort und Stelle Strafanzeige wegen Gewaltdarstellung in Tatmehrheit mit Störung des Rechtsfriedens.
18:03 – Nach einer sehr langsamen Fahrt durch die Baustellen der Berliner Innenstadt erreicht der Minister sein Haus. Ihm fällt sofort auf, dass in seinen Briefkasten zwei Tüten voller Werbematerial eingeworfen wurden, so dass er kurzerhand eine Strafanzeige wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens formuliert. Er wird seinen Postkasten bis zur letzten Patrone verteidigen.
18:05 – Schon steht Seehofer in seiner Lieblingsstrickjacke im Kellergeschoss seines Hauses. Er knipst die Deckenbeleuchtung an, setzt die Mütze auf und bläst beherzt in die Trillerpfeife. Der erste Zug seiner Modelleisenbahn setzt sich schnurrend in Bewegung. Hier hat der ehemalige Ministerpräsident endlich alles unter Kontrolle. Ein Glas zimmerwarmer Limonade ohne Kohlensäure erquickt seinen Abend, während er den Verkehr zwischen A-Stadt und B-Hausen regelt.
22:24 – Schläfrig vom Rauschen der Räder auf den Schienen schaltet der Ex-Vorsitzende der CSU die Lampe aus und geht gemächlich ins Erdgeschoss, wo er die Strickjacken an den Garderobenhaken hängt und zur Entspannung noch ein paar Pfeile auf das in der Küche angebrachte Porträtfoto von Söder schmeißt.
22:40 – Horst Seehofer legt sich ins Bett und deckt sich zu. Er stellt den Wecker auf Punkt Fünf. Wie an jedem Morgen, an dem er zeitig aufstehen will. Schon sinkt er in einen tiefen, rechtmäßigen Schlaf für Volk und Vaterland.
Satzspiegel