Stille Nacht

5 12 2011

14:57 – Pflegeazubi Justin T. (19) kommt gerade noch rechtzeitig zum Schichtwechsel im Seniorenstift Friedensruh. Der letzte Abend in der Großraumdiskothek hat unschöne Spuren im Gesicht des jungen Mannes hinterlassen. Hektisch drängelt er sich an seinen Kollegen vorbei in den Aufzug, um in den dritten Stock zu kommen.

15:03 – Stationsschwester Maria L. (59) bemerkt die Verspätung ihres Lehrlings, lässt sich aber nichts anmerken. Sie vertieft sich in die Vorbereitung des Abendessens. Zur Feier des Tages bekommt jede der geviertelten Toastbrotscheiben mit Diätmargarine und Jagdwurststreifen einen Klecks Tubenremoulade. Ihr ist ganz weihnachtlich ums Herz.

15:14 – Langsam, aber aufrecht hangelt sich Adolf G. (97) an den Handläufen über den Flur bis zum Küchenblock. Der Reserveoffizier besteht wie jeden Nachmittag auf seine Tasse Ersatzkaffee aus reichsdeutscher Produktion und droht der Belegschaft mit dem Kriegsgericht, falls sie seinen Nachbarn Günther S. (93) aus dem Zimmer lässt. Ein schmerzhafter Bluterguss im rechten Knie erinnert G. daran, wie S. ihm erst neulich mit dem Griff seiner Gehhilfe die Beine weggerissen hatte.

15:23 – Mit einem großen Pappkarton aus der Materialkammer kommt Schwester Karin O. (29) in den dritten Stock. Zur heute anstehenden Weihnachtsfeier im Seniorenstift hat sie die Aufgabe der Festdekoration übernommen.

15:29 – Unter den kritischen Blicken von Edelgard M. (89) installiert Schwester Karin die adventliche Dekoration: einen ungelenk aus orangerotem Filz ausgestanzten Stern von Bethlehem sowie den batteriebetriebenen, blinkenden und prinzipiell auch rotationsfähigen Weihnachtsmann taiwanesischer Provenienz, der jedoch nicht mehr blinkt, dafür aber auch nicht mehr rotiert. Die Feststimmung bleibt überschaubar.

15:42 – Zwischen Günther S. und Adolf G. entbrennt ein heftiger Streit. Während S. im gemeinschaftlich genutzten Fernsehapparat die Wiederholung der Wiederholung der letztjährigen Superparade der Volksmusikschlager verfolgen will, besteht G. auf die Dokumentation Hitler und die Reichsflugscheibe. Die Stationsschwester beruhigt beide mit einem Schnapsgläschen voll Stärkungstonikum, das sie für gewöhnlich auch als Hustensaft verabreicht.

15:50 – Gerda K. (88) und Wilhelmine B. (91) lauschen ergriffen den Kindheitserinnerungen von Karoline V. (92). Ein Großteil der Unterhaltung besteht daraus, dass die Damen sich gegenseitig alle paar Minuten vorstellen.

16:02 – Beschwingt rollt Stationspfleger Christian W. (39) den Teewagen voller Butterkuchen und Obstteilchen durch den Flur. Kollegin Karin verspricht, nur noch eben die Papierservietten für den Abendbrotstisch aus der Wäschekammer zu holen, dann wollen sie gemeinsam zur Adventsfeier des Personals. Die Toastbrot-Wurst-Remoulade-Ecken nehmen derweil unter dem Schwitzwasser einen leicht öligen Glanz an.

16:07 – Angesichts des Kuchens beschließt Adolf G., das Abendessen ausfallen zu lassen. Lautlos wartet er ab, bis sich die beiden Pfleger in die Kammer verdrückt haben. Er klemmt eine achtlos herumliegende Gehhilfe unter die Türklinke und konfisziert das Feingebäck.

16:10 – Nichts ahnend beginnt Schwester Maria, die Bowle in einem größeren Glashafen anzusetzen: trockener Rosé, Diabetikerschaumwein und diverse Konservendosen Cocktailobst vom letzten Sommerfest finden in dem Gefäß zusammen. Just in diesem Augenblick betritt Heimleiter Ernst H. (54) das Stockwerk. Er vermisst den Kuchen.

16:16 – Edelgard M. nutzt die Abwesenheit des Personals, um endlich den bisher ausgefallenen Nachmittagskaffee nachholen zu können. Sie füllt gemahlenen Kaffee aus der roten Blechdose in der Einkaufstasche der Stationsschwester in den Brühautomaten.

16:24 – Günther S. schmeckt den Bowlenansatz ab. Die zufällig auf dem Küchentisch stehende Flasche Stärkungstonikum erweist sich als würzende Zutat; S. leert sie komplett aus. Das Mittel besteht aus Zuckercouleur und 80%-igem Alkohol.

16:28 – Die drei alzheimernden Damen werden von heftigem Unwohlsein geplagt, das sie auf den Kaffee schieben. Sie beschließen daher, noch mehr Kaffee zu trinken. Niemand hat bisher bemerkt, dass die an entkoffeinierte Ware gewöhnten Senioren gerade Ristretto zu sich nehmen.

16:40 – Der bettlägerigen Else J. (95) fällt das fortgesetzte Klopfen auf. Sie dreht das Radio lauter. Die Stationsschwester und ihr Kollege können durch die verschlossene Tür der Wäschekammer deutlich das Operettenprogramm hören.

16:52 – Pflegehelfer Justin bemerkt kaum einen Unterschied, als er die inzwischen verseifenden Jagdwurstobjekte auf die Teller verteilt. Unbemerkt geht Günther S. den Flur ganzen Flur entlang bis in den Westflügel. Im offen stehenden Fahrstuhl bemerkt er T.s Rucksack. Er unterzieht ihn einer genauen Inspektion.

17:06 – Konvulsivisch zuckend hangelt sich der Offizier an den Türen entlang. Nach und nach holt er die gesamte Belegschaft aus den Zimmern. Die gelben Tabletten mit den lachenden Gesichtern in der Bowle entfalten ihre Wirkung recht schnell.

17:12 – Justin T. hatte nicht damit gerechnet, dass eine Gehhilfe sich derart brutal anfühlt. Benommen liegt er im Schwesternzimmer. Die Fesseln um seine Handgelenke sind stabiler als erwartet.

17:20 – Die Wurstreste auf Brot sind rasch entsorgt. Wilhelmine B. übernimmt die Kuchenverteilung. Das improvisierte Büfett wird abgerundet durch die Vorräte aus dem Kühlschrank: Lachsersatz, saure Gurken und rosa Champagner für die Personalfeier.

17:24 – Karoline V. ist zurück aus der Sitzgruppe. Im Drahtkorb ihres Rollators befindet sich die Fernbedienung des TV-Gerätes. Auf Vorschlag von Johannes E. (101) schaltet V. wieder ins öffentlich-rechtliche Programm, da die musikalischen Darbietungen auf jenen Sendern am ehesten den ästhetischen Bedürfnissen ihrer Altersgruppe entsprechen.

17:27 – Zu den heißen Rhythmen der Stimmungssängerin Antonella (bürgerlich Heike Gnirbzsch) veranstalten Christa B. (87) und Ludwig R. (94) eine Gehwagen-Polonaise, der sich rasch die motorisch besser Gestellten anschließen. Die Bowle erfreut sich großer Beliebtheit.

17:48 – Der Heimleiter stutzt; normalerweise sind die Insassen um diese Uhrzeit längst in die Betten gelegt worden. Heftige Schritte lassen das dritte Stockwerk vibrieren. Durch die Betondecke sind deutlich Schlager wie Zeig mir den Vollmond der Liebe, Heinz-Eduard und Ich fand mein großes Glück auf der Rheumadecke zu vernehmen. Ernst H. reagiert umgehend. Er macht mehr als zehn Minuten früher Schluss und verlässt das Haus fluchtartig.

18:05 – Die Stimmung ist erhitzt. Viele Bewohner des Seniorenstifts drücken ihr Bedürfnis nach grobmotorischer Aktivität aus. Günther S. verteilt die zweite Hälfte der lustigen Pillen.

18:09 – Der unbeholfene Charleston-Versuch von Gustav N. (96) führt zur Kollision mit dem Taiwan-Weihnachtsmann. Das Gerät fängt spontan an zu blinken und rotiert, dass es seine Art hat. Die Festgemeinde bejubelt den Wundertäter gebührend und zwingt ihn, einen Lehnsessel zu erklimmen, um die Ovationen entgegenzunehmen.

18:24 – Plötzlich verfinstert sich der Horizont. Viel zu spät, aber nichtsdestoweniger überraschend steht Pfarrer Karsten P. (38) unter den Feiernden. Die Anstaltsleitung hatte den Geistlichen gebucht, um auf der Weihnachtsfeier salbungsvolle Worte zu verströmen, er war jedoch überraschend zu einem seiner regelmäßigen Besuche im Club Amore mio im Gewerbegebiet gerufen worden.

18:25 – Der Pfarrer unternimmt Anstalten, die Weihnachtsfeier aufzulösen. Adolf G. entsinnt sich, wie er als junger Wehrmachtsangehöriger Panzer der Roten Armee mit einem Fahrtenmesser geknackt hatte. Die Bettpfanne hinterlässt leichte Druckstellen in P.s Gesicht. Gerda K. und Karl O. (89) schleifen den Leblosen auf den Balkon.

18:32 – Das MDMA entfaltet seine volle Wirkung. Tanzveteran Günther S. legt zu Überdruck in Delitzsch ein begeisterndes Solo aufs Parkett. Seine Bandscheiben quittieren den Dienst.

18:38 – Jetzt fühlt Adolf G. seine Stunde als gekommen. Völlig enthemmt von der psychotropen Substanz schleppt er Wilhelmine B. mit auf sein Zimmer. Es ist eine beeindruckende Vorstellung, wie er im stampfenden Takt zu We Will Rock You – Johannes E. spielt gerade mit der Fernbedienung und hat die Senderwahl entdeckt – den Korridor entlanghumpelt.

18:45 – Auch bei Ludwig R. schlagen die Pillen an. Er vollführt mit dem inzwischen leergeräumten Teewagen etwas, das entfernt an Parterreakrobatik gemahnt. Das einseitig belastete Gerät nimmt erheblich Schlagseite an, als R. sich breitbeinig mit einem Stück Zupfkuchen in der ausgestreckten Rechten auf das Tablett stellt und die Freiheitsstatue nachturnt. Etwas unelegant im Abgang gestaltet sich der eingesprungene Anderthalbfachsalto, der R. auf die Auslegeware zurückführt.

18:50 – Der Gottesmann hat in der winterlichen Kälte das Bewusstsein wiedererlangt und versucht, an der Regenrinne nach unten zu klettern. Der jäh aus dem Innern des Hauses brüllende Fernseher – Johannes E. hat gerade den Volume-Kippschalter entdeckt – lässt ihn den festen Halt verlieren. Ungebremst stürzt Pfarrer P. in den Abgrund. Glücklicherweise landet er gleich auf dem Dach des in der Einfahrt geparkten Kombis. Der Fahrer Egon D. (48) und sein Mitarbeiter Jörg B. (44) haben in dieser Jahreszeit viel zu tun, das Bestattungsinstitut Pietät Eichenlaub kommt mehrmals in der Woche.

19:09 – Unter dem Einfluss der Hustensaft-Bowle wird Gustav N. kicherig. Er entwendet zwei Damen die Kauprothesen und führt unter den anfeuernden Rufen der sichtlich beschwingten Senioren einen Fandango auf. Das beidhändige Kastagnettensolo besticht durch sein wohldosiertes Rubato.

19:23 – Johannes E. stülpt sich die Perücke von Edelgard M. über. Seine Margot-Honecker-Parodie findet nur mäßigen Anklang. Als er sich entschließt, ein Weihnachtslieder-Medley vorzutragen, wird ihm vorübergehend Gehör zuteil, das jedoch spätestens mit dem recht unschön intonierten Es ist ein Russ’ entsprungen endet. E. ist untröstlich.

19:24 – Zeitgleich ist ein Stockwerk unterhalb der Weihnachtsfeier das Ehepaar Luise und Josef A. (beide 55) verärgert über die Lärmentwicklung. Ihren jährlichen Pflichtbesuch bei ihrer Mutter Emmi R. (98) vergällt das fortgesetzte Getrampel der beiden Pflegeangestellten, die seit nunmehr drei Stunden von der Außenwelt abgeschnitten in der Wäschekammer hocken. Josef A. beschließt, die Polizei zu informieren.

19:31 – Nur wenige Minuten später trifft eine Mannschaft der Schutzpolizei ein und sichert die Räume. Mit einer gezielten Kugel in die Bildröhre des Fernsehgerätes sorgt Hauptwachmeister Otto L. (52) für Ruhe. Der noch unsichere Polizeischüler Maik D. (22) gleitet auf einem Stück Lachsersatz aus; versehentlich löst sich ein Schuss, der als Querschläger durch den Aufenthaltsbereich jagt und dem sich unbeirrt drehenden Weihnachtsmann die Spitze der Zipfelmütze abschlägt. Gerda K. gibt zu Protokoll, sie werde sich für die Sachbeschädigung beim Führer höchstpersönlich beschweren. Die Stimmung droht zu kippen.

19:36 – Völlig aufgelöst torkelt Justin T. in den Raum. Beim Anblick seines Rucksacks mit der nunmehr leeren Kunststoffdose verliert der Azubi die Beherrschung. Eine Monatsration weg. Er erstattet sofort Strafanzeige wegen Diebstahls.

19:40 – Polizeiobermeister Fritz I. (39) durchsucht die Küche nach verwertbarem Beweismaterial. Die grünlich schimmernden Stückchen mit hartem Grund und fettiger Oberseite erwecken seinen Argwohn. Er tütet eins der Objekte ein und informiert den Seuchenschutz.

19:44 – Versehentlich hatte POM Fritz I. den leichtgängigen Hebel für die Herdplatte berührt. Die achtlos abgestellte Bowlenschüssel beginnt sich gefährlich schnell zu erwärmen; da das Tonikum ob seiner spezifischen Wichte sich am Boden abgesetzt hatte, sickert es durch den ersten Haarriss quasi unverdünnt auf die glühend heiße Platte. Sekunden später schießt eine Stichflamme empor und verwandelt den Küchenblock in ein Inferno. Johannes E., Christa B. und Edelgard M. halten einander ergriffen an den Händen und singen mit leuchtenden Augen vor dem hellen Widerschein: „Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen.“

20:53 – Einsatzleiter Siegfried K. verkündet das Erlöschen der letzten Brandnester. Der vom Löschwasser verursachte Schaden im Gebäude wird auf ungefähr 450.000 Euro geschätzt. 87 Einwohner des Seniorenstifts Friedensruh stehen, teilweise durchnässt sowie in Unterwäsche, auf dem Parkplatz vor dem Gebäude. Stationspfleger Christian W. gilt als vermisst, ebenso Schwester Karin. Die Ermittlungen gegen Stationsschwester Maria L. werden an das Bundesinstitut für Risikobewertung weitergegeben, das seit langem einen Zusammenhang zwischen Tubenremoulade und antibiotikaresistenten Virenstämmen erforscht. So endet der Abend in einem Seniorenstift, dessen Bewohner in der Adventszeit einfach nur ein paar besinnliche Stunden verleben wollten.





Gernulf Olzheimer kommentiert (LXXXIX): Rentnerfernsehen

21 01 2011
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Früher, als alles noch so gut war, dass es schon fast von alleine besser wurde, da widmete sich die ältere Generation durchaus spannenden Dingen. Rosen- und Briefmarkenzucht, Akkordeon- und Lottospiel, Tanztee und Anschwärzen falsch parkender Kraftfahrzeugführer erfüllten das üppig bemessene Freizeitkontingent der nicht mehr am Arbeitsleben Teilnehmenden, man betrachtete wohl mit Herz und Wonne alte Fotografien aus der großen Zeit (und den folgenden Jahrzehnten, mit und ohne Trümmer), besuchte Museen und fuhr auf Heizdeckenverkaufstour ins Sauerland, kurz: die Tage zwischen Verrentung und Verrottung verliefen in froher Eile, hurtig und heiter, und nirgends kam dem rüstigen Rezipienten der Mattscheibenkleister in die Quere, mit dem sich heutige Senioren zu quälen haben. Es ist Wahnsinn, weil es Methode hat, dieses Rentnerfernsehen.

Denn wer würde sich widersetzen beim Anblick der öffentlich-rechtlichen Kukidentkanäle, die zur Spontanvergreisung aufrufen. Wer nach zwei Portionen Schnarchprogramm, Frühstücks- und Mittagsschläfchen- und Tanztee- und präseniles Bettfluchtfernsehen, wer nach dem Geblöke noch nicht leblos im Polstersessel hängt, scheint von Stalingrad gehärtet und duldet alles, was einem den reaktionären Realitätsaufguss mit der Brechstange in die Figur schwiemelt. Denn offensichtlich hält die Regie das Festival der Gebührenkrücken für intellektuell untertunnelbar baut im Fußraum der Medienmarmelade kräftig an. Zwei Gehhilfen des schlechten Geschmacks stützen das Gerümpel, Volksmusik und Schlager, kulturelles Surrogat für eine Generation auf Sozialentzug, weichgekaut und saccharinromantisch wie der perpetuierte Kitsch der Nachkriegsdumpfbacken, gegen jede Innovation geimpft. Gummigesinge in ästhetisch verkalkter Qualität quillt aus den Lautsprechern, debil grinsende Föhnwellenträger in unangenehmem Flitterfummel turnen die Zombieversion von 1970 auf dem 16:9-Plasma nach und legen sich ins Zeug, um auch geistig leistungsfähigen Endfünfzigern einen ungefähren Eindruck zu vermitteln, wie sich Demenz im Endstadium anfühlen wird.

Die quotenfixierte Nullinformationsschiene ist nicht die einzige Ausblutungsstelle eines Angebots, das den Guckreiz verloren hat. Süßliche Romantik blubbert aus dem Glottertal, versehentlich von drittklassigen Quizformaten unterbrochen, in denen die üblichen Verächtlichen ihr Grundschulniveau in Frage stellen. Dazu stoßen Operettenfilme als Wiederholungsschleife, exhumierte Duftproben aus einer Zeit, in denen Farbfilme noch modernistischer Schnickschnack waren.

Was man in der Langeweile des Krankenstandes nie über sich ergehen ließe, der übliche Polittalk scheint vor dem Grabkranzgeruch nicht gefeit. Wo lustige Mutanten und die Glatze vom Silbersee nicht hinkommen, da werden Generationskohorten von postapokalyptischen Springreitern im braunen Polyesteranzug hinweggerafft, spätkeynesianische Heißluftplauderer ohne Daseinsberechtigung, die das vermeintlich bereits im Rudelkoma liegende Pensionariat mit neoliberaler Weltsicht beschickt: wer sozialverträglich frühablebt, tut dem Vaterland einen Dienst, und bis dahin darf der Oldie Pappe lutschen und sich die intellektuelle Sterbehilfe aus der Jauchgrube unter die Kalotte kloppen.

Fragt sich, warum ausgerechnet zur schönsten Werbezeit die altersschwache Randgruppe bedient wird, statt sich der konsumorientierten Zuschauer bis 49 anzunehmen – die Prothesenprogramme bauen bereits vor für Rundfunkstaatsverträge, in denen sie das gerontologische Dauerfeuer mit Treppenlift- und Gebissreinigerreklame auffetten können, bis sich Schmonzetten von Schwarzwald und Traumschiff als Einsprengsel zwischen den Rentenversicherer-Spots verscherbeln lassen. Reicht denn die übliche Busfahrt mit koffeinfreier Plörre und Heizdeckenshow nicht mehr aus, um die Vorkriegsjahrgänge aus der Existenz zu graulen? Müssen wir mit Macht anschauen, was uns in wenigen Jahren droht, eine in Rosamunde-Pilcher-Kulisse abgenudelte Generalbelanglosigkeit aus säuerlicher Heimaterde und Trachtensülzwaren mit nationalbekiffter Musi, eingebettet in Kerner-Beckmann-Fliege-Schleim?

Eines Tages, und es wird nicht mehr lange dauern, fegen die Alten dies hippe Hirngestrüpp von der Rampe und rächen sich grausam. Für das Nachmittagsprogramm wird man einen veritablen Schulabschluss brauchen, für die Vorabendserien erweiterte humanistische Bildung, für die Abend- und Spätabendschiene gar Kultur im engeren Sinne. Die pseudopolitischen Wurstverkäufer werden im Massengrab gammeln, nicht besser als ihre billige Ware, der Schunkelzwang wird Geschichte sein und der Bildungsauftrag der Sendeanstalten wieder eine inhaltliche Kategorie. Einem Reich-Ranicki haben die TV-Brezeln standgehalten, unbeugsam wie Margarine, aber die Folgen werden kommen. Und eine Rentnergeneration, die Rosen züchtet, Bücher liest, Akkordeon spielt und die Glotze aus dem Fenster schmeißt, muss auch nicht schlecht sein.





Gernulf Olzheimer kommentiert (LXX): Ästhetische Katastrophen im Alter

13 08 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Der Zustand der Materie ist das, was durch eine Veränderung Zeit sein lässt; so wenigstens definiert es der Physiker, während die Uneingeweihten das fundamentalontologische Gerüst eher andersherum bauen. Sein und Zeit betrachten sie so, dass der Verlauf von Uhr, Kalender und astronomischen Zyklen erst jene Prozesse fördert, die schließlich in die Allbezwingerin des Fleischlichen münden, in die Schwerkraft, die alles, Bindegewebe samt ornamentalem Fortsatz, irgendwann ergreift. Und so geht alles, was ist, irgendwann auch wieder in die majestätische Ruhe des Anorganischen über, zumindest in farblicher Hinsicht.

Das Ende der Welt, as we know it, es ist beige. Jener braungrüngrau in die Optik gehebelte Unfall ist eine Mixtur aus nassem Sand und morschem Brot, Körpersekret und Langeweile, die allem den Abstumpfungsgrad von Tapetenkleister verleiht. Was in diese Masse stolpert, wird aufgesogen, wie in ein Gravitationsfeld geschlürft, aus dem es kein Entrinnen gibt, weil der Ereignishorizont gleich Null ist: Senioren, von Kopf bis Fuß in klamme Klamotten verklammert, sind als Beiges Loch in der Existenz gefangen und ziehen gnadenlos ihre Altersgenossen in die Quadranten der Nichtfarbe, die jegliche Ästhetik ausradiert. Nicht nur, dass die Signalunfarbe in Menschenansammlungen von drei Einheiten aufwärts unwillkürlich Assoziationen mit einem weichen Ziel aufkeimen lässt, sie lässt die zu Popeline geronnene Scheußlichkeit magenkranker Schnittmustersadisten Wahrheit werden, jenes als Tarnkleidung gedachte Rentnerbeseitigungstextil, das den visuellen Teilchenstillstand symbolisiert, ein Nullschalter für die Entropie. Sobald sich die ästhetische Katastrophe in Eierschalenblassbraun ereignet, ruhen Kreislauf, Hirnströme und andere niedermolekulare Bewegungsmuster – würde der in Matschton geschwiemelte Ruheständler als zweiter Nijinsky durch die vollbelebte Innenstadt von Bad Harzburg hüpfen, es würde keiner Seele auffallen.

Beleidigender jedoch sind die Schnitte, mit denen sich das trübe Tuch gerissen als Mode tarnt. Viereckige Sackdarsteller mit angenagelten Ärmeln und mittig eingenietetem Reißverschluss ergeben die allseits beliebte Windjacke – eine nur in der Kleidergröße fortgesetzte Demütigung, wie sie das Kindergartenalter kannte, als die Blagen motorisch noch damit überfordert waren, sich die Joppe selbst zu schließen. Die Seitentaschen sind selbstredend so beschissen geschnitten, dass jeder noch so kurzarmige Bekloppte sich beide Ellenbogen amputieren lassen müsste, um einmal mit den Pfoten ins Futter zu kommen – doch wozu? der Thoraxfeudel, tunlichst kurz geschnitten, da im Lebensherbst ja überwiegend regungslos gesessen wird, ist nicht einmal geeignet, pro Seite ein Paket Papiertaschentücher aufzunehmen, von größeren Objekten einmal ganz zu schweigen. Genügsamkeit ist das Wesen dieser Gewandung. Als ob das senile Sediment in Sandstein-mit-Schimmelpilz-Uniform noch Bedürfnisse anmelden dürfte.

Geht es der Seniorin besser? Das Kittelett im Ich-war-eine-Schlafzimmergardine-Dekor deutet ein desolates Nein an, das die beiden verfügbaren Rocklängen – etwas zu kurz, unvorteilhaft lang – mit gehässiger Verve unterstreichen. Dazu ist das Schuhwerk wie geschaffen, die Geschichte der Jetztmenschen aus dem Urgrund der Savannenjäger zu erklären: formloses Geklumpe, das aussieht, als sei der Cro-Magnon ungeschickt in irgendeinen Beutelsäuger getreten und habe das Ding aus reiner Bequemlichkeit gleich an den Füßen gelassen.

Ist also Beige, prickelnd vor Langeweile und ein Generalangriff auf die arglose Netzhaut, nichts als eine Reminiszenz an die Urzeit des Hominiden, als man jene kurz vor dem Ausscheiden aus dem Sippenverband begriffenen Claninsassen hurtig in den Modder schmiss, um sie für Säbelzahntiger und Mammut unsichtbar zu machen, wie wir auch heute unsere Oldies ins soziale Hintergrundrauschen zurückdrücken, sobald uns bewusst wird, dass wir sie noch nicht legal losgeworden sind? Oder ist es der verzweifelte Versuch, uns vor einer Schar durchgeknallter Silberrücken zu bewahren, die in berufsjugendlichem Outfit die Zivilisation stürmen, in Sport- und Funktionskleidung, atmungsaktiven PU-Stoffen, jugendlichem Chic (oder wenigstens dem, was systemkritische Herrenschneider in Wochenendbeilagen unter Zuhilfenahme des Wortes modemutig dazu erklären) mit zehn Prozent Schafschurwolle und in Farben, die man in den Siebzigern noch für eine Ausgeburt von Drogen und Kommunismus hielt? So kleckert es ansatzlos aus brechreizaktiv gefederten Überlandbussen, wenn die halbe Einwohnerschaft von Rheinland-Pfalz zum Heizdeckenrodeo mit Pflaumenkuchen anrollt und in erbsengrünen Windjacken mit malve-taubenblau abgesteppten Kragenapplikationen zu weinroten Damenblousons aus Waschseide alle frei flottierenden Vorurteile schreiend bestätigt. Hie und da greift das lebensältere Personal schon zur Baseballkappe, und es wird eine Frage der Zeit sein, bis die Gesellschaft zum 90. Geburtstag im Kill-your-Idol-Shirt anrückt. Wir werden es aushalten. Hauptsache, das Ding ist nicht beige.