Liebe Leserinnen, liebe Leser,
’s ist Krieg, und ich begehre, nicht schuld daran zu sein. Viel hätten wir erwarten können, manches erwarten müssen. Aber in diesen Tagen, ohnehin am Rand sich stetig verdunkelnder Zukunft, hatten wir gehofft, es nicht zu erwarten. Zeitenwende, sagen sie, sei das Wort der Stunde, aber es ist so wenig die Beschreibung der Gegenwart wie es aus ihr kommt. Wir haben alles schon vorher gewusst, denn die Tatsachen standen ja fest, und nichts ändert sich, vor allem nicht, was sich ändern muss. Vieles von dem, das in den vergangenen Jahren an dieser Stelle stand, könnte auch jetzt hier stehen. Es scheint, als würden wir nicht nur nicht lernen wollen, sondern auch alles Gelernte, jede Erkenntnis wieder von uns weisen, in der trotzigen Annahme, man könnte sich mit nur genügend Starrsinn gegen die Wirklichkeit stemmen. Wir sind in diese Situation nicht einfach hereingerutscht – wie man niemals in einem Krieg aufwacht, man hat nur alle Anzeichen übersehen, die Warnungen in den Wind geschlagen und nicht mit den Folgen seiner Untätigkeit gerechnet – und haben allen Grund, uns unserer Gleichgültigkeit zu schämen.
Doch uns ist das Hemd näher als die Hose, vor allem, wenn es das eigene Hemd ist. Solidarität, Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Schwächeren, die wir selbst sein könnten – und im geopolitischen Maßstab auch bald sind, wenn wir nicht schleunigst reagieren – sind im Denken dieser Epoche ein Zeichen mangelnder Größe, das man sich als politisches Gebilde mit Machtanspruch besser nicht ansehen lässt. Noch immer haben wir die kulminierenden Krisen nicht gebannt. Das Land wehrt sich, in einer gemeinsamen Anstrengung den überfälligen Wandel anzugehen, den Mythos vom stetigen Wachstum zu überwinden, Wirtschaft und Daseinsvorsorge von der Gier einiger weniger Figuren zu entkoppeln, gesellschaftliche Spaltung in allerlei Gestalten zu beenden, die Zerstörung des Planeten für die Bequemlichkeit einer saturierten, herrschsüchtigen Gruppe weinerlicher Hohlköpfe zu beenden.
Ob eine Radikalisierung gegen die Dummheit uns helfen würde, hatte ich einst gefragt, und war zu dem Schluss gekommen, dass die Vernunft uns vor Radikalisierung schützen werde und gebiete, im Rahmen des Rechts und der Verhältnismäßigkeit zu bleiben, um nicht auf das Niveau marodierender Staatsfeinde zu sinken. Inzwischen demonstrieren Menschen dafür, dass vom Parlament beschlossene Gesetze, international geschlossene Verträge und in der Verfassung festgeschriebenen Rechte nicht mit Füßen getreten werden, wofür sie kriminalisiert und von den Hohlköpfen als Terroristen beschimpft werden. Reflexhaft schreien sie nach Überwachen und Strafen, nach den beiden Übungen, aus denen ihr Rechtsverständnis besteht. Müßig ist die Frage, wer dumm ist, wer sich längst radikalisiert hat.
Wir leisten uns eine politische Kaste, die den Staat, überhaupt den Gedanken der demokratischen Vertretung ad absurdum führt und dabei noch auf die Idee verfällt, sich ihr moralisch fragwürdiges Handeln unter dem Deckmantel des Sachzwangs selbst zu gestatten. Begriffe wie Markt, Recht oder Verantwortung werden ausgehöhlt, damit es in die Agenda kurzfristiger Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit passt. In den letzten Tagen dieses an sich schon desolat verlaufenen Jahres platzt dann die Meldung, eine moralisch verkommene Truppe vollkommen verblendeter Extremisten habe sich angeschickt, einen Staatsstreich zu verüben. Die angeblich sittenstrengen Tugendwächter erweisen sich einmal mehr als lächerliche Sprechpuppen, die außer Gepöbel nichts zu bieten haben.
Die Zeitenwende ist hier nicht angekommen. Sie wissen, dass Repression nur dann funktioniert, wenn ein Staat allmächtige Mittel zur Verfügung hat, was nie der Fall ist, und nie von Dauer ist, was oft genug zu verfolgen war und ist. Noch sind wir in einem Bereich, in dem die politische Kaste sich an einer Minderheit abarbeitet, weil sie ihr stetiges Versagen auf ein Feindbild projizieren muss, aber die Werkzeuge sind geschaffen, Mechanismen und ein Apparat, der sich ihrer bedient, auch in einer Ordnung, die diese demokratisch gewählte später über den Haufen schießen kann. Auch das haben wir gesehen und sehen es noch. Es gibt manche, die es nicht stört, solange man nicht auf sie schießt.
Friede auf Erden. Ein schönes Postulat, nur wird innerhalb kürzester Zeit die Debatte von Zweiflern ausgebremst, von den Realpolitikern übernommen, von gut vernetzten, wirtschaftsnahen Fachleuten, die messerscharf analysieren, warum eine schnelle Lösung unserer Konflikte und Katastrophen für die Anleger schädlich wäre, Fehlanreize setzen würde für auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr verwertbare Bevölkerungssegmente und schließlich die gut an Bomben und Überschwemmungen verdienenden Investoren dazu brächte, ihre Steuern in einem anderen Land zu hinterziehen. Eine halbe Million Tote pro Jahr verkraftet die Börse, wenn es nicht zu viele sind, muss man keine Fremden einwandern lassen, die den Einheimischen die Jobs wegnehmen. Frieden liegt im Auge des Betrachters, und wir lassen uns ohnehin abspeisen mit Brocken, die in Zukunft nichts gelten. Da begrünt ein Städtchen die Dächer ihrer drei Bushaltestellen, klotzt noch einen Blumenkübel aus Recyclingholz daneben, fertig ist das Placebo, das verkündet: wir haben doch alles gemacht. Für Windräder gab’s keine Mehrheit unter den Fossillobbyisten, Fotovoltaik haben wir schon erfolgreich vom Markt entfernt, Geothermie kostet natürlich erst mal wieder viel Zeit, in der wir uns lieber mit Flächenversiegelung beschäftigen, mit mehr Parkplätzen für den autogerechten Ausbau der Innenstädte, und wenn erst einmal alle Autobahnen sechsspurig sind, wird es hier richtig schön.
Diese Dummheit bedarf keiner Radikalisierung, sie ist bereits radikal in ihrer Borniertheit.
Uns fehlt die Zukunft, vielmehr: die Erzählung, die diese Zukunft sein kann. Wir waren vielleicht einmal Teil eines Narrativs, das Erfolg und Frieden auf seine Fahnen geschrieben und einen Teil dessen auch erreicht hat; wir haben diese Geschichte aber mutwillig weggeschmissen und fest daran geglaubt, dass man dem kommenden Untergang wohl kaum würde entrinnen können. Also haben wir einfach alles lauter gedreht, sind noch schneller in den Sonnenuntergang gerast, haben dem Gesindel, das für uns Staat spielen sollte, alles geglaubt, auch die übelsten Lügen, wenn sie nur in eine verbogene Ideologie passten, mit der wir in guten Tagen bei der Stange gehalten werden. Die Stützen dieser Gesellschaft leugnen hartnäckig, dass alle ihre Errungenschaften und Privilegien, kurz: das, was sie Freiheit nennen, lediglich auf Zerstörung und Abhängigkeiten beruht. Diese verantwortungslose Freiheit, die es ihnen erlaubt, sich töricht und nach Möglichkeit rücksichtslose zu verhalten, weil es nie negativ sanktioniert wurde, ist nicht die Freiheit der anderen von vermeidbaren Risiken. Wir sind längst in einem Krieg, doch wir haben noch nicht alle begriffen, dass ihn die Menschheit gegen sich selbst kämpft – und ihn falsch kämpft.
Wir kämpfen immer noch gegen alles, was uns nicht passt, und grenzen folgerichtig die aus, die für eine Zukunft kämpfen, in der die Erzählung wieder trägt. Alle anderen Probleme, in die sich diese Gesellschaft eingegraben hat, werden wir so kaum bewältigen. Und solange wir nicht begreifen, dass es Menschheitsprobleme gibt, die nur von der ganzen Menschheit bewältigt werden können, wenn es dazu noch nicht zu spät ist, werden wir den Kipppunkt verpassen, in dem wir in die Diktatur taumeln, die uns der Planet selbst aufzwingt. Gegen diesen Gegner ist kein Krieg zu führen. Wir werden endlich verhandeln wollen, doch dann wird es viel zu spät sein. Wir haben es in der Hand. Noch.
Doch kommen wir nun zu den angenehmen Dingen, denn das Leben besteht ja zum Glück nicht nur aus Ärgernissen wie Politik, Wirtschaft oder Dummheit. Da ist auch noch die Familie, teils echte und teils Wahlverwandtschaft, die sich ab und zu ein Stelldichein in diesen Kolumnen gibt – ich gebe zu, ich wüsste oft viel mehr zu berichten von ihnen, durchaus auch Unterhaltsames und Wissenswertes, aber es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Diskretion über allem steht, und niemals würde ich mich etwa über eine gute Freundin wie Anne lustig machen. Schließlich ist sie eine exzellente Juristin, und das würde mich teuer zu stehen kommen. Also schauen wir auf die kommenden Festtage, die wir wie stets im Landgasthof vor den Toren der Stadt verbringen werden, bei Bruno, als Fürst Bückler eine Legende der regionalen und ausgezeichneten Küche, und seinem Bruder Hansi, der ihn jüngst zu einigen kleinen Arbeiten in Haus und Küche überreden konnte. Sie sind ans Ersparte gegangen, der langjährige Entremetier Petermann, längst Brunos Stellvertreter und für geschäftliche Solidität geschätzt, hat ordentlich kalkuliert. Vor ein paar Wochen war die Neueröffnung, alle Tische reserviert, ein blendend gelaunter Chefkoch mit den charakteristischen Schnurrbartspitzen, die ihm das Aussehen eines Hummers verliehen, die Dekoration von Sofia Asgatowna, Annes ehemaliger Putzfrau, die nun mit einem in Blau und Zartgelb gehaltenen Blumenhimmel den Saal verzauberte – so werden wir auch den Jahresausklang dort feiern. Ob alle in der rechten Stimmung sein werden? Man muss ein paar Traditionen aufrecht erhalten, auch in weniger schöner Zeit. Und dazu gehören auch der 1995-er Wupperburger Brüllaffe und das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen, von Hansi in einem arg verstaubten Nebengelass des Kellers unter allerhand ungenießbarem Zeugs entdeckt. Ich wage hier eine kühne Vermutung, die aber nie, wirklich nie an die Öffentlichkeit dringen darf: angesichts der durchaus hohen und konstanten Qualität der beiden Spitzenweine lässt der erfahrene Gastronom – möglicherweise ohne Wissen seines älteren Bruders – originalgetreu gestaltete Etiketten drucken und auf die Flaschen kleben, die seit Jahren ausschließlich am Weihnachtstag kredenzt werden. Das Knarrtreppchen hat noch dieses feine Spiel aus Säure und Beerenaromen, aber schon seit 2019 kein bisschen gemöpselt. Die spontane Verjüngung kann ausgeschlossen werden, so bleibt das Geheimnis ein Geheimnis, und wir werden selbstverständlich nicht daran rühren. Immerhin sichert uns das auf lange Sicht die Versorgung mit edlen Tropfen.
Breschkes Tochter ist derzeit noch im fernen Osten unterwegs, wo sie eine Reisegruppe durch Angkor Wat führen sollte. Ihrem letzten Besuch in Kambodscha verdankt sie einen mittelschweren Schock, als die eigentlich zum Frittieren gedachten Wasserwanzen in der Imbissbude vor dem Hotel sich selbstständig machten, um das Erdgeschoss ihrerseits nach Essbarem zu durchsuchen. So werden der pensionierte Finanzbeamte und seine Gattin wie in den Jahren zuvor vormittags vor der Tür halten und hupen, auf eine schnelle Tasse Tee heraufkommen und dann in die herzogliche Gegend fahren. Bismarck, zugegebenermaßen der dümmste Dackel im weiten Umkreis, aber in seiner Treue und Anhänglichkeit über jeden Zweifel erhaben, wird auf der Rückbank liegen und leise schnarchen, da er das Autofahren so furchtbar langweilig findet. So verschieden ist es im menschlichen Leben.
Wie im vergangenen Jahr ist Anne nicht auf einer einsamen Skihütte (und steht dann pünktlich um Mitternacht am zweiten Festtag vor meiner Tür, wo sie mit enormen Portionen von Schokolade und Rotwein wieder aufgepäppelt werden muss) und hat dazu auch einen Grund. Seit einigen Wochen ist sie Halterin eines Katers, wobei er die Sache sicherlich eher umgekehrt definieren würde. Er besitzt eine Reihe außerordentlicher Talente, unter anderem ist er in der Lage, an so gut wie jedem Ort in ihrer Wohnung in mitunter bizarren Verrenkungen zu schlafen, was sich schlagartig ändert, sobald Anne aus der Kanzlei zurückkehrt und es sich auf dem Sofa gemütlich macht. Es soll Dressurtechniken geben, die durch subtile Wiederholungen in eine Art andauernden Trancezustand führen, der schließlich willenlos macht; er hat sie irgendwann da, wo er sie haben will. Es wird noch spannend.
Luzie Freese, Annes Büroleiterin und die Seele des Hauses, hat sich verplappert, das heißt: wir nehmen an, dass es nicht absichtlich war. Nachdem sie nun ihr Häuschen mit dem Finanzbuchhalter und Lebensgefährten Minnichkeit seit einiger Zeit teilt, wo er sich ein hübsches Zimmerchen auf dem Dachboden als Arbeitsraum ausgebaut hat – er besitzt handwerkliches Talent, auch wenn er selbst davon bisher nichts geahnt hatte – sprach sie jüngst von der Planung einer Hochzeitsreise, beeilte sich aber hinzuzufügen, dass es selbstverständlich um gute Freunde ginge, die als Opernliebhaber gerne wieder einmal nach Verona und Mailand fahren wollten. Noch sind sie nicht verehelicht, das wüsste Anne aus der Gehaltsabrechnung, aber alles deutet darauf hin, dass sich das bald ändert.
Von Mandy Schwidarski, vor längerer Zeit als Leiterin der Agentur Trends & Friends Geschäftspartnerin und Nervensäge, haben wir seit der letzten Weihnachtsfeier nichts gehört. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Fachfrau für Marketing und Werbung versuche, in der Politik zu reüssieren. Es würde zu ihr passen und zu mancher Partei, in denen man jeden beliebigen Inhalt auf das Volk loslässt, solange es gut verpackt werden kann – der Inhalt, aber wenn man darüber nachdenkt, wird das Volk gleich mit eingewickelt. Ob sie damit Erfolg haben wird? Es ist, leider, durchaus denkbar.
Fast hätte mein Großneffe Kester einen kurzen, aber heftigen Auftritt im Fernsehen gehabt, als er in den Abendnachrichten einige erklärende Worte zu dem epochalen Durchbruch in der Kernfusion referieren sollte. Als ordentlicher Professor für theoretische Physik befand er die Angelegenheit für hirnlosen Unfug – er drückte sich nur nicht ganz so gewählt aus – und erklärte der von Sachkenntnis völlig freien Redakteurin, dass dies einer von sehr, sehr vielen Schritten sei, die man auf dem Weg bis zum Bau eines funktionierenden Reaktors gehen müsse. Sie hatten seine Ausführungen dazu auch nicht ganz verstanden, also sendeten sie lieber eine Aufzeichnung, in der jemand die allgemeine mit der speziellen Relativitätstheorie verwechselte.
Mein Patenkind Maja ist fast fertig mit ihrer Habilitationsschrift. Die Nullstellenberechnung bei Polynomen fünften Grades hat noch einmal gut zwanzig Druckseiten in Anspruch genommen, von denen ich allerdings nicht viel verstehe. Das Kind hat früher immer so gerne gerechnet, sagt ihre Großmutter. Es muss irgendwie an den imaginären Zahlen gelegen haben. Oder an diesen Wurzeln.
Nachdem Doktor Klengel, seinerzeit Hausarzt der Familie, in die Nähe seiner Schwester gezogen war, um unter Anleitung des Grafen Rummelsdorf dessen umfangreiche Kunstsammlung zu ordnen, hatte er ja das Aquarellieren für die Fotografie drangegeben. Im Seitenflügel des Herrenhauses war der Nukleus einer Ausstellung entstanden, der als kostbares Buch demnächst erscheinen sollte. Leider ereilte Gottfried Heinrich Reichsgraf Rummelsdorf zu Knobelheim am Vorabend seines neunzigsten Geburtstages der Schlag, an dem er nun friedlich verschied; Berta, Doktor Klengels Schwester, war an seiner Seite. Die verwitwete Gymnasiallehrerin hatte zunächst Bedenken, doch nun haben sie als sachwaltende Erben des kunstsinnigen Herren das lebenslängliche Wohnrecht in Anspruch genommen und leben in jenem Flügel, den das norddeutsche Kleinod der Landarchitektur aus dem Moor hebt. Ein von Doktor Klengel selbst kuratierter Überblick der gesammelten Kunstschätze seit der Renaissance wird Anfang kommenden Jahres in den Sälen des Schlösschens der Öffentlichkeit übergeben, wobei der Wille des Verblichenen, alles kostenfrei den Besuchern zu zeigen, auf äußerst positive Resonanz gestoßen war. Unser Allgemeinmediziner wird in den kommenden Jahren durchaus gebraucht.
Die Schallplattensammlung des von uns sehr geschätzten Staatsanwalts a.D. Husenkirchen hat nach seinem Heimgang eine neue Heimstatt in seiner Obhut gefunden. Dass das örtliche Archiv der Stadtbibliothek sie derart schnöde zurückwies, hat mich persönlich verärgert. Aber was erwartet man von wissenschaftlich ungebildeten Kräften, die noch dazu unwissenschaftlich gebildet erscheinen.
Vor einigen Tagen kam wie immer zu dieser Jahreszeit Siebels unangekündigt vorbei, der TV-Produzent, den man selbstverständlich brauchte. Er hatte dreißig Folgen Karibik-Krankenhaus in die Tonne getreten, fünfzig Krimis mit intellektuellen Höhenflügen auf Fußbodenhöhe und jede Menge Schmalz. Die Nachfolge von Frank Lanz war an seiner Vorzimmertür gescheitert, er hatte sogar die Jahresrückblicke aller führender Privatsender in Bausch und Bogen abgelehnt, ohne überhaupt über deren Honorarforderungen nachgedacht zu haben. Als graue Eminenz der Fernsehens hasste er nichts so sehr wie das Fernsehen, und wer seine Spuren in den vergangenen Jahrzehnten auch nur halbwegs aufmerksam verfolgt hatte, wusste auch genau, was es damit auf sich hat. Keiner würde sich wundern, hackte er demnächst ein Studio zu Klump, um sich danach nur noch der Produktion von Podcasts zu widmen. Oder Ananas zu züchten, meinetwegen in abgelegenen Regionen eines Subkontinents ohne nennenswerte mediale Abdeckung. Wie sich das entwickelt, weiß jetzt noch niemand.
Zu guter Letzt gilt mein Dank dem Freund und Kollegen Gernulf Olzheimer, der kurz vor dem Fest immer noch einmal vorbeischaut, früher zu einer kürzeren oder längeren Manöverkritik und dem Versprechen, ein weiteres Jahr wieder zu jedem Freitag einen Kommentar abzuliefern, der dann mit leichten redaktionellen Bearbeitungen – so ist es in unserer Abmachung festgehalten – erscheinen wird. Tatsächlich habe ich nie einen Text aus seiner Feder abgelehnt, sie werden längst nicht mehr redigiert. Er ist und bleibt eine der Stützen, auf die ich mich werde verlassen können, da er im Kampf gegen Dummheit, Einfalt und ideologische Verblendung unermüdlich ein scharfes Schwert führt und die reine Urteilskraft auf seiner Seite weiß. Er ist mir ein unverzichtbarer Mitarbeiter geworden, dessen Beiträge um so wertvoller werden, da sie eine große Bandbreite an Beklopptheit aufs Korn nehmen, die selbst mir nicht immer auffällt. Ich freue mich, dass er eine breite Anhängerschaft gefunden hat. Das spricht für ihn.
Und so beschließe ich einmal mehr mit der alten Tradition ein Jahr, indem ich den Schreibtisch samt allen Schubladen leere, säuberlich ausfege und alles darin, halb und nicht einmal halb Fertiges, nicht brauchbare Versuche, Anfänge ohne Ende und den ganzen pointenlosen Stapel der Fingerübungen und der vergeblichen Liebesmüh im Kristallascher in Rauch aufgehen lasse. Worauf der zweite Schritt des Archivierens beginnt, in dem ich gerne noch einmal alles sortiere, durch- und aufarbeite, mit selbstkritischem Blick begutachte, hier und da die Texte analysiere, in ihre Bestandteile zerlege und zu verstehen versuche, was ich damit eigentlich hatte sagen wollen. Manchmal gelingt es. Bisweilen bin ich ganz zufrieden, doch nicht zu sehr – es würde ja sonst der Ansporn fehlen, es noch ein weiteres Jahr in diesem kleinen literarischen Salon auszuhalten und mit einem Funken Hoffnung zu beginnen. Was davon Wirklichkeit wird, werden wir sehen. Am Donnerstag, den 5. Januar 2023 ist es wieder an der Zeit.
Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.
Beste Grüße und Aufwiederlesen
bee
Satzspiegel