Zeitenwende

21 12 2022

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

’s ist Krieg, und ich begehre, nicht schuld daran zu sein. Viel hätten wir erwarten können, manches erwarten müssen. Aber in diesen Tagen, ohnehin am Rand sich stetig verdunkelnder Zukunft, hatten wir gehofft, es nicht zu erwarten. Zeitenwende, sagen sie, sei das Wort der Stunde, aber es ist so wenig die Beschreibung der Gegenwart wie es aus ihr kommt. Wir haben alles schon vorher gewusst, denn die Tatsachen standen ja fest, und nichts ändert sich, vor allem nicht, was sich ändern muss. Vieles von dem, das in den vergangenen Jahren an dieser Stelle stand, könnte auch jetzt hier stehen. Es scheint, als würden wir nicht nur nicht lernen wollen, sondern auch alles Gelernte, jede Erkenntnis wieder von uns weisen, in der trotzigen Annahme, man könnte sich mit nur genügend Starrsinn gegen die Wirklichkeit stemmen. Wir sind in diese Situation nicht einfach hereingerutscht – wie man niemals in einem Krieg aufwacht, man hat nur alle Anzeichen übersehen, die Warnungen in den Wind geschlagen und nicht mit den Folgen seiner Untätigkeit gerechnet – und haben allen Grund, uns unserer Gleichgültigkeit zu schämen.

Doch uns ist das Hemd näher als die Hose, vor allem, wenn es das eigene Hemd ist. Solidarität, Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Schwächeren, die wir selbst sein könnten – und im geopolitischen Maßstab auch bald sind, wenn wir nicht schleunigst reagieren – sind im Denken dieser Epoche ein Zeichen mangelnder Größe, das man sich als politisches Gebilde mit Machtanspruch besser nicht ansehen lässt. Noch immer haben wir die kulminierenden Krisen nicht gebannt. Das Land wehrt sich, in einer gemeinsamen Anstrengung den überfälligen Wandel anzugehen, den Mythos vom stetigen Wachstum zu überwinden, Wirtschaft und Daseinsvorsorge von der Gier einiger weniger Figuren zu entkoppeln, gesellschaftliche Spaltung in allerlei Gestalten zu beenden, die Zerstörung des Planeten für die Bequemlichkeit einer saturierten, herrschsüchtigen Gruppe weinerlicher Hohlköpfe zu beenden.

Ob eine Radikalisierung gegen die Dummheit uns helfen würde, hatte ich einst gefragt, und war zu dem Schluss gekommen, dass die Vernunft uns vor Radikalisierung schützen werde und gebiete, im Rahmen des Rechts und der Verhältnismäßigkeit zu bleiben, um nicht auf das Niveau marodierender Staatsfeinde zu sinken. Inzwischen demonstrieren Menschen dafür, dass vom Parlament beschlossene Gesetze, international geschlossene Verträge und in der Verfassung festgeschriebenen Rechte nicht mit Füßen getreten werden, wofür sie kriminalisiert und von den Hohlköpfen als Terroristen beschimpft werden. Reflexhaft schreien sie nach Überwachen und Strafen, nach den beiden Übungen, aus denen ihr Rechtsverständnis besteht. Müßig ist die Frage, wer dumm ist, wer sich längst radikalisiert hat.

Wir leisten uns eine politische Kaste, die den Staat, überhaupt den Gedanken der demokratischen Vertretung ad absurdum führt und dabei noch auf die Idee verfällt, sich ihr moralisch fragwürdiges Handeln unter dem Deckmantel des Sachzwangs selbst zu gestatten. Begriffe wie Markt, Recht oder Verantwortung werden ausgehöhlt, damit es in die Agenda kurzfristiger Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit passt. In den letzten Tagen dieses an sich schon desolat verlaufenen Jahres platzt dann die Meldung, eine moralisch verkommene Truppe vollkommen verblendeter Extremisten habe sich angeschickt, einen Staatsstreich zu verüben. Die angeblich sittenstrengen Tugendwächter erweisen sich einmal mehr als lächerliche Sprechpuppen, die außer Gepöbel nichts zu bieten haben.

Die Zeitenwende ist hier nicht angekommen. Sie wissen, dass Repression nur dann funktioniert, wenn ein Staat allmächtige Mittel zur Verfügung hat, was nie der Fall ist, und nie von Dauer ist, was oft genug zu verfolgen war und ist. Noch sind wir in einem Bereich, in dem die politische Kaste sich an einer Minderheit abarbeitet, weil sie ihr stetiges Versagen auf ein Feindbild projizieren muss, aber die Werkzeuge sind geschaffen, Mechanismen und ein Apparat, der sich ihrer bedient, auch in einer Ordnung, die diese demokratisch gewählte später über den Haufen schießen kann. Auch das haben wir gesehen und sehen es noch. Es gibt manche, die es nicht stört, solange man nicht auf sie schießt.

Friede auf Erden. Ein schönes Postulat, nur wird innerhalb kürzester Zeit die Debatte von Zweiflern ausgebremst, von den Realpolitikern übernommen, von gut vernetzten, wirtschaftsnahen Fachleuten, die messerscharf analysieren, warum eine schnelle Lösung unserer Konflikte und Katastrophen für die Anleger schädlich wäre, Fehlanreize setzen würde für auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr verwertbare Bevölkerungssegmente und schließlich die gut an Bomben und Überschwemmungen verdienenden Investoren dazu brächte, ihre Steuern in einem anderen Land zu hinterziehen. Eine halbe Million Tote pro Jahr verkraftet die Börse, wenn es nicht zu viele sind, muss man keine Fremden einwandern lassen, die den Einheimischen die Jobs wegnehmen. Frieden liegt im Auge des Betrachters, und wir lassen uns ohnehin abspeisen mit Brocken, die in Zukunft nichts gelten. Da begrünt ein Städtchen die Dächer ihrer drei Bushaltestellen, klotzt noch einen Blumenkübel aus Recyclingholz daneben, fertig ist das Placebo, das verkündet: wir haben doch alles gemacht. Für Windräder gab’s keine Mehrheit unter den Fossillobbyisten, Fotovoltaik haben wir schon erfolgreich vom Markt entfernt, Geothermie kostet natürlich erst mal wieder viel Zeit, in der wir uns lieber mit Flächenversiegelung beschäftigen, mit mehr Parkplätzen für den autogerechten Ausbau der Innenstädte, und wenn erst einmal alle Autobahnen sechsspurig sind, wird es hier richtig schön.

Diese Dummheit bedarf keiner Radikalisierung, sie ist bereits radikal in ihrer Borniertheit.

Uns fehlt die Zukunft, vielmehr: die Erzählung, die diese Zukunft sein kann. Wir waren vielleicht einmal Teil eines Narrativs, das Erfolg und Frieden auf seine Fahnen geschrieben und einen Teil dessen auch erreicht hat; wir haben diese Geschichte aber mutwillig weggeschmissen und fest daran geglaubt, dass man dem kommenden Untergang wohl kaum würde entrinnen können. Also haben wir einfach alles lauter gedreht, sind noch schneller in den Sonnenuntergang gerast, haben dem Gesindel, das für uns Staat spielen sollte, alles geglaubt, auch die übelsten Lügen, wenn sie nur in eine verbogene Ideologie passten, mit der wir in guten Tagen bei der Stange gehalten werden. Die Stützen dieser Gesellschaft leugnen hartnäckig, dass alle ihre Errungenschaften und Privilegien, kurz: das, was sie Freiheit nennen, lediglich auf Zerstörung und Abhängigkeiten beruht. Diese verantwortungslose Freiheit, die es ihnen erlaubt, sich töricht und nach Möglichkeit rücksichtslose zu verhalten, weil es nie negativ sanktioniert wurde, ist nicht die Freiheit der anderen von vermeidbaren Risiken. Wir sind längst in einem Krieg, doch wir haben noch nicht alle begriffen, dass ihn die Menschheit gegen sich selbst kämpft – und ihn falsch kämpft.

Wir kämpfen immer noch gegen alles, was uns nicht passt, und grenzen folgerichtig die aus, die für eine Zukunft kämpfen, in der die Erzählung wieder trägt. Alle anderen Probleme, in die sich diese Gesellschaft eingegraben hat, werden wir so kaum bewältigen. Und solange wir nicht begreifen, dass es Menschheitsprobleme gibt, die nur von der ganzen Menschheit bewältigt werden können, wenn es dazu noch nicht zu spät ist, werden wir den Kipppunkt verpassen, in dem wir in die Diktatur taumeln, die uns der Planet selbst aufzwingt. Gegen diesen Gegner ist kein Krieg zu führen. Wir werden endlich verhandeln wollen, doch dann wird es viel zu spät sein. Wir haben es in der Hand. Noch.

Doch kommen wir nun zu den angenehmen Dingen, denn das Leben besteht ja zum Glück nicht nur aus Ärgernissen wie Politik, Wirtschaft oder Dummheit. Da ist auch noch die Familie, teils echte und teils Wahlverwandtschaft, die sich ab und zu ein Stelldichein in diesen Kolumnen gibt – ich gebe zu, ich wüsste oft viel mehr zu berichten von ihnen, durchaus auch Unterhaltsames und Wissenswertes, aber es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Diskretion über allem steht, und niemals würde ich mich etwa über eine gute Freundin wie Anne lustig machen. Schließlich ist sie eine exzellente Juristin, und das würde mich teuer zu stehen kommen. Also schauen wir auf die kommenden Festtage, die wir wie stets im Landgasthof vor den Toren der Stadt verbringen werden, bei Bruno, als Fürst Bückler eine Legende der regionalen und ausgezeichneten Küche, und seinem Bruder Hansi, der ihn jüngst zu einigen kleinen Arbeiten in Haus und Küche überreden konnte. Sie sind ans Ersparte gegangen, der langjährige Entremetier Petermann, längst Brunos Stellvertreter und für geschäftliche Solidität geschätzt, hat ordentlich kalkuliert. Vor ein paar Wochen war die Neueröffnung, alle Tische reserviert, ein blendend gelaunter Chefkoch mit den charakteristischen Schnurrbartspitzen, die ihm das Aussehen eines Hummers verliehen, die Dekoration von Sofia Asgatowna, Annes ehemaliger Putzfrau, die nun mit einem in Blau und Zartgelb gehaltenen Blumenhimmel den Saal verzauberte – so werden wir auch den Jahresausklang dort feiern. Ob alle in der rechten Stimmung sein werden? Man muss ein paar Traditionen aufrecht erhalten, auch in weniger schöner Zeit. Und dazu gehören auch der 1995-er Wupperburger Brüllaffe und das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen, von Hansi in einem arg verstaubten Nebengelass des Kellers unter allerhand ungenießbarem Zeugs entdeckt. Ich wage hier eine kühne Vermutung, die aber nie, wirklich nie an die Öffentlichkeit dringen darf: angesichts der durchaus hohen und konstanten Qualität der beiden Spitzenweine lässt der erfahrene Gastronom – möglicherweise ohne Wissen seines älteren Bruders – originalgetreu gestaltete Etiketten drucken und auf die Flaschen kleben, die seit Jahren ausschließlich am Weihnachtstag kredenzt werden. Das Knarrtreppchen hat noch dieses feine Spiel aus Säure und Beerenaromen, aber schon seit 2019 kein bisschen gemöpselt. Die spontane Verjüngung kann ausgeschlossen werden, so bleibt das Geheimnis ein Geheimnis, und wir werden selbstverständlich nicht daran rühren. Immerhin sichert uns das auf lange Sicht die Versorgung mit edlen Tropfen.

Breschkes Tochter ist derzeit noch im fernen Osten unterwegs, wo sie eine Reisegruppe durch Angkor Wat führen sollte. Ihrem letzten Besuch in Kambodscha verdankt sie einen mittelschweren Schock, als die eigentlich zum Frittieren gedachten Wasserwanzen in der Imbissbude vor dem Hotel sich selbstständig machten, um das Erdgeschoss ihrerseits nach Essbarem zu durchsuchen. So werden der pensionierte Finanzbeamte und seine Gattin wie in den Jahren zuvor vormittags vor der Tür halten und hupen, auf eine schnelle Tasse Tee heraufkommen und dann in die herzogliche Gegend fahren. Bismarck, zugegebenermaßen der dümmste Dackel im weiten Umkreis, aber in seiner Treue und Anhänglichkeit über jeden Zweifel erhaben, wird auf der Rückbank liegen und leise schnarchen, da er das Autofahren so furchtbar langweilig findet. So verschieden ist es im menschlichen Leben.

Wie im vergangenen Jahr ist Anne nicht auf einer einsamen Skihütte (und steht dann pünktlich um Mitternacht am zweiten Festtag vor meiner Tür, wo sie mit enormen Portionen von Schokolade und Rotwein wieder aufgepäppelt werden muss) und hat dazu auch einen Grund. Seit einigen Wochen ist sie Halterin eines Katers, wobei er die Sache sicherlich eher umgekehrt definieren würde. Er besitzt eine Reihe außerordentlicher Talente, unter anderem ist er in der Lage, an so gut wie jedem Ort in ihrer Wohnung in mitunter bizarren Verrenkungen zu schlafen, was sich schlagartig ändert, sobald Anne aus der Kanzlei zurückkehrt und es sich auf dem Sofa gemütlich macht. Es soll Dressurtechniken geben, die durch subtile Wiederholungen in eine Art andauernden Trancezustand führen, der schließlich willenlos macht; er hat sie irgendwann da, wo er sie haben will. Es wird noch spannend.

Luzie Freese, Annes Büroleiterin und die Seele des Hauses, hat sich verplappert, das heißt: wir nehmen an, dass es nicht absichtlich war. Nachdem sie nun ihr Häuschen mit dem Finanzbuchhalter und Lebensgefährten Minnichkeit seit einiger Zeit teilt, wo er sich ein hübsches Zimmerchen auf dem Dachboden als Arbeitsraum ausgebaut hat – er besitzt handwerkliches Talent, auch wenn er selbst davon bisher nichts geahnt hatte – sprach sie jüngst von der Planung einer Hochzeitsreise, beeilte sich aber hinzuzufügen, dass es selbstverständlich um gute Freunde ginge, die als Opernliebhaber gerne wieder einmal nach Verona und Mailand fahren wollten. Noch sind sie nicht verehelicht, das wüsste Anne aus der Gehaltsabrechnung, aber alles deutet darauf hin, dass sich das bald ändert.

Von Mandy Schwidarski, vor längerer Zeit als Leiterin der Agentur Trends & Friends Geschäftspartnerin und Nervensäge, haben wir seit der letzten Weihnachtsfeier nichts gehört. Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Fachfrau für Marketing und Werbung versuche, in der Politik zu reüssieren. Es würde zu ihr passen und zu mancher Partei, in denen man jeden beliebigen Inhalt auf das Volk loslässt, solange es gut verpackt werden kann – der Inhalt, aber wenn man darüber nachdenkt, wird das Volk gleich mit eingewickelt. Ob sie damit Erfolg haben wird? Es ist, leider, durchaus denkbar.

Fast hätte mein Großneffe Kester einen kurzen, aber heftigen Auftritt im Fernsehen gehabt, als er in den Abendnachrichten einige erklärende Worte zu dem epochalen Durchbruch in der Kernfusion referieren sollte. Als ordentlicher Professor für theoretische Physik befand er die Angelegenheit für hirnlosen Unfug – er drückte sich nur nicht ganz so gewählt aus – und erklärte der von Sachkenntnis völlig freien Redakteurin, dass dies einer von sehr, sehr vielen Schritten sei, die man auf dem Weg bis zum Bau eines funktionierenden Reaktors gehen müsse. Sie hatten seine Ausführungen dazu auch nicht ganz verstanden, also sendeten sie lieber eine Aufzeichnung, in der jemand die allgemeine mit der speziellen Relativitätstheorie verwechselte.

Mein Patenkind Maja ist fast fertig mit ihrer Habilitationsschrift. Die Nullstellenberechnung bei Polynomen fünften Grades hat noch einmal gut zwanzig Druckseiten in Anspruch genommen, von denen ich allerdings nicht viel verstehe. Das Kind hat früher immer so gerne gerechnet, sagt ihre Großmutter. Es muss irgendwie an den imaginären Zahlen gelegen haben. Oder an diesen Wurzeln.

Nachdem Doktor Klengel, seinerzeit Hausarzt der Familie, in die Nähe seiner Schwester gezogen war, um unter Anleitung des Grafen Rummelsdorf dessen umfangreiche Kunstsammlung zu ordnen, hatte er ja das Aquarellieren für die Fotografie drangegeben. Im Seitenflügel des Herrenhauses war der Nukleus einer Ausstellung entstanden, der als kostbares Buch demnächst erscheinen sollte. Leider ereilte Gottfried Heinrich Reichsgraf Rummelsdorf zu Knobelheim am Vorabend seines neunzigsten Geburtstages der Schlag, an dem er nun friedlich verschied; Berta, Doktor Klengels Schwester, war an seiner Seite. Die verwitwete Gymnasiallehrerin hatte zunächst Bedenken, doch nun haben sie als sachwaltende Erben des kunstsinnigen Herren das lebenslängliche Wohnrecht in Anspruch genommen und leben in jenem Flügel, den das norddeutsche Kleinod der Landarchitektur aus dem Moor hebt. Ein von Doktor Klengel selbst kuratierter Überblick der gesammelten Kunstschätze seit der Renaissance wird Anfang kommenden Jahres in den Sälen des Schlösschens der Öffentlichkeit übergeben, wobei der Wille des Verblichenen, alles kostenfrei den Besuchern zu zeigen, auf äußerst positive Resonanz gestoßen war. Unser Allgemeinmediziner wird in den kommenden Jahren durchaus gebraucht.

Die Schallplattensammlung des von uns sehr geschätzten Staatsanwalts a.D. Husenkirchen hat nach seinem Heimgang eine neue Heimstatt in seiner Obhut gefunden. Dass das örtliche Archiv der Stadtbibliothek sie derart schnöde zurückwies, hat mich persönlich verärgert. Aber was erwartet man von wissenschaftlich ungebildeten Kräften, die noch dazu unwissenschaftlich gebildet erscheinen.

Vor einigen Tagen kam wie immer zu dieser Jahreszeit Siebels unangekündigt vorbei, der TV-Produzent, den man selbstverständlich brauchte. Er hatte dreißig Folgen Karibik-Krankenhaus in die Tonne getreten, fünfzig Krimis mit intellektuellen Höhenflügen auf Fußbodenhöhe und jede Menge Schmalz. Die Nachfolge von Frank Lanz war an seiner Vorzimmertür gescheitert, er hatte sogar die Jahresrückblicke aller führender Privatsender in Bausch und Bogen abgelehnt, ohne überhaupt über deren Honorarforderungen nachgedacht zu haben. Als graue Eminenz der Fernsehens hasste er nichts so sehr wie das Fernsehen, und wer seine Spuren in den vergangenen Jahrzehnten auch nur halbwegs aufmerksam verfolgt hatte, wusste auch genau, was es damit auf sich hat. Keiner würde sich wundern, hackte er demnächst ein Studio zu Klump, um sich danach nur noch der Produktion von Podcasts zu widmen. Oder Ananas zu züchten, meinetwegen in abgelegenen Regionen eines Subkontinents ohne nennenswerte mediale Abdeckung. Wie sich das entwickelt, weiß jetzt noch niemand.

Zu guter Letzt gilt mein Dank dem Freund und Kollegen Gernulf Olzheimer, der kurz vor dem Fest immer noch einmal vorbeischaut, früher zu einer kürzeren oder längeren Manöverkritik und dem Versprechen, ein weiteres Jahr wieder zu jedem Freitag einen Kommentar abzuliefern, der dann mit leichten redaktionellen Bearbeitungen – so ist es in unserer Abmachung festgehalten – erscheinen wird. Tatsächlich habe ich nie einen Text aus seiner Feder abgelehnt, sie werden längst nicht mehr redigiert. Er ist und bleibt eine der Stützen, auf die ich mich werde verlassen können, da er im Kampf gegen Dummheit, Einfalt und ideologische Verblendung unermüdlich ein scharfes Schwert führt und die reine Urteilskraft auf seiner Seite weiß. Er ist mir ein unverzichtbarer Mitarbeiter geworden, dessen Beiträge um so wertvoller werden, da sie eine große Bandbreite an Beklopptheit aufs Korn nehmen, die selbst mir nicht immer auffällt. Ich freue mich, dass er eine breite Anhängerschaft gefunden hat. Das spricht für ihn.

Und so beschließe ich einmal mehr mit der alten Tradition ein Jahr, indem ich den Schreibtisch samt allen Schubladen leere, säuberlich ausfege und alles darin, halb und nicht einmal halb Fertiges, nicht brauchbare Versuche, Anfänge ohne Ende und den ganzen pointenlosen Stapel der Fingerübungen und der vergeblichen Liebesmüh im Kristallascher in Rauch aufgehen lasse. Worauf der zweite Schritt des Archivierens beginnt, in dem ich gerne noch einmal alles sortiere, durch- und aufarbeite, mit selbstkritischem Blick begutachte, hier und da die Texte analysiere, in ihre Bestandteile zerlege und zu verstehen versuche, was ich damit eigentlich hatte sagen wollen. Manchmal gelingt es. Bisweilen bin ich ganz zufrieden, doch nicht zu sehr – es würde ja sonst der Ansporn fehlen, es noch ein weiteres Jahr in diesem kleinen literarischen Salon auszuhalten und mit einem Funken Hoffnung zu beginnen. Was davon Wirklichkeit wird, werden wir sehen. Am Donnerstag, den 5. Januar 2023 ist es wieder an der Zeit.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Überleben und Überstehen

20 12 2021

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wo ist dies Jahr geblieben? Eben noch saßen wir an einem lauen Frühlingsabend in der Sonne und hofften auf Gutes, und schon schlägt der Nachtfrost wieder mit aller Macht bei denen ein, die ohnehin nicht viel zu bieten haben im Oberstübchen. Wer auch immer da an der Uhr gedreht hatte, er bekam zu viel Schwung. Wir sind irgendwo im Mittelalter gelandet, kurz hinter der letzten Verfinsterung, da das Lob der Torheit auf allen Straßen gesungen wurde als Heilsbotschaft, die das Leben leichter macht für alle, die mit der Wirklichkeit nicht mehr zurechtkommen. Dichter und Philosophen krähen allerlei Possen in die Welt, Gaukler und Kaufleute ziehen dem Volk um die Wette das Geld aus den Taschen, Juristen und Rhetoren sind bei Gauklern in die Lehre gegangen, um sie an Hinterhältigkeit zu übertreffen, wo es ihnen nützt, die Wissenschaft ist ein großer Spaß, den man nicht zur Erkenntnis nutzt, sondern zur Unterhaltung, kurz: Gelehrte und Pöbel verachten einander, da sie sich gegenseitig für bekloppt halten. Allein der Glaube ist noch in seiner Mitte und gibt dem Halt, der sich nicht in seinen Grundfesten erschüttern lässt. Doch was ist noch Glaube? Und wo ist er überhaupt?

Hatten wir es im ersten Jahr der Pandemie vor allem mit den Auswüchsen des fortschreitenden Kapitalismus zu tun, so entwickelt die Katastrophe sich zu einer Brutstätte der Selbstherrlichkeit, wie sie die Narrendichtung nicht trefflicher hätte zeigen können in ihrer apokalyptischen Schärfe, die an die Totentänze gemahnt, ein klappernder Reigen der schon nicht mehr zur menschlichen Gesellschaft gehörenden Figuren, nur eben wissen sie es nicht. Sie halten sich für höchst lebendig, wahrscheinlich auch für gewichtig und bedeutungsvoll im Lauf der Geschichte, aber ihre Zeit ist längst abgelaufen, und früher oder später werden sie es merken.

Wir behandeln dieses Virus wie eine lässliche Verfehlung, die Wissenschaft wie nörgelnde Kinder, und schwer Betroffene, die an den Folgen einer Infektion leiden oder an chronischen Erkrankungen, wie Kollateralschäden, die man mit Statistik von der Bildfläche verschwinden lassen kann. Schon jetzt beklagen wir unermesslich viele Tote, sehen ein ganzes Gesundheitswesen vor die Hunde gehen für ein paar Prozent Rendite, weil uns Politik und Wirtschaft in die Ohren blasen, es sei schon nicht so schlimm. Die anderen würde es viel schlimmer treffen. Wer aber unter den Folgen leidet, wird nicht gehört und mit salbungsvoll verkleisterten Worten mundtot gemacht. Ganze Generationen, Kinder und Greise, die Störfaktor sind für die Alterskohorte der Werktätigen oder Kostenstelle im Sozialhaushalt, werden volkswirtschaftlich nachvollziehbar aus der Rechnung genommen. Das Bombardement kann ruhig weitergehen, irgendwann wächst alles nach.

Unterdessen redet die politische Klasse, die wir alle aus Versehen gewählt haben – nach Absicht sah es in diesem Jahr nicht aus, denn sie haben zu sehr erkennen lassen, dass es ihnen gar nicht um die Verantwortung ging, schon gar nicht um Pflicht oder wenigstens Pflichtgefühl – von einer Spaltung der Gesellschaft, als hätten wir mit dem Wunsch nach Überleben und Überstehen die Krawalle angezettelt, bei denen die Ministranten einmütig nach Strafverschärfungen und härteren Gesetzen greinen, während man die geltenden nicht einmal zur Kenntnis nimmt, geschweige denn anwendet. Der Stern von Bethlehem mag es beleuchten, nach diesem Jahr können wir uns die Errettung sparen: der Erzfeind packt die Waffen aus und geht zum Angriff über. Die Dummheit hat das Regiment übernommen. Eine plärrende Minderheit, Deppen jeglicher Couleur und sittenfernes Geschmeiß tun so, als hätten sie längst die Macht in der Hand, von den offiziell Mächtigen liebdienerisch unterstützt, wie auch die Medien ihnen längst den roten Teppich ausrollen und je einen aufs Podium hieven: einer von Millionen Einsichtigen, einer aus der Handvoll niedriger Drecksäcke, und zwischen ihnen wird die Wahrheit wohl irgendwo liegen. Auch damit wird die Öffentlichkeit getreten und getäuscht, wird die Dummheit über die Vernunft gestellt in der bleichen Hoffnung, das Volk werde wohl dämlich genug sein, den Schwindel nicht zu riechen und weiter sich auf der Seite der Dummen zu versammeln.

Bräuchten wir eine Radikalisierung gegen die Dummheit? Ein Problem ist, dass die Dummheit, die Geißel der Menschheit im Kampf gegen jede Anstrengung der aufklärerischen Gedanken, selbst radikalisiert, indem sie alle die regredieren lässt, die für propagandistisches Getöse, einfache Antworten auf komplexe Fragen und zerstörerisches Handeln zu begeistern sind, das am Ende sie selbst trifft – aber eben nicht nur sie selbst. Ein weiteres Problem ist unsere Vernunft, die uns die Radikalisierung verbietet, die darauf besteht, dass wir Rechtswege einhalten und Verhältnismäßigkeiten, die uns davon abhält, mit zivilem Ungehorsam zu antworten auf die offene Gewalt der Staatsfeinde, wo immer sie vom Staat und seinen Funktionsträgern toleriert oder als legitimer Widerstand gegen Demokratie und Verfassung hingenommen wird. Wir werden, hieß es, die uns eingeredete Spaltung überwinden, wenn wir Geduld haben. Ja, wir – uns verlangt man eins ums andere ab, wir sind in Verzicht geübt und Verstehen, unsere Leben sind gefährdet, aber es geht ja um das Ganze, um die patriotische Idee. Wer weiß, welchen Stellenwert uns dieses Geschwür an oktroyierter Vaterlandsliebe wert ist, der ahnt auch, wie groß unsere Geduld mit dem marginalen Mob ist, der nur noch einen Zündfunken entfernt von der Kaltverformung seine Klappe aufreißt.

Die Einrede, dass man Aufrührern nicht mit Argumenten den Weg zurück in die Gesellschaft ebnen solle, sondern mit Vertrauen, Zuwendung und Verständnis, können die Abwiegler für sich behalten. Wir sollten mit Wutbürgern reden und mit Patrioten, Heimattreuen und Volksschützern, die alle nur das sind: Rechtsextremisten und Mitläufer. Nicht die, die sich seit nunmehr zwei Jahren unter Auferbietung großer Opfer und aller Solidarität für das reine Überleben der Gesellschaft einsetzen, sind die Spalter. Aber es liegt dem politischem Personal offenbar näher, den Staatsfeinden kriecherisch zu folgen, um Wählerstimmen zu fangen, die sie in der demokratischen Mitte scharenweise verlieren für diese hündische Charakterlosigkeit. Wozu noch Dialogbereitschaft, wenn Faschisten seit hundert Jahren immer wieder denselben rassistischen Müll absondern? Wir haben Besseres zu tun.

Allmachtsfantasien und grober Narzissmus sind die Zutaten dieses abwegigen Zwergenaufstands, der noch nicht einmal die Motive ihrer sektiererisch auftretenden Rattenfänger wahrhaben will: sie tun es für Geld, und keiner glaubt ihnen, weil man die Wahrheit gerade dann nicht sehen will, wenn sie sich nicht die Mühe einer Verkleidung gibt. Die Aussichten sind nicht rosig. Sie haben Menschen auf dem Gewissen. Der Riss durch die Gesellschaft wird nicht verschwinden, denn die Geduld der Besonnenen ist erschöpft, weil es keinen Grund mehr gibt für sie, weiterhin Rücksicht zu nehmen auf einen allenfalls pseudomoralischen Widerstand.

Dabei sollen wir Weihnachtliches empfinden, mehr noch: Frieden und Vergebung als Zeichen der Größe. Es fällt schwer, da wir alle wissen, wie es weitergehen wird. Alle Entwicklungen, die bereits jetzt vorhersehbar sind, wird keiner geahnt haben. Vorsichtsmaßnahmen wird keiner für notwendig halten, es sei denn, es ist dafür schon viel zu spät. Dann wird man sie halbherzig beschließen, aber aus Angst vor den besorgten Bürgern gar nicht erst kontrollieren. Man wird Grenzwerte beliebig nach oben verschieben, sie nicht zur Kenntnis nehmen und über die Konsequenzen sehr überrascht sein, weil man nicht damit gerechnet hat, dass eine Sache, die mehrmals unter gleichen Bedingungen abläuft, auch identische Folgen hat. Man wird alle Gefahren leugnen, nicht zuständig sein, Kulturgüter wie Karneval und die deutsche Dauerwurst für viel wichtiger halten als die Gesundheit von Kindern und Kranken. Und man wird sich Geld in die eigenen Taschen stecken, viel Geld. Eher wird die Schwerkraft an Sonn- und Feiertagen aufgehoben, als dass Politiker sich an einer Krise, die sie selbst verursacht haben, nicht auch noch bereichern würden. Nein, weihnachtliche Besinnlichkeit will sich auch in diesem Jahr nicht bei mir einstellen, es bleibt bei der Weigerung, das Leben positiv zu sehen, wenn auch die Wirren des Wahlkampfs, dieser Freakshow auf Niedrigniveau, ab und zu die Aufmerksamkeit darauf lenkten, was Dummheit in anderen Bereichen dieser Zivilisation anzurichten vermochte. Dass man von einigen Protagonisten, die seinerzeit mit jedem täglichen Geweimer in den Schlagzeilen festgenagelt schienen, heute kaum noch ein Lebenszeichen wahrnimmt, ist allerdings nicht ganz verkehrt. Sie hatten ihre Chance, in der satirischen Kolumne des Tages aufzutauchen, ein bisschen Theaterdonner und Getöse zu veranstalten, bevor sie der Steinschlag aus der Wand haute. Sie haben es selten genutzt. Jeder nach seiner Façon.

Aber widmen wir uns nun lieber der Familie, den Freunden und den Menschen, die dies kleine Universum mit Leben füllen. Hatten wir alle im vergangenen Jahr noch gefürchtet, der legendäre Landgasthof vor den Toren unserer Stadt müsse für immer schließen, so können die Freunde der feinen Küche nun aufatmen. Küchenchef Bruno Bückler, in unseren Kreisen stets Fürst Bückler genannt, hat mit seinem Bruder Hansi das Haus gut durch die Krise manövriert, unterstützt von den langjährigen Gästen, vor allem aber von den treuen Mitarbeitern, die alle bei ihm geblieben sind. Mit wachsender Sorge wuchs ihm vor allem mit dem Entremetier Petermann besonders guter Beistand heran, dem er nun vertrauensvoll manche Aufgabe von großer Verantwortung übergibt. Alles ist nun gerüstet für ein neues Jahr, Bruno verbirgt seine Schnurrbartspitzen, die ihm das charakteristische Aussehen eines nervösen Hummers verliehen, unter dem üblichen Mundschutz, Hansi schaut am Entrée routiniert auf die Impfzertifikate, und es ist ein Hort der Gastlichkeit geblieben. In der letzten Ecke des Kellers wurde tatsächlich noch je ein 1995-er Wupperburger Brüllaffe und das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen gefunden, so dass es eine standesgemäße Weihnacht werden kann.

Auch Breschkes werden dieses Jahr an der Feier teilnehmen, sogar ihre Tochter, wonach es noch vor ein paar Tagen gar nicht ausgesehen hatte. War sie aus Vorsicht schon Ende November von einer Westafrika-Tour zurückgekehrt, so klagte sie doch bereits kurz nach der Ankunft am Flughafen über heftige Übelkeit und Magenbeschwerden. Es sollte sich allerdings nicht um eine Infektion handeln, wie die Ärzte feststellten, sondern um die Folgen jener nach Himbromerdbeer schmeckenden Pastillen, die laut Aufschrift zur Vitaminzufuhr gedacht waren, in erster Linie aber bei Hamstern und anderen Nagern, was die Packungsaufschrift auch recht deutlich zu bedenken gab, immer vorausgesetzt, man ist der rumänischen Sprache mächtig, die versehentlich in laotischen Zeichen auf der Rückseite Auskunft über die Dosierung gibt. Nicht einmal Bismarck hatte Interesse an diesen Pillen. Wer würde ihm das auch verdenken.

Auch wenn Anne sonst immer irgendwo in den Bergen verschollen war, sie bleibt dieses Jahr zu Hause und wird erstmals seit langem wieder mit in den Landgasthof kommen. Mehr und mehr wird sie von Erbstreitigkeiten überrannt, was aber für eine Anwältin nicht unangenehm ist; es handelt sich ja nicht um ihre eigene Familie. Was ihre Büroleiterin Luzie Freese betrifft, so zeigt die in letzter Zeit geradezu Löwenbändigerqualitäten, nicht nur m Hinblick auf die Mandantschaft, sondern auch bei Minnichkeit, der inzwischen in einem kleinen Haus in der Südvorstadt mit ihr wohnt, umgeben von alten Möbeln, die Sofia Asgatowna teils dekoriert und teils abstaubt, ein lukratives Geschäftsmodell, das er als Finanzbuchhalter betreut. Leider sind die Opernhäuser momentan alles andere als zugänglich, so müssen die beiden nun mit Leihgaben aus der üppigen Schallplattensammlung von Staatsanwalt a.D. Husenkirchen vorlieb nehmen. Aber da weder Hänsel und Gretel noch Der Nussknacker fehlen, werden sie besinnliche Festtage haben.

Mandy Schwidarski, seinerzeit bekannt als Leiterin der Agentur Trends & Friends, hat sich in den Kopf gesetzt, mit allerhand neuen Projekten im Business Fuß zu fassen, und lag mir bereits mehrmals in den Ohren, da sie nicht wusste, was sie tun sollte. Für jemanden, der mit Marketing und Werbung beschäftig ist, sind das zweifelsohne hervorragende Voraussetzungen. Natürlich wird sie nicht am Familientisch sitzen, sie schuldet allen noch etwas, oftmals auch etwas mehr.

Von unserem guten Doktor Klengel war neulich schon die Rede, auch er wird samt seiner Schwester mit uns feiern. Das Archivieren der Sammlung des Grafen Rummelsdorf schreitet voran, nur hat sich der ehemalige Hausarzt länger schon nicht mehr zum Malen aufraffen können; es sind die Hände, die mit der Zeit schmerzen, ein arthritisches Leiden, das ihn nach und nach zur Fotografie trieb, die nun mehrmals im Monat zu langen Spaziergängen in der Umgebung des Herrenhauses führt, das ja ganz in der Nähe von Bertas kleinem Häuschen liegt. Die verwitwete Lehrerin hat ihrem Bruder ein Zimmer freigeräumt, in dem er seine Ausrüstungen bewahrt, Staffelei und Stativ, Objektive und Farbkasten, und zur Teestunde ist er meist zurück und zeigt die Ergebnisse des Tages. Wir sind sehr gespannt.

Mein Großneffe Kester versteht die Welt nicht mehr, kann sie aber gut erklären. Als Ordinarius für theoretische Physik nähert er sich dem Urknall jetzt von der anderen Seite und sucht Beweise für eine negative Zeit, in der alles vor dem Anfang schon existiert haben muss, und dies nicht unbedingt als Singularität. Wer sich an seine Wohnung erinnert, hat eine ungefähre Vorstellung von dem Chaos, das dort geherrscht haben muss, wobei bewiesen ist, dass wir als Universum den Ausweg aus diesem Zustand geschafft haben. Was sein Dachgeschoss angeht, bin ich mir da nicht ganz so sicher, aber beim Anblick meines Arbeitszimmers sollte ich wohl besser still sein. Nicht viel mehr begreife ich von der Dreiteilung der Winkel, die mein Patenkind Maja anstrebt, nachdem sie ihre Habilitationsschrift über die symmetrischen Gruppen um ein Kapitel über die Möglichkeiten einer geschlossenen Formel zur Nullstellenberechnung bei Polynomen fünften Grades erweitert hat. Die Quadratur des Kreises ist nur noch eine Frage der Zeit. Ich bin mir sicher, ich werde auch davon keine Ahnung haben.

Vor ein paar Tagen noch habe ich mit Siebels, dem bemerkenswert unauffälligen TV-Produzenten, im unbeheizten Studio gestanden, gerade erreichte mich die Nachricht, dass er auch in diesem Winter für einige Wochen kürzer treten wird, denn es gibt keine dreiteiligen Schmalzfetzen in Kent, keine Krankenhausserien unter Plastepalmen zu drehen, er kann keine Kreuzfahrtschiffe mehr sehen und wendet sich bei krachledernem Heimatgedöns mit schwerem Weltekel ab – vage Andeutungen sagen mir, dass er einige abstruse Drehbuchvorschläge auf den Tisch bekommen hat, die er nun zu einer Serie verarbeiten wird. Wer weiß, was daraus wird und ob er überhaupt einen Sender findet, der das auf sein Publikum loslässt. Wenn nicht, werden wir uns spätestens bei einer Talkshow treffen, bei der er die derzeit versagenden Politikdarsteller einstampft.

Und wie immer habe ich eine letzte Konferenz mit dem langjährigen Freund und Kollegen Gernulf Olzheimer abgehalten, der sich als Waffenträger des Verstandes durch das dünkelnde Feuilleton kämpft und auch im kommenden Jahr kein Anzeichen der allgemeinen Dämlichkeit in seinen Kommentaren ohne strafenden Schwertstreich belassen wird. Viele haben ihn schon einen verbitterten, von der ganzen Existenz enttäuschten Nihilisten gescholten, die nie begriffen haben, wie viel Erhabenheit aus seinem Tun spricht. Dieser kleine literarische Salon zählt auf ihn, der stets als Verfechter der Vernunft gegen die Wirrungen der Ideologie denkt. Und solange er schreibt, wird auch weiterhin niemand verletzt.

Was aber angefangen und nicht vollendet, was als halbgares Konvolut in der Schublade gelandet war und nicht seinen Weg fand in die tägliche Spalte der Veröffentlichungen, das soll auch diesmal in einem Feuerchen auf der Fensterbank knisternd aus dem Gedächtnis verschwinden, dass dieses Jahr mit der Arbeit des Archivierens still und behaglich nachschmeckend vergehe, das Sortieren der Beiträge, etwas Statistik, bisweilen eine erneute analytische Beschäftigung mit den Texten, die den einen und die andere beschäftigt haben, und dass das nächste Jahr ein reiner Neubeginn sei, in Erwartung des Künftigen, illusionslos im Grundton, aber durchzogen von der Hoffnung auf Kräfte, die uns unterstützen, wenn wir dieses Welttheater ein wenig unterhaltsamer machen können und, es ist ja immer an der Zeit dazu, auch ein bisschen besser. Am Mittwoch, den 5. Januar 2022 sehen wir weiter, wohin uns diese Reise führt.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Noch nicht aller Tage Abend

21 12 2020

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

alles – alles? – ja, alles ist anders. Die Zeit läuft nicht schneller oder rückwärts, sie löst sich in ihre Bestandteile auf, und mit ihr das, was wir Welt oder Zivilisation nennen. Nicht mehr einzelne Länder, die ganze menschliche Gemeinschaft, so es sie denn je gab, ist unter dem Einfluss eines tödlichen Virus gebannt und gefangen. Alle Anzeichen, dass diese Pandemie eine Art von globalem Intelligenztest darstellt, den die wenigsten bestehen, deuten darauf hin, dass wir längst jedes Maß verloren haben, jede Vernunft, jeden Zusammenhalt. Der Gemeinsinn ist entschwunden, wir finden uns mitten in der Zeit der Zusammengehörigkeit, die von Familienfesten und Treffen im Freundeskreis geprägt ist, in der Kälte der Verwertbarkeit wieder. Rohe Weihnacht.

Das Infektionsgeschehen vergrößert mit hoher Präzision, was in dieser Ordnung schon lange für die genauen Beobachter offenbar war, was längst zutage trat, was aber bis heute geleugnet wird. Die Gesellschaft selbst ist zum Risikopatienten geworden, und das nicht etwa durch unvermeidbare Prozesse wie Altern oder mangelnde Anpassung an die Wirklichkeit, sondern durch zielgerichtete Zerstörung von innen. Ihr Kern ist beschädigt, ihr Immunsystem außer Kraft gesetzt, ihre Resistenz gegenüber zersetzenden Einflüssen hat in einem Maße abgenommen, dass sie wehrlos ihrer eigenen Zerrüttung zusehen muss. Der gnadenbringende Egoismus, der angeblich mit den Krumen vom Tische der Reichen die Bedürftigen füttern soll, ist ein gnadenloser, und die Vermögenden haben es nie geleugnet; man hat nur vermieden, ihnen genau zuzuhören, um nicht selbst von ihrer Verachtung gestraft zu werden, und viele haben die Augen vor der Monstrosität der Niedertracht verschlossen, mit der sie paktieren müssen, wenn sie nicht gegen sie kämpfen. Erst in den Beschränkungen, denen die Menschen nun ausgesetzt sind, entdecken sie ihre Freiheit wieder, aber was heißt das schon?

Der unbedingte Wille zur Freiheit meint eine, die sich nicht um den Nächsten schert; gleichwohl erwartet der Freie, dass sich andere auch dann um ihn kümmern, wenn er sie verhöhnt, erniedrigt oder gleich ganz aus seinem gesellschaftlichen Kontext ausstößt. Das funktioniert kurzfristig durch mangelnde Wertschätzung, die auf dem Gefühl der Überlegenheit dank eines gut gefüllten Bankkontos und wichtiger Positionen an den Schlüsselstellen in Wirtschaft und Politik fußt, und nachhaltig durch den Zwang, immer mehr leisten zu müssen, um den erreichten Standard auch nur halten zu können, falls nicht unvorhergesehene Katastrophen einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Wir wollen es nicht wahrhaben, nicht einmal angesichts der hetzerischen Schlagzeilen der Braunpresse. Das Gesellschaftsmodell, das uns eingetrichtert wird, ist der Konsum, der über Leichen geht. Für alles, was uns billig in den Rachen geworfen wird, billiger, noch billiger, immer billiger, bezahlen wir mit dem Leben, zunächst nicht mit unserem eigenen, aber das kann sich ja jederzeit ändern. Wie kommen Politiker auf den Gedanken, man könne Todesopfer, deren Zahl man noch nicht einmal zu schätzen vermag, da sie sich erst in den kommenden Wochen zeigt, gegen die wirtschaftliche Entwicklung ihrer bevorzugten Branchen aufrechnen? Wie kann uns dieses Pack einreden, ein Schnäppchenprospekt sei attraktiver als die Perspektive, in ein paar Wochen gesund und außerhalb der Intensivstation zu leben?

Es bedarf keines Alarms, der Kapitalismus ist bereits der Katastrophenfall.

Wir haben versagt, und die große Mehrheit wird sich nicht einmal durch eigene Umkehr retten können. Wer nicht verstanden hat, wie die saturierte Elite der sozial Schwachen den ganzen Karren in den Dreck fährt, fröhlich ignorierend, dass sie auch das Leben ihrer eigenen Kinder aufs Spiel setzt, sieht die den Tod ins Auge fassende Menschheit bei ihren letzten Versuchen, die unmittelbare Zukunft durch Vernunft in den Griff zu bekommen – es wird nicht mehr lange dauern, und der Krieg gegen die Ergebnisse der Aufklärung wird mit Sanktionen die kantischen Erkenntnisse strafen, die folgerichtig nur zur Feindschaft gegen den inhumanen Kapitalismus führen können. Und wieder lullen sie uns ein, und wieder versprechen sie uns Freiheit, diesmal unter dem Deckmantel der Eigenverantwortung.

Eigenverantwortung ist nur der Zuckerguss auf der erhofften Abschaffung der Solidarität, die bei unerwünschtem Gebrauch die Apologeten des Nachtwächterstaates auf den Scheiterhaufen bringen könnte. Sie ist das Feigenblatt, mit dem die pseudoliberalen Kotschwätzer gegen jede Vernunft ein Tempolimit als Anschlag auf die Freiheit verdammen und gleichzeitig trotz erdrückender Last der Gegenbeweise ihren Krieg gegen Drogen fortführen, der letztlich nur ein Aufblähen von Waffen- und Sicherheitsindustrie für den Krieg gegen Konsumenten ist. Eigenverantwortung heißt, dass eine Blase übersättigter Versager, die für jede Aufgabe in einer funktionsfähigen Gesellschaft ungeeignet wären, sich ihren Hintern platt sitzen, damit sie den Niedergang der Außenwelt nicht zur Kenntnis nehmen, geschweige denn etwas an ihm ändern müssten. Sie schieben ihre Verpflichtungen den anderen in die Schuhe, doch sie geben damit auch Macht ab und sind nichts anderes als Diener eines Popanz, der ihresgleichen auskaut und von sich speit. Was an den jämmerlichen Dollmännchen würde noch reichen fürs Gottesgnadentum, aus dem sich das schlotternd fortstehlen müsste? Diesen trüben Gestalten also haben wir die sittliche Kraft zugetraut, einen ganzen Staat in einer existenziellen Bedrohung zu übersehen, dass er keinen Schaden nehme? Diese Kippfiguren machen sich mit dem braunen Aushub gemein, wo es ihnen in den Kram passt, beschützen erklärte Verfassungsfeinde und wähnen in jedem demokratischen Protest gegen die Zerstörung des Gemeinwesens als Weltuntergang? Wir haben es weit gebracht und müssen uns nicht wundern, wenn ganze Landstriche im Osten sich in permanentem Widerstand gegen eine elitäre Kaste wähnt, die sich im Auftrag der Partei vom eigenen Abglanz nährt. Wir müssen auch nicht erstaunt sein, wenn Schauermärchenerzähler, die sich in Wahrheit auch nur bereichern wollen, dem Volk wilde Lügen auftischen und überall Glauben finden. Dieses Land denkt nicht. Dieses Land hat nie gedacht. Und jetzt ist es ohnehin bald zu spät.

Die Aussichten sind nicht gut. Auch wenn wir vor einem Jahr noch den Eindruck hatten, dass die Erfolge der Populisten zusehends bröckeln, wir sind heute mehr als je zuvor Zeugen einer politischen Sterbebegleitung der westlichen Demokratien und ihrer Bündnisse. Auch das ist keine Überraschung, denn wir haben uns gegen die überlebenswichtigen Fragen hermetisch abgeschirmt, bis sie ihre Antworten selbst gegeben haben. Wer diese kleine Pandemie für eine Herausforderung der Menschheit hielt, darf sich in ein paar Jahrzehnten mit den Folgen des globalen Klimaumschwungs befassen und feststellen, dass es viele gab, die alles wussten und es doch nicht für möglich gehalten haben, weil es ja nur ein bisschen Natur war. Wir werden die Nachrichten aushalten müssen, wie wir die heutigen Nachrichten aushalten – nicht alle, einige von uns werden bereits den Aggregatzustand gewechselt haben, und vielleicht gibt es auch in diesen Jahren einigermaßen gute Satire.

Als regelmäßige Besucher dieser fast täglichen Kolumnen wird manchen sicher auch aufgefallen sein, wie schwierig es sich bisweilen gestaltete, bei weitgehend monothematischer Nachrichtenlage die Beiträge nicht zu einem ebenso eintönigen Kompott verkommen zu lassen. Ja, es gab hin und wieder in Politik und Gesellschaft Entwicklungen, die nicht vollkommen von der allgegenwärtigen Pandemie an den Rand gedrängt wurden, aber sie waren rar, und wenn sie überhaupt im Inland stattfanden – zu den internationalen Entwicklungen halte ich nach wie vor Distanz aus den bekannten Gründen – so ergab sich irgendwo bestimmt eine Querverbindung zu Corona. Das zu lesen, auch wenn es jeder aus freien Stücken tut, dürfte ermüdend sein; das aber zu schreiben ist eine Zumutung, und ich habe mehr als einmal erst nach gründlichem Durchwühlen der Themen etwas gefunden, was für einen Text taugte. Immerhin hat das automatische Radar funktioniert, das immer dann ausschlägt, wenn irgendein aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bekannter Depp etwas äußert, das selbst für seine Verhältnisse erstaunlich dämlich ist. Das Ding will gepflegt sein, liefert dann aber mit erstaunlicher Zuverlässigkeit. Möglicherweise gab es ab und zu doch unerwartete Glanzlichter. Die menschliche Dummheit, Eitelkeit, Gier, Selbstsucht und Ignoranz als ihre treuen Begleiter bringen genug hervor.

Üblicherweise sollte zum Beschluss des Jahres hier etwas Humorvolles stehen, eine Causerie unter dem Adventskranz, vielleicht noch ein wenig ironisch, aber ohne Schärfe. Im letzten Jahr hatte ich schon darauf verzichtet, Familie und Freunde aufzuzählen, wie sie das Fest verbringen. Bruno, unser Fürst Bückler, hat mit Hansi den legendären Landgasthof längst geschlossen. Es gab hier und da Pläne, die feine Küche in Schachteln zu verpacken und aus der Seitentür zu verkaufen, aber das wäre nicht dasselbe gewesen. Die beiden sind deprimiert. Vor einigen Tagen brachte Hansi mir je eine Flasche vom 1995-er Wupperburger Brüllaffen und dem 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen. So ganz alleine wird dies bestimmt kein Genuss sein. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend.

Breschkes hätten mich gerne eingeladen, wo sie doch bereits seit zwei Wochen in freiwilliger Quarantäne zu Hause sitzen, weil ihre Tochter über die Festtage in Deutschland ist. Das reicht dann an Haushalten, abgesehen von der Anzahl der Gäste, und da man ja inzwischen alles, Tannenbaum und Sauerbraten, an die Haustür geliefert bekommt – vorausgesetzt, man hat mich im Bekanntenkreis – werden sie keinen Mangel leiden. Irgendwann zwischen den Jahren werde ich sie einmal an der Gartenpforte besuchen und wie versprochen eine Runde mit Bismarck gehen, der ansonsten nur in den Garten kommt.

Auch Anne hatte angefragt. Sie hätte vermutlich am zweiten Festtag mit einer großen Kiste vor meiner Tür gestanden und gefragt, wie lange so eine Gans mit Klößen braucht, wenn man alle Zutaten schon parat hat. Immerhin klingelt sie nicht mehr nachts. Ich rechne mit allem, auch wenn die schwierigen Feste vorbei sind, an denen sie eine bis zwei Schachteln Pralinen brauchte, wenn sie gegen halb zwei aus der Berghütte zurückgekehrt war. Ein vernünftig sortierter Weinkeller hat seine Vorzüge, wenn man jemanden wie diese Anwältin kennt, die immerhin mit ihrer Kanzlei in die ersten Kreise aufgestiegen ist und in Luzie eine hervorragende Managerin gefunden hat, die das Büro am Laufen hält. Deren Liaison mit Minnichkeit, früher noch in der Agentur Trends & Friends von Mandy Schwidarski beschäftigt, jetzt aber zum Buchhalter umfunktioniert, läuft bereits ein paar Tage, und sie werden demnächst gemeinsam in ein hübsches Häuschen am Stadtrand ziehen, das die ehemalige Raumpflegerin Sofia Asgatowna für sie entdeckt hat, unter der Voraussetzung, dass sie als Dekorationsexpertin auch fürderhin die Oberhand über die Wohnästhetik der beiden Opernfreunde behalten dürfe. Sie bekommt derzeit nicht gerade viel zu tun, weil die Privathaushalte kaum Besuch empfangen, und so staffiert sie jedes Büro aus, das noch eine freie Ecke hat. Ich werde sicher davon berichten.

Doktor Klengel malt nach wie vor, zwar lassen seine Augen langsam nach, aber das tut dem Eifer des ehemaligen Hausarztes keinen Abbruch. Drei Kleinausstellungen hatte er bereits, eine größere im Herbst fiel bedauerlicherweise aus. Er besucht regelmäßig das Herrenhaus Rummelsdorf und hat im Gesindesaal schon eine weitere Folge der Baumaquarelle gezeigt. Der Graf ist unterdessen kaum noch unterwegs, hat das Reiten aufgegeben und konzentriert sich ganz auf seine Stiche, die er nach seinem Ableben einer Stiftung zu hinterlassen gedenkt. Unser Mediziner im Ruhestand wird noch einiges brauchen, um den Bestand an Landschaften aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert aufzuarbeiten. Es erhält ihn jung, regt ihn zu neuen Motiven an dürfte vielleicht zu einem Buch führen, wenn er denn einmal Zeit fände. Alte Leute haben ja meist keine mehr.

Immerhin ist mein Großneffe Kester seit einem halben Jahr ordentlicher Professor für theoretische Physik und hat die Wellenfunktion der Baryonen noch nicht ganz erklärt. Also mir nicht, und nach dem, was ich verstanden habe, sollte das für einen Nobelpreis reichen, wenn die Akademie genug von der Schleifenquantengravitation kapiert hat, um sie zu prämieren. Mein Patenkind Maja ist in der algebraischen Zahlentheorie, genauer: in der Untersuchung der Kreisteilungskörper bzw. der Körpererweiterungen nach Galois so weit, dass sie zwar sehr genaue Aussagen treffen kann, aber nicht mehr weiß, worüber. Ich bin froh, dass sie nicht so einen fürchterlich langweiligen Beruf ergriffen hat wie ich.

Und dann wäre da natürlich Siebels, die graue Eminenz des deutschen Fernsehens. Üblicherweise jettet er über die Feiertage um die Welt, um im sonnigen Süden mindestens zwei Staffeln einer fürchterlichen Schmonzette sowie einen Film mit Ärzten, Steuerberatern oder Bischöfen abzudrehen, sofern die ganze Chose unter Palmen spielt, im Standby-Modus mit einem Cocktailglas in der Hand zu bewerkstelligen ist und sich hinterher im ebenso komatösen Feiertagsprogramm versendet. Er hat nichts zu tun. Damit er mir nicht mit spontan aus ihm herausbrechenden Ideen für neue Talkformate oder einen Spartensender für Wählerbeschimpfung auf die Nerven geht, habe ich ihm einen Karton mit allerhand mediengeschichtlicher Fachliteratur vor die Tür gestellt. Andere wären bis Ostern damit ausgelastet, er wird in zehn Tagen fertig sein. Damit ließe sich leben.

Zuletzt aber muss ich den Freund und Kollegen Gernulf Olzheimer nennen, der selbstverständlich auch im kommenden Jahr seine Kolumne bei mir mit messerscharfer Diktion füllen wird, stets übel gelaunt, da gegen seinen beleidigten Idealismus kein Kraut wachsen wird, solange er schreibt. Er liefert seine Beiträge mit nicht nachlassender Verve und Bissigkeit ab, manches Mal schweigsam, da er nicht viel an seinen verbalen Eruptionen erklären kann – und dies auch gar nicht muss – und dann wieder in grimmiger Entschlossenheit, es allen gezeigt zu haben. Wenn er keinen Kristallascher in die Finger bekommt, geht auch nichts zu Bruch, und so bleibt er für das tägliche Geschäft der Redaktion in diesem kleinen literarischen Salon offen. Wir alle wissen, was wir an ihm haben.

Und noch eins wird bleiben. Die Schnipsel und Skizzen, die fast zwölf Monate lang Schreibtisch und Schubladen bedeckt, gefüllt, verstopft haben, landen in einem kleinen Feuerchen, das seinen dünnen Rauch in die Winterluft schickt, und dann wird die Arbeit des Archivierens beginnen, das Einsortieren der Beiträge, ein bisschen Statistik, hier und da eine erneute analytische Beschäftigung mit den Texten, die nun fertig vor mir liegen, etwas zu finden, was erhellt und erfreut. Nach altem Brauch nehme ich mir auch in diesem Jahr ein paar Tage Weihnachtspause für diese und andere kleine Aufräumarbeiten, und dann gibt es einen reinen Neubeginn am Dienstag, den 5. Januar 2021. Vieles wird sein wie bisher, und manche Idee spukt im Kopf herum, die ich für eine kleine Veränderung nutzen könnte. Wir werden sehen.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Schatzgräber

19 12 2019

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ja, es ist wieder soweit. Die letzten Tage vor Weihnachten kommen heran, wir schmücken mit Lichtern und Gold das Heim und beschenken mit allerlei Gaben einander, auf dass Frieden sei auf Erden. Ein Engel, der singt’s und flüstert von der Spitze des Baumes, „Frieden“, und gemeinsam mit Zuckerkringeln und Lametta gibt alles in der Tanne ein festliches Ensemble, alles strahlt und wärmt die Herzen. Je nach klimatischer Neigung knackt der Schnee auf den Wegen einer leise wattierten Welt, oder aus grauschwarzen Wolken nieselt es auf eine trübe Landschaft. Hier und da ziehen sich in leiser Genervtheit die ersten zurück und gießen sich auf nüchternen Magen Punsch ein, damit der Schnaps es hinterher leichter hat, die angenehme Stimmung von Gleichgültigkeit zu erzeugen, in der alles, Baum und Engel, Kerzenschein und Krippe, zu einem Brei aus Klang und Farbe sich vermischt, in dem gejauchzet werden darf und auch frohlocket, vom Himmel hoch, und zwar der Einfachheit halber nicht nur denen, die guten Willens sind, weil sonst das Sortieren der anwesenden Personen wieder ewig dauert. Wer will das schon.

Wer diesen kleinen literarischen Salon bisher aufmerksam verfolgt hat, der weiß nun auch, was an diesem Tag kommt: eine letzte, weit ausholende Betrachtung aller vergangenen Dinge voller Milde und nur noch leicht beißendem Spott, vor allem eine getreue Aufzählung, was nun die Familie und die zahlreichen Gefährtinnen und Gefährten so treiben, die einem mehr oder weniger regelmäßig hier über den Weg laufen. Für dieses Jahr aber, da ich doch eine stärkere Erschöpfung verspüre als sonst, werde ich es kurz halten. Und die Familie samt den Freunden heraushalten. Sie feiern alle mehr oder weniger in süßem Jubel das Christfest, manche zu Hause und in trauter Gesellschaft, einer im Süden, eine im Osten, manche müssen arbeiten, anderen macht dies nichts aus, weil sie es sowieso tun würden – lassen wir sie feiern. Wenigstens in diesem Jahr sollen sie einmal unbehelligt sein, es gäbe auch kaum etwas zu berichten, höchstens von meinem alten Kameraden Gernulf Olzheimer, der ja nun bald auf sein großes Jubiläum zuschreibt. Er ist nicht recht entschlossen, was er abliefern soll. Aber es dauert ja auch noch ein paar Wochen, ihm wird sicher etwas einfallen.

Wobei wir beim nächsten Thema sind. Es ist bisweilen nicht einfach, täglich etwa eine Seite voll Text abzuliefern, und es wird beständig schwieriger. Früher habe ich die bewundert, die das Jahr für Jahr taten, heute bemitleide ich sie. natürlich gibt es auch Tage, an denen gäbe es so viel zu schreiben, dass eine Seite nicht ausreichen würde, an manchen wären auch mehrere Beiträge, von denen mancher etwas später schon wieder veraltet erschiene, weil man seinen Anlass der immer schneller wirbelnden Aufmerksamkeitszentrifuge entreißen müsste, die alles von sich schleudert, was nicht irgendwo mit Punkt und Komma in einer Spalte festgenagelt ist. Dazu wird es immer schwerer, noch einen halbwegs passenden Titel zu finden, der nicht seit Jahren besetzt ist. Vielleicht sollte ich dazu übergehen, die Bibliotheken nach brauchbarem Material für die Titel zu durchsuchen und dann erst die passenden Beiträge dazu zu schreiben. Man kann sich ja auch einen Anzug schneidern lassen, wenn man auf der Straße einen hübschen Knopf findet.

Doch was findet man nun auf der Straße? Man sollte es wohl besser auch da liegen lassen. Dass die internationale Politik hin und wieder intellektuell sonderbegabtes Personal nach vorne durchreicht, dürfte sich längst herumgesprochen haben. Dass die erste Reihe inzwischen nur noch aus kompetenzfrei gehaltenen Knalltüten besteht, macht die Arbeit des Satirikers nur dann einfacher, wenn man nicht an der Wirklichkeit zu leiden versteht. In allen anderen Fällen schaut man der Sache zu wie einer Art von Zirkusveranstaltung, die sie ja mittlerweile auch ist. Die Protagonisten führen etwas vor, das keinerlei Vernunft mehr voraussetzt oder erzeugt, es geht nur noch um die Darbietung eines möglichst schrillen Unterhaltungsprogramms. Das Regiment haben ein paar Clowns übernommen, pöbelnde Kraftprotze halten das Publikum in Schach, während sich die Jongleure und Zauberer, deren Gagen den Großteil der Einnahmen verschlingen, gegenseitig die Schau zu stehlen versuchen. Früher hatte es ab und zu noch Kunstreiter von Format gegeben, Seiltänzer oder Artisten in der Kuppel, die von einer Schaukel zur anderen schwangen. Heute würde sich keiner mehr dafür interessieren. Man hört nur noch das Gebrüll der Kraftmenschen.

Was man nun über die Gesellschaft schreiben könnte, in der wir uns nach wie vor befinden, macht gelegentlich Vergnügen, aber nur in beschränkter Hoffnung. Es ist nicht auszuschließen, dass die Deppendichte in der politischen Landschaft der Ausdruck eines gesellschaftlichen Niedergangs ist: wo nicht die klügsten Köpfe in die entscheidenden Positionen gehoben werden, sondern Durchschnitt sich tummelt, muss sich keiner wundern, wenn die Bevölkerung sich von Soziopathen repräsentieren lässt und ihrem kruden Gestammel applaudiert. Der Verstand hockt sicher irgendwo hinter einer Tür, die aus Versehen ins Schloss fiel. Die Politik geht davon aus, dass der Markt das regelt, wie er ja auch Umwelt- und Klimaschäden regeln wird – und das langfristig, allerdings nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Wie vertragen uns einstweilen und nehmen uns lieber die Zeit, eine Verbotskultur anzuprangern, in der wir uns permanent wie geistig zurechnungsfähige Menschen benehmen müssen, was uns übrigens als höchste Zumutung erscheint, wenn es uns von der intellektuellen Elite gesagt wird. Überhaupt ist diese Masse inzwischen derart verroht, dass sie ihre eigene Dummheit für ein Qualitätsmerkmal hält. Das mag als Erklärung eher einfach erscheinen, hält Ockhams Rasiermesser aber zweifelsfrei stand.

Irgendwann einmal, lang ist’s her, stand an dieser Stelle eine Klage über die Dummheit als größte Gefahr für die Zivilisation; inzwischen hat sie sich als die größte Gefahr für die Population herausgestellt. Erasmus hätte die Torheit nicht besser in seiner Zeit auftreten lassen können, denn sie hat seither fleißig auf ihrem Narrenschiff die ganze Welt befahren, alles kolonisiert und mit der immer gleichen Dummheit überzogen. Wissen gilt nicht mehr viel, wir verwechseln heute Information damit oder lassen es als zusammenhanglose Fetzen am Wegesrand zurück, während wir uns klüger schätzen als andere Völker, nur weil wir in einer anderen Kultur leben. Dummheit ebnet uns Wege, die in ein glückliches, abgestumpftes Leben führen. Vielleicht vergessen wir dabei ja, dass es uns früher einmal besser ging, als es noch ausreichend funktionsfähige Infrastruktur gab, soziale Mobilität und demokratische Prozesse. Jetzt haben wir ein Dutzend neuer Serien pro Woche, die wir bequem von zu Hause aus streamen können. Das nennen wir Freiheit, denn die Generationen vor uns kannten diese Art von Bequemlichkeit noch gar nicht.

Als eine Quintessenz dieser Freiheit erkennen wir, dass sie sich nur wirklich frei anfühlt, wenn wir damit das Leben der anderen beschneiden können, ohne es zu bemerken; und wir tun dies auch, ohne überhaupt den anderen zu bemerken, den wir damit einschränken, denn sonst würde uns dies Verhalten wohl über kurz oder lang zum Nachdenken bringen, was nicht unbedingt heißen muss, dass es auch unser Handeln verändert. Aber die Gefahr besteht, und das bedeutet für irgendjemanden weniger Umsatz. Diese Dummheit hat dazu geführt, dass wir die ganze Welt in Brand stecken – und dies ist mittlerweile nicht einmal mehr metaphorisch zu verstehen – für ein bisschen Gewinn, wohl wissend, dass wir unser Erbe niemandem mehr hinterlassen werden. In letzter Konsequenz deuten wir es um zur Freiheit, das bisschen Profit zu verschleudern, bevor wir es einer Generation zu vererben, die uns dafür kritisiert. Wir haben diesen Freiheitsbegriff nicht erfunden, wir haben ihn erlernt, wie man ein religiöses Dogma erlernt, noch eine Art von höherer Dummheit, die unser Denken in der Irrationalität zementiert, die wir durch die Aufklärung mühsam überwunden zu haben glaubten. Inzwischen halten wir sogar diese Irrationalität für einen Wert, der uns vor der Aufklärung schützt, weil uns die Pflicht zum Denken wie eine biblische Strafe vorkommt. In der Floskel vom christlichen Abendland, einem der schrägsten Sprachbilder, die uns das braunblau geprügelte gesunde Volksempfinden auftischt, zeigt sich die rabiate Abgrenzung gegenüber der Zukunft, die schon mit einer Gegenwart Probleme hat und sie gegen eine Vergangenheit austauschen will, die es faktisch nie gab. Aber was reden wir von Fakten.

Die Außenwelt wird gewaltsamer, und abgesehen von den immer häufiger auftretenden Kriegshandlungen – ein Anschlag auf eine Synagoge oder ein Flüchtlingswohnheim ist eine Kriegshandlung, was sonst? – sind es die täglichen Angriffe, die die freie Gesellschaft von ihrem faschistischen Dreckrand auszuhalten hat. Noch kann sich die Mehrheitsgesellschaft in sich selbst verstecken und wird verschont, sie muss sich nicht einmal empören, sie wird es danach nicht bemerkt haben, was um sie herum geschehen ist. Es war beim letzten Mal, es war immer schon so. Sie werden mindestens zu fünf Vierteln immer schon im Widerstand gewesen sein. Bis sie dann hinter vorgehaltener Hand sagen werden, sie hatten es ja eigentlich verdient, denn umsonst hasst man sie ja wohl nicht. Falls es ein Hinterher diesmal noch gibt, denn die Menschheit bringt sich gerade höchst elegant um die Ecke, und da sind wir dann bei der letzten Frage angekommen: warum eigentlich?

Für wen schreibt man als Satiriker, wenn nicht für eine Nachwelt, die mit aufgerissenen Augen die scharfsichtigen Kommentare einzuordnen versucht, die Geschichte nachzeichnen und vorwegnehmen? Es ist nicht einmal sicher, dass dieses literarische Konvolut irgendwann noch Leser haben wird – gut, irgendwann wird sich die Temperatur der Sonne erheblich verändern, dann ist es Essig mit Leben auf der Erde, aber bis dahin sollte es schon ein wenig Interesse für Prosatexte und Gebrauchslyrik geben. Andererseits ist der Nachruhm nicht eben leicht abzuschätzen, die Resonanz zu Lebzeiten dagegen recht verlässlich, zumal mit den heutigen technischen Möglichkeiten. Es bleibt nur irdischer Ruhm, den man leicht aus der Notwendigkeit des Sachzwangs zu ziehen bereit sein sollte. Mit jedem Beitrag, über den sich ein Feind von Freiheit und Demokratie ärgert – dass es darunter kaum Dumme geben dürfte, muss man dann wohl ausblenden – ist wieder Sinn geschaffen, und dass mit engagierter Literatur sogar Nobelpreise zu gewinnen sind, ist auch schon bewiesen.

Dass ich diese kathartische Erkenntnis dem guten Freund Gernulf Olzheimer verdanke, der mir oft die härtesten Brocken auf den Tisch schleudert, misanthropische Monolithe, aus denen ich eine freitägliche Erbauung lesen darf, das ist nach den langen Jahren eine dialektische Wirkung auf mich, der ihn einst für diese Kolumne gewonnen und ihn vor dem übrigen Spaltenfüllergewerbe gerettet hat, bevor er als ständig betrunkener Zeilenschinder in einer Primatenpostille Briefe an die Wutbürger hervorwürgt. So etwas hat er mir nun empfohlen, Goethes Schatzgräber gleich, und ich bin geneigt, es als einen vernünftigen Zwang zu sehen, mit dem sich die Eitelkeit des Schreibers zugleich befriedigen ließe.

Selbstverständlich werden auch diesem Jahr die Traditionen gepflegt. Am Festtag wird die Familie sich spät im Landgasthof versammeln und an der Tafel gespannt darauf warten, was sich Bruno, der Fürst Bückler, hat einfallen lassen, während Hansi, nachdem er die anderen Gäste mit Bedauern die jüngeren Weine empfohlen hat, noch ein paar Flaschen 1995-er Wupperburger Brüllaffe sowie das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen aus einer Nische ganz hinten im Kellergewölbe holt. Es wird in diesem Jahr vierhändigen Beethoven geben, mein Neffe wird mir etwas über Schleifenquanten erzählen (oder Quantenschleifen?), und ich werde nicken, ohne etwas zu verstehen. Dann wird es dunkel werden, ich werde wie immer den großen Kristallascher mit den Schnipseln befüllen, die sich auf, unter und neben dem Schreibtisch sowie in all seinen Schubladen befinden, und das ganze Zeug anzünden. Ich werde die Arbeit eines Jahrgangs noch einmal ordnen, ins Archiv einsortieren, die üblichen Statistiken dieses Jahres mit den anderen üblichen Statistiken der anderen Jahre vergleichen und wenig finden, was mich daran erfreut, weil es erhellend wäre – es bleibt ein Glücksspiel, wer etwas liest, und dazu ist es ja auch da. Wie in den letzten Jahren nehme ich mir nun einige Tage Weihnachtspause. Am Donnerstag, den 2. Januar 2020, geht es dann weiter. Wie bisher.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Dreimal werden wir noch wach…

21 12 2018

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die Kerzen funkeln, das liegt unter Umständen auch an der falschen Brille, denn auch ich werde älter. Wir, und damit meine ich in einem ganz und gar unmajestätischen Anflug von Plural mal uns alle, verbringen schon das zehnte Weihnachtsfest miteinander in diesem kleinen literarischen Salon.

Bums. Das saß. Zehn Jahre. Wäre ich ein vernünftiger Schnaps, ich würde so ganz langsam für die echten Kenner interessant. Als Wein hätte man zwischendurch schon mal reingeschmeckt, wahrscheinlich vor lauter Essiggeruch die Augen verdreht und mich als Geschenk für ausgewählte Feinde weiter im Staub der Gewölbe vor mich hin versauern lassen. Als Maler hätte sich der eine oder andere ein interessantes Gelegenheitswerk günstig eingelagert, um aufs Geratewohl zu sehen, ob der Knabe mit der Zeit nachlässt, irgendwann ganz groß wird, mit Getöse explodiert oder irgendwann schlicht verlischt vor dem Hintergrundrauschen. Allein ich kann mit allem nicht dienen, ich schreibe vor mich hin. Das macht die Sache nicht besser, aber einer muss es ja tun.

Alle haben wir uns verändert in diesen Jahren. Damals hatten wir noch eine Bundeskanzlerin, die in einer halbwegs glücklosen bis bewegungsarmen Koalition mit dem Rest der Sozialdemokraten, eine Insel mit eigenem Staat möchte unbedingt in die EU, warum auch immer, bei Luftangriffen in Afghanistan stellen sich die Angreifer versehentlich als Bundeswehr heraus, und ein Ministerbübchen mit von und zu war plötzlich auf und davon, weil es sich an seine eigenen Informationen nicht mehr erinnern konnte. Immerhin haben wir in Mehl und Reis entschädigt, es weckt wohl Begehrlichkeiten, wenn man zehn Sack Zement und zehn Streifen Wellblech liefert.

Alles ist beschwerlicher geworden in diesen Jahren. Man geht kaum noch auf die Straße oder schlägt im Anflug von Nostalgie eine Zeitung auf, ohne in braunen Dreck zu treten. Auf gewisse Art sichert das dem Satiriker natürlich sein Auskommen und versorgt ihn täglich mit frischen Ideen, denn über so viel Dummheit nichts zu äußern ist eine Kunst, die sich nicht beherrschen lässt. Ich gebe mehr und mehr nur noch dem Druck nach, und wenn es den Finger am Abzug trifft, dann ist es halt nicht zu ändern, wenn sich etwas im Weg befindet. Es wird freilich manchmal ein bisschen fade, immer ins Schwarze zu treffen, aber vielleicht liest es der eine oder die andere ja auch zum ersten Mal, so hat alles wieder einen Sinn. Und das ist ja schon etwas.

Die meisten lassen mich auch in diesem Jahr in Ruhe, ich werde dem jahresendlichen Ritual des Buchhaltens ganz ungestört nachkommen und die vielen unausgearbeiteten Schnipsel aus der Tiefe der Schreibtischschublade in den Kristallascher legen, ein Streichholz entzünden und bei weit geöffnetem Fenster dem Autodafé zusehen, wie die unausgesprochenen Gedanken ohne Wiederkehr in Rauch aufgehen, frei nach dem Bonmot, dass sich die Qualität eines Künstlers stets an dem bemesse, was er verwerfe. Ich bin da großzügig.

Hildegard, der geneigte Leser und die interessierte Betrachterin werden sie vielleicht von früher noch kennen, hat sich vollkommen von mir entfernt, sie hat mich nur noch sporadisch zu Verlöbnissen eingeladen, die dann allesamt nicht mehr stattfanden. Ein paar Ansichtskarten aus dem sonnigen Süden lang schmeichelte sie mir, bevor sie mir mitteilte, sie bliebe nun ganz und gar in ihrem humanistischen Gymnasium, man habe ihr nämlich die Leitung dieser Anstalt angetragen. Sollte sich das ereignen, ich werde aus brennender Sorge um den Nachwuchs schnellstens publik machen, um welche Schule es sich handelt. Wenigstens hat sie mehrere Bände der Literaturgeschichte, die sie sich aus meinem Arbeitszimmer dauerentliehen hatte, bei sich aufgestellt; wenigstens sind die Originale nicht mehr da und durch eine Dünndruckausgabe ersetzt. Habent sua fata libelli.

Anne ist inzwischen derart in ihrer Rolle als Anwältin mit eigener Kanzlei aufgegangen, dass sie mit einiger Brummigkeit die Klischees ihres Berufs an sich selbst zur Kenntnis nimmt. Noch immer ist ihr Staatsanwalt Husenkirchen gewogen und versorgt sie mit Mandanten, vornehmlich passiert dieses jedoch durch den exzellenten Ruf, der ihr vorauseilt, nein: radelt, muss man sagen. Ein Fall hatte im vergangenen Jahr enorme Aufmerksamkeit erregt, ich hatte vermutlich nur vergessen, davon zu berichten, denn dies war für Tage und Wochen der einzige Gesprächsstoff, wenigstens für interessierte Kreise. Wie jeden Morgen wanderte der H., seines Zeichens pensionierter Oberzolldirektorenassistent – wir müssen den Fall aus gewissen Gründen ein bisschen anonymisieren – mit seiner Brötchentüte den gelb geziegelten Weg quer durch das Stückchen Gehölz an der Ecke Rückertstraße zur Platanenallee und versah sich keines Angriffs, als er plötzlich von einem Radfahrer touchiert das Gleichgewicht verlor und stürzte. Dabei zog er sich eine Verletzung am Unterarm zu, seine Brille ging zu Bruch und sein beiges Jackett wurde erheblich verschmutzt. Der Fahrer hielt an, nicht jedoch, um Hilfe zu leisten, er schimpfte den H. noch und griff ihn an, was er denn auf einem Radweg zu spazieren habe. Genau wurde die Sache nicht erforscht, das Gericht musste in Erwägung ziehen, dass sich der junge Mann aus Versehen mehrmals gegen die Knie getreten habe, es gab nämlich keine andere Erklärung und Zeugen schon gleich gar nicht. Wie nun der Staatsanwalt, ein jugendlicher Heißsporn und voller Überzeugung in die eigenen Fähigkeiten, den H. anraunzte, er sei an dem Unfall selbst schuld und brauche offenbar mehr als eine Sehhilfe, um auf dem rechten Weg zu bleiben, zog Anne die Schlinge zu. Ja, er leugne keinesfalls, dem durchaus schmalen Pfad gefolgt zu sein, denn er habe dies gedurft, vor- wie nachher: im Gegensatz zur dürftig recherchierten Ansicht des Anklägers, der dies für einen Radweg gehalten hatte, handelte es sich bis einen Tag vor dem Unfall um einen kombinierten Rad- und Fußweg – es war das gute Recht des H., hier mit den Brötchen heimwärts zu schlendern – und just ab dem Morgen, an dem nämlich bereits das korrekte Verkehrsschild an beiden Seiten des Weges aufgestellt worden war, war dies auf Entschluss der zuständigen Behörde nur noch ein Fußweg. Weder den Polizisten, die den Fall aufgenommen hatten, noch dem Staatsanwalt war dieser Umstand je ins Bewusstsein gedrungen, vom Gericht einmal ganz abgesehen. Mit schwerem Sarkasmus las Anne den versammelten Delinquenten in Robe und Uniform den Rapport des Fachbereichs Straßenbau unserer hochweisen Stadtverwaltung vor, mit dem Ergebnis, dass der H. einen Freispruch erster Klasse erhielt.

Während also die Kanzlei sich inzwischen eines untadeligen Rufs erfreut, haben sich auf durchaus verschlungenen Pfaden hier zwei Seelen gefunden, wie sie unterschiedlicher wohl nicht sein könnten. Vor Jahresfrist noch war Minnichkeit, der mit seiner Steuererklärung Schwierigkeiten gehabt hatte, von Luzie aus dem Büro geworfen worden. Die Sache ging mit einer überraschend geringen Zahlung über die Bühne, und also stand der nicht ganz so begabte Aktenverwalter eines Tages gescheitelt und mit einem Blumenstrauß im Anschlag wieder unter der Tür. Luzie, die kleine lockige Dame am Tresen, hatte bedauert, die Chefin wäre gerade bei Gericht und das Warten würde sich nicht lohnen, doch da hatte er sich ein Herz gefasst: schwer schluckend überreichte er der Bürovorsteherin das Bukett und lud sie nach Dienstschluss in die Konditorei ein. Luzie sagte zu, und binnen eines halben Jahres ist es inzwischen so weit gediehen, dass die beiden regelmäßig die Oper besuchen – für Luzie Freese ein Traum, denn vor Minnichkeit hat tatsächlich noch niemand sich für sie und Verdi in einen Anzug geworfen. Er wird sie demnächst mit einer Reise überraschen, Maxim, der Travel-Experte, you know, hat da was klargemacht, Verona, Fünf-Sterne-Suite mit Teilnahme an allen drei Hauptproben für den Maskenball. Es gibt noch Schönes auf dieser Welt.

Was übrigens auch für Sofia Asgatowna gilt, die sich ja seinerzeit von der Raumpflegerin zur Dekorationsspezialistin gemausert hat – laut Luzie hat sie früher unpassende Materie entfernt, jetzt bringt sie sie sogar mit – und nun mit Hilfe eines Kleinkredits eine kleine Firma ihr Eigen nennt. Sie berät nun große Unternehmen, wie man Büros und öffentliche Bereiche mit ein paar Kleinigkeiten wohnlich macht, und das ganz ohne Katalogware, die noch jedem Eiscafé die Heimeligkeit einer Zahnarztpraxis verleiht. Sie hat durchaus Talent, durch ihre unverbrüchlichen Kontakte zu einigen der bekannten Häusern ergibt sich auch immer mal wieder die Gelegenheit, Familienfeiern zu gestalten. Jüngst hatte sie einen Auftrag, den sie so schnell nicht vergessen wird, und das lag sicher auch daran, dass der Auftraggeber ich selbst war.

Sie hat ihren Hundertsten erreicht, ist dank ihrer störrischen Art geistig bewundernswert zuwege und hat noch immer ein lückenloses Gedächtnis, mit dem sie seitenlange Abhandlungen über Homer zu zitieren weiß oder gleich die komplette Odyssee. Tante Elsbeth leistet sich den Luxus, schwer zu hören – sie schiebt es inzwischen auf das Gerät, das sie einfach ausschaltet, wenn sie keine Lust mehr hat, sich mit den verknöcherten Alten beim Tanztee zu unterhalten, und wenn sie ein bisschen lauter wird, dann nur, weil sie es kann. Angesichts der Festgesellschaft war sie von einer geradezu jovialen Heiterkeit (was man bei einer Altphilologin, auf die Griechen abonniert und durchaus nicht männlich aber nicht so nennen dürfte, sie ist da sehr genau, wie man es von einer Schulleiterin erwarten kann) und wusste unser Überraschungsgeschenk sehr zu schätzen: Schubert, vierhändig. Maja hat bestimmt ein halbes Jahr lang heimlich geübt, um hinterher sagen zu können, sie habe zum Üben gar keine Zeit gehabt, ansonsten aber wollte Tante Elsbeth alles gleich noch mal hören. Es war ein großartiges Fest.

Später aber, da sie sich auf den Flügel stützte und Kester ihr den Sessel näher schob, bemerkte sie im Saal, dass jemand eine Zeitung dort hatte liegen lassen, vielmehr: das Zeug war schon bedruckt und wies sich als Fachblättchen für soziale Exklusion aus, weinerliches Gefasel von der verfolgenden Unschuld, die für den unteren Dreckrand dieser Gesellschaft täglich neu mit Lügen und Vorurteilen beschmiert wird, damit etwas hängen bleibt bei den Dümmsten. Die Tante nahm das Ding, besah es mit zunehmendem Ekel und warf es dann angewidert unter das Instrument. „Diese Scheiße“, knarrte sie mit ihrer rauen Stimme, „kommt denn das alles wieder? Einmal im Leben reicht doch wohl!“

Doktor Klengel hat seine eigene Ausstellung bekommen. Saß er an Tante Elsbeths Ehrentag noch ganz bescheiden in der Gesellschaft, so stand er schon eine Woche später schräg gegenüber in der Galerie von Hüthenraath und Wippermann den Kunstfreunden Rede und Antwort. An die hundert Aquarelle, Seestücke, Landschaften und die Perlen unserer regionalen Baukunst, hingen an den Wänden, eine Kunstkritikerin hatte sich eigens aus der Hauptstadt bemüht und beschloss nach einigen Nachfragen, was das denn alles sei und warum man heutzutage noch so gegenständlich malen müsse, die Bilder sehr hübsch zu finden. Der Allgemeinarzt verkaufte sogar eine dreiteilige Serie mit Ansichten der alten Blüchereiche aus dem Schlossforst an eine Steuerberaterin. Erwähnenswert ist, dass er zugleich den Auftrag erhielt, das Anwesen des Grafen von Rummelsdorf in allen erdenklichen Perspektiven abzubilden. Er wird sich im Frühjahr für ein paar Wochen dort einquartieren, Skizzen anfertigen und eine größere Anzahl an Aquarellen hinterlassen, die dann im Gesindesaal des Herrenhauses – eigentlich ein recht schmuckloser Raum im Souterrain, gleich neben der ehemaligen Küche gelegen, inzwischen aber durch einen lichtgrauen Anstrich und dezente Beleuchtung eine ganz ansehnliche Location – eine weitere Ausstellung bekommen sollen. Sage noch einer, die schönen Künste bekämen nicht genügend Aufmerksamkeit.

Mir fehlt die auch, ich fürchte, das Gespräch mit Kester war für uns beide kein Vergnügen. Er ist bei der Schleifenquantengravitation angelangt, das ist ja bekanntlich diese Raum-Zeit-Sache, bei der der Raum nur noch Zeit ist, oder irgendwie so – ich war nie gut in Chemie, aber ich habe wahrscheinlich auch noch an den falschen Stellen mit dem Kopf genickt, oder irgendwer muss mich verraten haben. Tröstlich, dass sein Doktorvater ihm nicht mehr folgen kann, was die Leserschaft für seine fast fertige Habilitationsschrift halbiert. So ähnlich ging es mir seinerzeit mit einer Seminararbeit über das Ding an sich. Und ich hatte auch nicht vor, berühmt zu werden.

Die Waschmaschine funktioniert auch wieder, und alles wird gut. Es ist bzw. war Sigunes Gerät, die Drehtrommel aus dem spirituell wirtschaftenden Haushalt unter mir. Ich tippe auf falsch angerührtes Informationswasser, womöglich auch nicht in der korrekten Richtung und bei Neumond gerührt, und die Heilsteine auf dem Bottichboden waren sicher nicht an den Erdstrahlen ausgerichtet. Vor Jahren schon hatte es eine kräftige Rauchentwicklung in der Küche unserer Lichtnahrungsjüngerin gegeben, die sich nicht auf Sandelholz und Sonnenkraft hatte zurückführen lassen, es war eine nicht ausreichend erleuchtete Sicherung über die Regenbogenbrücke gegangen und hatte einen rituellen Schwelbrand in der Wohnung zurückgelassen. Das Mauerwerk war innerhalb weniger Wochen getrocknet, nur ihre Globuli in der Klangschale auf dem Küchenaltar hatte es zu stark potenziert. Die Antwort hat sich mir noch nicht erschlossen, ich bedarf noch einiger Jahre Meditation.

Ansonsten neige ich zu anderen Flüssigkeiten, und wer dieses kleine Universum kennt, wird auch hier richtig vermuten, es stecken die beiden Brüder dahinter. Nachdem Hansi im Sommer eine Wette gewonnen hatte, etwas mit viel Wasser, einem Fass und einem verdammt kalten See in Dänemark, bekam er nun pünktlich seinen Preis geliefert: eine zwölf Meter hohe Nordmann-Tanne im monströsen Holzgefäß, per Tieflader aus Nørresundby in den Hof des Landgasthofs gebracht, prächtig von den skandinavischen Feriengastgebern geschmückt und illuminiert, eine reine Augenweide. Bruno, der ältere der beiden, den man schon aus Respekt den Fürsten Bückler nennt, wie er mit zitternden Schnurrbartspitzen in der Küche steht und gewaltige Gänsekeulen in Aspik einlegt, Schwarzsauer kocht und Aalsuppe, macht auch in diesem Jahr Hoffnung, dass den Tiefen des Kellers ein 1995-er Wupperburger Brüllaffe und natürlich das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen entsteigen. Petermann hat sich vom Entremetier inzwischen fast zum Chef gemausert, erledigt den Einkauf und springt, mit leisem Bedauern, für den Kopf des Hauses ein. Immerhin, unseren Weihnachtstag werden wir in seinem Haus verbringen. Ein paar Konstanten muss es geben, und da sich hier selten und seltener Gäste an den Tisch der beiden Bücklers verirrt, werden es auch keine unangenehmen Stunden sein.

Neu ist, dass ein Gast uns dieses Jahr begleitet, der alte Herr geht neuerdings am Stock, es ist nur eine kleine Angelegenheit mit der Hüfte, aber das war Grund genug, diesmal nicht wie sonst immer am zweiten Festtag auszugehen. Herr Breschke samt Gattin werden an unserer Tafel sitzen, mit etwas Glück auch Hildegard, was keiner von uns für möglich gehalten hätte, am wenigsten sie selbst, aber wir wollen den Ereignissen nicht vorgreifen.

Der pensionierte Finanzbeamte war auf der Kellertreppe gestolpert und gegen den Handlauf geprallt, als er dem Dackel ausweichen wollte, der vermeintlich mit der Leine zwischen seinen Beinen lief. Dabei hatte sich Bismarck, selbst ein älteres Semester und zu den ruhigen Dingen hingezogen wie Gabelsteins Gartenzwergen oder den Tulpen auf der gegenüberliegenden Zaunseite, in sanfter Ruhe auf dem Fernsehsessel zusammengerollt, als ein jäher Schmerzenslaut aus dem Flur erscholl. Frau Breschke hatte ihn sogleich in die Klinik gefahren, wo man ihn für grundsätzlich überlebend einstufte und ihm einen Tag Bettruhe mit einem Schmerzmedikament verordnete. Seitdem neigt Horst Breschke ein bisschen zum Humpeln, der Hausdackel zu einer leicht ironischen Distanz, als würde er sich nicht mehr in die Nähe von seines Herrn und Meisters Füßen trauen, und nur auf dem Fernsehsessel ist noch traute Eintracht, wenngleich abwechselnd. Es kann ja nur einer während der Sportschau darauf einschlafen.

Womit wir, schließlich und endlich, beim Fernsehen wären. Siebels, die die graue Eminenz der deutschen TV-Unterhaltung, hat diesmal den Vogel abgeschossen. Die Kombination aus Arzt- und Urlaubs- und Romantikkitschserie in einem Arbeitsgang ist für ihn ja nichts Neues mehr, aber dass er für Die Heldenretter im Palmenparadies auch noch Action und Krimi in die krude Mixtur pfropft, fünf neue Darsteller quasi zum Nulltarif anheuert – wer bekannt werden will, muss seine Visage eben für jeden Mist in die Kamera halten, und sei es als Schwester Sabrina, Doktor Kevin Klöbenschmied oder was die geistig dünn angerührten Drehbücher dieser Produktionen halt hergeben – und dann den Kram auch noch in sein bereits vorab ausgesuchtes Urlaubsziel lotst, das nötigt selbst mir einen gewissen Respekt ab. Irgendwann bringe ich es übers Herz und verrate ihm, dass ich noch nie einen seiner Gerümpeloiden im Vorabendprogramm gesehen habe, nicht einmal die Kardiologen der Karibik mit Jens Dröllerbeck, heute ein begnadeter Schauspieler auf allen Kanälen, nur dass keiner mehr weiß, dass er eigentlich Jens Dröllerbeck heißt.

Nur einer kam wieder unangemeldet, blieb nichts schuldig und hat auch nicht viel gesagt. Er hakte noch einmal die Stapel mit den Beschwerden über seine Beiträge ab, knurrte anerkennende Worte über die pünktliche Erscheinungsweise der Texte, kam dann langsam in Fahrt und hämmerte dann wie besessen mit den Fäusten auf dem Schreibtisch, dass er diese und jene Figur nicht legal mit dem Gesichtsschädel schwungvoll in eine Tischecke dreschen dürfe. Gernulf Olzheimer ging davon aus, dass sein Vertrag noch einmal weiterläuft, und ich habe nichts daran gerührt. Bisweilen wird er laut, manchmal schießt er wohl übers Ziel hinaus, aber was täte ich ohne ihn? Dieser schmale, blau rasierte Mann, dem der Zorn ins Gesicht geschrieben steht, wird keinen Stein auf dem anderen lassen, wie auch immer. Er hat noch viel zu tun.

Aber das sehen wir nicht heute. Wird es weiter in eine Richtung gehen? Ja, und wir wissen nicht, in welche. Zunächst einmal werde ich die Türen hinter mir verschließen, die Arbeiten dieses Jahres ins Archiv überführen, ein paar Statistiken auswerten, hier und da analysieren, was wann geschehen und warum so passiert ist, schließlich aber werde ich auch dieses Jahr ruhen lassen und mir mit neuen Inspirationen neue Kapitel erschließen – schon in den ersten Tagen werden wir eben merken, dass man Zukunft nicht beschreiben kann. Es wird alles anders sein. Wie in den letzten Jahren nehme ich einige Tage Weihnachtspause, und am Donnerstag, den 3. Januar 2019, geht es dann weiter. Wie bisher.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Süßer die Glocken…

20 12 2017

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

möglicherweise bin ich ein bisschen aus der Zeit gefallen, aber sah es in jedem Jahr so aus in meiner Behausung? Auf der Anrichte: Zimtsterne, auf dem Schreibtisch: Mandeln in Zartbitterschokolade, auf dem Teewagen: Spekulatius, auf dem Stutzflügel: Scarlatti, Händel, etwas Bach sowie Stollenkonfekt. Wohlverwahrt in der Küche lagern in Blechdosen Spritzgebäck und Mürbchen mit Zitrone, daneben Dominosteine und Lebkuchen. Ächzend schiebe ich mir eine Nuss im Nougatmantel in den Mund, nippe am Tee und bedenke, dass ja noch ein halbes Früchtebrot auf dem Tischchen liegt. Sie haben sich verabredet, ach was: verschworen haben sie sich, dass es wie ein Unfall aussieht. Am Zuckerschock werde ich das Zeitliche segnen. Sie haben in einem konzertierten Anfall die Süßigkeiten eines ganzen Landstrichs vor meiner Tür abgeladen, und das mit der denkbar unglaublichsten Ausrede. Sie machen eine Diät. Alle. Jetzt. Jetzt!?

Vermutlich haben sie alle simultan schecht geträumt, eine Personenwaage von oben gesehen oder eine Apothekenzeitschrift in die Finger bekommen. Normal ist das nicht. Wer würde sich so kurz vor dem Fest der Feste selbstverantwortlich kasteien? Ist doch schon der Advent als Fastenzeit aus der Mode gekommen, als reine Fressübung mit anschließendem Kampf gegen die Kalorien. Alles turnt und büßt und hungert, die guten Vorsätze im Hinterkopf, vor der Nase aber die erklecklichen Reste der vergangenen Weihnacht. Dickens, und der Name hat damit rein gar nichts zu tun, schickt sein Geister mit gemästeten Truthähnen, stattlichen Gänseleberpasteten und Bauernenten durch die Luft – das liegt schwer im Magen, weshalb die Träume in der Heiligen Nacht manchmal etwas abstrakt scheinen. Dazu also haben sie sich verabredet. Ich kaue unter Protest Aachener Printen.

Hildegard hat natürlich nichts damit zu tun. Sie isst ohnehin nichts mehr von dem, was ich ihr vorsetze, hat seit ihrem letzten Auszug deutlich an Masse abgenommen, was daran liegt, dass sie auch das, was sie selbst zubereitet, nicht mehr essen mag, und wird seitdem störrisch als flüchtiger Tischgast bei diesen und auch jenen Verwandten gesichtet, bei Tante Elsbeth zum Beispiel (unten mehr), als nörgelnder Tischgast, der sich nicht um den Appetit der anderen schert, solange er ihn nach Kräften verderben kann. Sie gönnt sich ja sonst nichts.

Sie also hatte angefangen, bereits im Herbst nach ihrer raschen Versetzung ins humanistische Gymnasium, und böse Zungen – in Madeira sollen die angeblich ganz passabel sein, aber wer rudert schon eigens nach Portugal dafür – wollten wissen, sie äße aus Prinzip nichts mehr, um stets eine standesgemäß schlechte Laune an den Tag legen zu können. Zuzutrauen wäre es ihr. Da wir uns nun seltener sehen – sie ruft nur noch einmal in der Woche an und teilt mir mit, dass sie das eine oder andere Buch, eine Handtasche, ein Tuch, noch eine Handtasche und jede Menge anderes Zeug unter meinem Sofa habe liegen lassen – ist das schwer zu kontrollieren. Was soll ich sagen: ich habe mich an den Gedanken gewöhnt. Man kriegt es mit Konfekt in den Griff. Mit viel Konfekt.

À propos Konfekt. Anne hat mir eine virtuelle Abfuhr erteilt und die festübliche Menge belgischer Schokolade bereits vor dem Überreichen in aller Form abgelehnt. So sitze ich denn auf einem Kilo Meeresfrüchten, die sie möglicherweise nach einer angemessenen Frist gemäß §635 BGB als die ihr zustehende Nacherfüllung wieder in Anspruch nehmen, wenngleich der Paragraf die Weigerung offenlässt, wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten möglich ist. Sie wird sich nicht auf einen Herausgabeanspruch gemäß §985 berufen können, solange die Süßigkeiten noch in meinem Eigentum sind. Ich weiß, wer da auszuschließen wäre. Luzie, die seit eh und je die Kekse über den Tresen der Kanzlei schiebt, hätte sofort etwas gesagt, ist aber aus anderen Gründen am Essen gehindert; sie hat allerhand Ernährungsgewohnheiten ausprobiert, vegan und Steinzeit und frugivor und schließlich eine Melonendiät – man darf alles essen, nur keine Melonen – und stellt immer noch keinen Unterschied fest. Staatsanwalt a.D. Husenkirchen kann es nicht sein, der alte Herr schaut nur noch selten in die Kanzlei und zweifelt an dem, was er sieht. Anne vollführt zwischen zwei Mandanten Kopfstand und den heulenden Sonnenhund, oder wie jene Übung heißt, bei der man sich die Bandscheiben einzelb auskugelt.

Neulich hat Sofia Asgatowna, die ehemalige Raumpflegerin, bei überraschend zuckerlosem Tee verraten, dass es wegen der kleinen Tütchen und des obligaten Gebäcks zum Kaffee einen kleinen Aufstand gegeben hatte. Minnichkeit, genau der, hatte wegen einer Steuersache ihres Rates bedurft; statt sich aber vor einer empfindlichen Buße zu fürchten, schimpfte er die halbe Kanzlei zusammen, dergestalt, dass Luzie ihm diskret den Ausgang zeigen musste. So viel Lärm amcht man sonst nur um einen Eierkuchen.

Wie gesagt, Tante Elsbeth. Sie ist nicht nur schwerhörig und wird enorm schnell laut, sie hat auch ihr blendendes Gedächtnis behalten. Keine ihrer zahlreichen Marotten ist ihr seit dem letzten Jahr entfallen, und zum 99. hat sie ihre Mahlzeiten ein bisschen verändert. Die Kleinigkeiten, die sie zu speisen pflegt, werden immer kleiner, dafür um so exquisiter. Der von ihr vor mehreren Monaten aus guter Quelle (muss ich sagen, von wem?) besorgte Vorrat an Wurstkonserven lagerte nun geraume Zeit in ihrem Keller, bis sie sich ermannte und das ganze Zeug per Express an meine Anschrift schickte. Müßig zu sagen, dass ich vor lauter Plätzchen erst einmal nicht in die Verlegenheit kommen werde, kriegsfeste Fleischwaren zu verbrauchen, aber sollte es in absehbarer Zeit einen Vulkanausbruch samt anschließender Inflation geben, ich bin in Sicherheit.

Wer übrigens gemeint hätte, Doktor Klengel hätte den Schlankheits- und Entschlackungswahn zu verantworten, der irrt. Nichts läge ihm ferner. Auf den Malerreisen im Rheinischen neigt er zu deftiger Kost, ab und an freilich auch auch mit dem ihm eigenen Appetit auf Muscheln. Jeden Versuch, ihn am Wurstkonserveninferno zu beteiligen, hat der ehemalige Allgemeinarzt höflich, aber doch sehr resolut zurückgewiesen. Was soll man da noch machen. Ich strecke meine Waffen.

Kester muss sich nicht mehr um Diäten kümmern, er ist mit allerhand Spinvektoren beschäftigt, habilitiert fröhlich vor sich hin und kommt gar nicht erst in die Verlegenheit, sich mit Plätzchen zu beschäftigen. Vermutlich wird er seine nächste warme Mahlzeit beim Nobelpreis-Bankett einnehmen.

Sigunes Therapeut hat ihr ajurvedische Heilkost nahegelegt. Seitdem detoxt sie in einem fort, knurpst Achtsamkeitsmüesli mit repressionsfrei in Informationswasser getränkten Wildbeeren, die in der Jutetasche vom Eine-Welt-Markt neben dem Parkhochhaus in die erste Etage getragen werden, und als Vata-Pitta-Mischtypen mit ungezügeltem Verdauungsfeuer bevorzugen sie beide eine Art Knoblauch-mit-Knoblauch-Ernährung, die als Zusatz nur noch Zwiebeln und grüne Blätter mit bitterem Geschmack zulässt. Wer den Quell aus Lebensfreude und innerer Gelassenheit, strömender Liebe von universellem Ausmaß und einer großen Harmonie mit dem eigenen Wohlbefinden sucht, geht bitte woanders hin, hier ist es nicht. Sie sehen nicht so aus, als wären sie glücklich. Das mag wohl täuschen, aber ich habe beschlossen, es nicht zu hinterfragen. Vielleicht stecke ich ihnen eine Packung Schokoladentäfelchen in den Briefkasten und lausche dem mutmaßlich lautstarken Disput, der ob dieser zuckersatten Versuchung vom Zaun brechen wird. Der Mensch lebt ja nicht von Früchtebrot allein.

Was mir die beiden Brüder aus dem legendären Landgasthof sofort bestätigen werden. Hansi, der jüngere und seines Zeichens Servicechef, hat dem älteren Bruno, dem Fürsten Bückler einmal, will sagen: ein einziges Mal das Thema Wellnessküche näherzubringen versucht. Einmal. Petermann, Entremetier und die rechte Hand des Küchenzauberers, hatte das Frittieren des Kellners in Aussicht gestellt, der Rest der Brigade das Menü in Gefahr gesehen und Bruno den Appetit der Gäste. Ich möchte mir das nicht einmal vorstellen müssen, vor allem nicht, wenn aus der Reserve noch ein 1995-er Wupperburger Brüllaffe nebst 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen kredenzt werden. Wie das zu Salatblatt an Magerquark passt, erschließt sich mir nicht spontan, und ich mag mir nicht von einem Körperfettbeauftragten die Kalorien auf die Rippen zählen lassen. Wir werden am Weihnachtstag wie alle Jahre zuvor in den Landgasthof einkehren. Die Vorfreude nimmt zu.

(Was macht man eigentlich, wenn man ohnehin von Lichtnahrung lebt? Schrauben die Leute sich Energiesparbirnen in die Weihnachtsbeleuchtung? Meine Sorgen möchte ich haben.)

Herr Breschke! Wie konnte ich den rüstigen Pensionär bloß vergessen!? Ja, er war der Mann der tausend Wurstdosen – ich neige bisweilen zum Understatement, immer noch besser als zur Übertreibung – wobei er sie, wie zu erwarten war, als Schnäppchen von seiner Tochter bekommen hat. Bei Mengenrabatten jeglicher Art trübt sich das Denken des ehemaligen Finanzbeamten kurz ein, bevor er Dummheiten macht. Die erste Lieferung war für die Gattin bereits mit größerem Aufwand verbunden gewesen, sie musste auf die Schnelle den Flur freiräumen, um den Inhalt eines kleinen Transporters auf dem Boden zu verstauen. Horst Breschke war (rechtzeitig? das stünde noch zur Debatte) mit Bismarck, jenem treuen Dackel, in die Uhlandstraße spaziert, er kam erst nach Einbruch dieser Bescherung zurück und fand seine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Es handelte sich, wir müssen das nochmals erwähnen, um die erste Teillieferung schnittfester Fleischzubereitung, die sich durch passablen Geschmack auszeichnete – dass Bismarck die Lyoner verschmähte, mag an seiner Gewöhnung an Tierfutter gelegen haben, man weiß es nicht – und durch eine Haltbarkeit, mit deren Hilfe sich Weltuntergänge plötzlich nicht mehr ganz so katastrophal ausnahmen. Der Plan, elf Zwölftel direkt an Verschwörungstheoretiker liefern zu lassen, scheiterte an Kleinigkeiten großer Zahl. Möglich, dass Herr Breschke seinereits ihnen nicht ganz geheuer schien. Der einheitliche Aufdruck auf den Weißblechbehältnissen führte zu folgendem Rechenexempel: bei gleichbleibendem Verbrauch würde die Menge bis zum Alter von 139 Jahren reichen, und das für beide. Um nun aber in diese biblischen Bereiche vorzustoßen, hat sich Herr Breschke nun entschlossen, seine Ernährung auf mehr Pflanzenkost umzustellen und die Wurst als einzigen Fleischanteil zu belassen. Praktisch hat sich nicht viel verändert, Breschkes speisen wie ehedem. Zusätzlich, sie wollen ihr Haus ja in absehbarer Zeit wieder für sich selbst haben, eine Dose Wurst pro Mann und pro Tag. Es hält Leib und Seele zusammen, und wozu will man ohne diese ein gesegnetes Alter erreichen. Der Mensch lebt ja nicht von Brot allein.

Nur einer wird wieder fehlen, wie alle Jahre. Siebels, die graue Eminenz der deutschen TV-Unterhaltung. Rechtzeitig zum Fest steigt er in den Flieger, lässt sich irgendwo in die Karibik hieven und dreht im Eilverfahren fünfundzwanzig Folgen Schicksalsklinik der Träume ab, was einem Haufen Statisten ihr Weihnachtsgeld sichert und dem Vorabendprogramm seinen miserablen Ruf. Gut, dass ich das nicht mehr sehe. Irgendeine Form der Enthaltsamkeit braucht man, und ich kann nicht sagen, dass ich dadurch etwas vermisse.

Es bleibt der von mir geschätzte Kollege, der am Freitag seinen Zorn ungezügelt in die Welt schreibt. Gernulf Olzheimer hat sein Honorar noch nie erhöht, nicht einmal gebeten darum, geschweige denn Verhandlungen angemahnt. Diese schlanke, inzwischen durchaus hagere Gestalt kommt nicht von ungefähr, ich vermute, dass er sein Geld lieber für geistige Nahrung ausgibt, statt am gedeckten Tisch zu sitzen. Solange er voller Schaffenskraft die Feder schwingt und zwecks seelischer Balance die Äxte, solange bin ich guten Mutes, dass er weiter in meinem kleinen literarischen Salon bleibt, aus freien Stücken und mit dem Anspruch, diese Welt ein kleines bisschen weniger dumm zu hinterlassen, als er sie betreten hat. Seien wir gespannt.

Jetzt also werde ich, Buchhalter meiner eigenen Produktion, den Ausstoß des vergangenen Jahres in Klarsichthüllen stecken, im Archiv einen weiteren Jahrgang abschließen und mit etwas Distanz, die man zu den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zeitläuften gewinnt, eine Betrachtung nach hinten werfen, aus der ich die Perspektiven für eine neue Zeit gewinnen möchte. Manches hat sich in den vergangenen Monaten geändert, einiges zum Guten, doch eben nicht alles. Leben heißt loslassen. Es bringt einem keiner das bei. Nun also nehme ich nach gewohnter Art einige Tage Weihnachtspause, und am Mittwoch, den 3. Januar 2018, geht es dann weiter. Wie bisher.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Am Ende des Tages

19 12 2016

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wie das zum Fest der Feste passieren konnte, ich weiß es wirklich nicht. Aus dem Radio jauchzt und frohlockt es, die Paketboten tragen entsetzlich rote Zipfelmützen und tun alle wie der Weihnachtsmann persönlich – der liefert ja auch nur einmal im Jahr aus, pünktlich schon gleich gar nicht – und wer nicht mit batteriebetriebenem Rentiergeweih aus Taiwan und Weichplastik hysterisch blinkend wie ein Rettungswagen durchs einbrechende Dunkel hüpft, hat die Adventsstimmung offenbar gar nicht verdient. Hausschuh, Hemd und Heizdecke, alles verkauft sich mit X-Mas-Gedöns, laut und schräg und aufdringlich, dass man schnell merkt, wie die Verpackung den Inhalt übertüncht. Es ist zum Weglaufen, und das tun sie ja auch. Alle. Ich sitze vermutlich an den Festtagen am Schreibtisch oder vor der Hausbar, lasse dies Jahr Revue passieren – was nicht einfach sein dürfte, aber wer die Hausbar kennt, hat schon weniger Bedenken – und lege die Füße auf dem geliebten Sesselchen hoch. Alleine. Sie sind alle weg.

Als hätten sie sich verabredet. Kaum rückt der Termin näher, entfaltet sich um mich herum eine hektische Tätigkeit, alles wetzt ins Reisebüro und besorgt ein Rollköfferchen, guckt schnell nach, wo diese Malediven eigentlich liegen und wie lange es sie noch geben könnte, bevor der Billigflieger mit sonorem Röhren über die Startbahn jagt und die winterlichen Gefilde unter sich lässt. Sie sind alle weg, sie reisen, sie können den Geist der letzten paar Jahre Weihnachten schon nicht mehr sehen.

Anne hatte ihre Reise in den Süden schon lange angekündigt. Ihr erstes Jahr in der eigenen Kanzlei hat sie gut hinter sich gebracht, Luzie ist ihr Stab und Stecken geworden, ihr Mentor Husenkirchen, der jüngst seine Goldene Hochzeit gefeiert hat, hält nach wie vor große Stücke auf sie, und keiner hätte erwartet, dass sie länger als drei Monate in diesem Haifischbecken würde überleben können. Zwei Begebenheiten habe ich leider nicht berichten können, man hätte sich auf Grund der Umstände zu schnell zusammengereimt, wer sie als Verteidigerin aufgesucht hat. Immerhin habe ich ihr ins Hotel die gewohnte Portion belgischer Schokolade liefern lassen. Und ich rechne fest damit, dass sie mich am Abend des ersten Festtages wie gewohnt anruft.

Der gute Doktor Klengel genießt seinen Unruhestand nach Kräften und wandert. Auf seine alten Tage hat er sich das Aquarellieren beigebracht und streift in den Flusslandschaften umher, alle paar Wochen meldet er sich zurück mit einer Mappe kleinformatiger Landschaften, die tatsächlich eine Galeristin aufmerksam gemacht haben. Vorerst wird Anne einige Impressionen von der Rheinschleife am Bopparder Hamm in ihrer Kanzlei aufhängen, und die Bückler-Brüder überlegen auch, ob sie in ihrem Landgasthof eine Möglichkeit für Kunst am Gast haben.

Ich muss in diesem Jahr nämlich selbst kochen, das heißt: ich werde es versuchen. Kläglich, wenn ich der Wahrheit die Ehre geben soll, denn Bruno, den man zu Recht den Fürsten Bückler in seinem Reich nennt, und Hansi, den Regenten von perfektem Service und feinstem Wein, werden wir dieses Jahr entbehren müssen. Die Zwillinge feiern ihren fünfzigsten Geburtstag, und sie haben es sich verdient, einmal die Pforten zu schließen. Petermann, die rechte Hand des Küchenchefs, war drauf und dran, den Laden alleine zu schmeißen, wurde aber mit sanfter Gewalt daran gehindert. Er wird mit der Familie auf einem Donaudampfer in den Sonnenuntergang schippern, natürlich den Jahreswechsel ebenso als Gast am Kapitänstisch verbringen und frisch gestärkt den Landgasthof zu neuen Höhen führen.

(Das heißt nichts anderes, als dass ich mein Menü nach Originalrezepten von mir verehrter Köche aus deutschen, französischen und Schweizer Gefilden zubereite – einen 1995-er Wupperburger Brüllaffen sowie das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen spendierte mir Bruno mit leisem Bedauern, dass ich mich seiner Flussfahrt nicht anschließen mochte. Exzellente Tropfen, aber bei Seekrankheit nutzlos.)

Von Siebels ist rasch berichtet. Drei Monate lang erzählte er immer wieder, er wolle diesen ganzen Fernsehmist mit seinem propagandistischem Getöse hinter sich lassen, da kam ihm der Job für die neue Staffel Traumklinik der roten Rosen unter Palmen des Abenteuers in die Quere, und jetzt haut er diesen ganzen Murks zwischen den Jahren runter (O-Ton Siebels), durchaus lukrativ, da mit Starbesetzung, Veronica Ferres spielt den zweiten Gesichtsausdruck von Til Schweiger, und nur den Regieassistenten muss man nachts die Schnürsenkel abnehmen, damit sie nicht auf dumme Ideen kommen. Es reicht ja, wenn Siebels das macht, um die restlichen Gebühren für das laufende Geschäftsjahr zu verballern. Welch ein schönes Leben!

Irgendein Rebirthing-Seminar muss ausgefallen sein, oder war es Fernreiki im Hochschwarzwald? Sigune, die leicht unzurechnungsfähige Nachbarin mit den Feng-Shui-Kakteen, klingelte mit geröteten Wangen an meiner Türe. Was war geschehen? hat eine ihrer mit linksgerührtem Vollmondwasser gegossenen Primeln plötzlich in fließendem Babylonisch die gesamtgesellschaftlichen Zustände auf ihrem Balkon angeprangert? Bekam sie eine von ihrem kompletten Kruscht, Traumfänger und Wünschelruten, gezeichnete Petition, dass die Belästigung durch billige Räucherstäbchen endlich ein Ende haben müsse? Schlimmer. Sie habe da jemanden kennengelernt. Und ja, er sei Therapeut. Und sie werde die Weihnachtstage gleich mit ihm in einem Arbeitskreis bei schamanischem Trommeln verbringen. Sofern sie ihr Geballer außerhalb dieses Grundstücks veranstalten, ist alles prima. Möglich, dass sie jetzt des öfteren mal mit ihm derlei Kurse bucht, geistige Wirbelsäulenaufrichtung oder ein Aufbauseminar Tierkommunikation (sie kann sich dann ja auf Fruchtfliegen spezialisieren, ich sehe da einen Markt), und dann werde ich mich erkundigen, was dieser Mann wo und warum therapiert. Falls ich mal einen Therapeuten brauche und dann genau weiß, zu wem ich nicht gehen werde.

Tante Elsbeth ist auf dem Schiff. Ja, genau die Tante Elsbeth, die seit zwanzig Jahren nicht mehr so gut sieht und dafür zum Ausgleich um so lauter spricht, fährt auf einem wahrhaftigen Kreuzfahrtdampfer durch die Südsee. Hildegard war empört. In diesem Alter, in diesem Zustand, in diesen Zeiten – das gehöre sich nicht, und sie sei nicht einmal zu ihrem 98. Geburtstag zu Hause, nie sei sie zu ihrem 98. Geburtstag zu Hause, kurz: es sei überhaupt alles ganz unerhört. Erstens ist Tante Elsbeth meine Tante, und darauf lege ich großen Wert, und zweitens hat sie Hildegard gebührend den Kopf gewaschen. „Du erbst sowieso nichts“, hat sie ihr am Telefon in die Ohren gedrückt, „und solange ich ohne fremde Hilfe ein Champagnerglas ins Gesicht kriege, lasse ich mir keine Vorschriften machen! Von Dir schon gleich gar nicht!“ Ich habe ihr eine hübsche kleine Aufmerksamkeit an Bord schmuggeln lassen. Sicher wird die ehemalige Direktorin eines humanistischen Gymnasiums – Latein, Griechisch und Philosophie – einen ganzen Tag lang den Dampfer durchstöbern, um einen Briefkasten zu finden für die Ansichtskarten aus Neuguinea. Hauptsache, sie hat ihren Spaß.

Und Hildegard? dass sie mich regelmäßig mit der dramatischen Leistung verlässt, derer die Ferres und die Neubauer nicht einmal zusammengenäht in der Lage wären, das ist ja nun Tradition in diesem Haus und bedarf gerade zur Weihnachtszeit keiner besonderen Erwähnung. Sie bewarb sich jüngst auf einen Posten, für den sie jeden Tag gut zweihundert Kilometer fahren müsste, einfache Tour, oder mit anderen Worten: sie plant den Auszug. Meine doch sehr einfach strukturierten Ratschläge, ihr in meiner Wohnung doch relativ massereiches Inventar dann wenigstens übergangsweise in ihre eigenen vier Wände zu schaffen, um einen endgültigen Umzug problemloser bewerkstelligen zu können, erntete von ihrer Seite keinen Beifall. Vorerst aber ist sie wie geplant ab dem ersten Ferientag bei ihren Eltern, ruft nur wenige Male am Tag bei mir an und erkundigt sich, ob ich auch alle Herdplatten richtig ausgedreht habe, und braucht unbedingt die Adresse der Änderungsschneiderei, da sie nach den Ferien sofort eine Hose wird weiten lassen müssen. Es wird, wie gesagt, doch sehr weihnachtlich sein.

Meinen Neffen Kester habe ich nun seit fast einem Jahr nicht gesehen, und wie erwartet sitzt er an seiner Habilitationsschrift über die Ausrichtung von Spinvektoren. Jüngst hat ihn eine Einladung in die Vereinigten Staaten geführt, er bleibt noch bis zum nächsten Jahr dort, hat aber seine Rückkehr schon in Aussicht gestellt. Die Spinnvektoren sind dort auch ein bisschen stark geraten, da hilft keine Wissenschaft mehr.

Von Trends & Friends habe ich seit dem letzten Zucken beim Insolvenzverwalter nichts gehört, Anne vertritt die zahlreichen Gläubiger – mithin auch mich – und so traf ich jüngst den ehedem so erfolgreichen Travel-Experten Maxim in ihrem Wartezimmer, wo er mir für die Festtage einen Kurztrip nach Nizza empfahl, man muss da Weiß tragen, you know, und es ist ein bisschen fancy, für Hildegard wäre also immer noch Hochschwarzwald drin, notfalls zusammen nach Berlin, weil da sind um diese Jahreszeit kaum Deutsche, vorausgesetzt, you know, man nimmt das richtige Hotel und geht auch zwischendurch nicht raus. Er ist durch meine Vermittlung irgendwo bei einer größeren deutschen Tageszeitung gelandet, gurkt alle zwei Wochen zu Tourismusmessen und wird gelegentlich eingeladen zu einer Hoteleröffnung, bei der er immer dieselben Leute trifft, die sich die Luxussuiten leisten können und die sie daher nicht zu bezahlen brauchen. Gut, dass ich kaum herumkomme.

Nicht einmal Reinmar ist in diesem Jahr zu Hause. Die traditionelle Schachpartie am zweiten Weihnachtstag wäre eigentlich ein Auswärtsspiel, halboffen, Nimzowitsch hat meine Ansicht über die Skandinavische Verteidigung nachhaltig erschüttert, aber auch er braucht Urlaub. Wir sollten es ab dem nächsten Jahr mal mit Fernschach versuchen.

Es wären noch so viele zu nennen, die in den vergangenen zwölf Monaten meine Wege gekreuzt haben: Minnichkeit, der nun endgültig in irgendeine Bürotätigkeit verschwunden ist und im Auftrag von genervten Abteilungsleitern Heftzwecken sortiert; Sofia Asgatowna, die Bücklers Landgasthof gut in Schuss hält und zur Freude von Cousin Hansi ihr Händchen für ansprechende Dekoration entdeckt hat; mein Patenkind Maja, das sich inzwischen so weit in die Zahlentheorie eingearbeitet hat, dass es die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer zwar nicht mehr versteht, aber genug numerische Argumente für gewisse elliptische Kurven hat, und sie kann ihren Dozenten langsam kaum noch etwas beibringen. Irgendwas ist da immer.

Breschke! wie konnte ich nur Horst Breschke vergessen, den stetigen Quell des Entsetzens, der zeitweise mein ganzes sorgenvolles Denken ausmacht, er und Bismarck, und seine Gattin natürlich! Sie haben doch tatsächlich vor, über die Festtage ihre Tochter zu besuchen. Das Problem war nicht, dass diese sich, ganz Weltenbummlerin, immer in obskuren Regionen dieses Planeten herumtreibt, es war auch nicht schwierig, diese Reise mit dem Auto anzutreten. Das Gefährt der beiden Eheleute ist betagt, aber stets gepflegt und gewartet, hat mehrfach die Alpen überquert, war in Prag, an der Nordsee und mehrfach in der Eifel – wer sich da nach Einbruch der Dunkelheit verfährt, den schreckt so leicht nichts. Bis nach Barcelona dürften es die beiden schaffen, nur sandte sie ihrem Vater als Weihnachtsgeschenk ein Navigationsgerät. Das Ding legte mehrere Tage das Leben im Haus der Breschkes sowie den Straßenverkehr zwischen Kastanienallee und Platanenweg lahm, von meinem Nervenkostüm ganz zu schweigen. Davon wird noch ausführlich zu berichten sein.

Und einer, der wird nicht verreisen, denn er ist noch nie verreist. Der von mir geschätzte Kollege Gernulf Olzheimer wird über die Feiertage mit der Axt seine Feder schärfen und sich warm schreiben für einen neue Verbalsalve gegen die vereinigte Dummheit auf Erden. Ab und zu knurrt er wieder am Mittwoch ins Telefon, dass er nicht weiß, warum er sich das alles noch antut, dann schweigen wir beide bedeutungsvoll, und dann legt er auf. Und pünktlich am Freitag steckt dann wie ein Hieb der neue Wutausbruch in den Artikeln. Es ist noch nicht alles verloren.

Und so wären wir, am Ende des Tages, wieder am Ziel angekommen. Der Geist braucht ein wenig Ruhe, sich zu sammeln und die Perspektive wieder zu richten, was wichtig ist und was nicht. Auch ist hin und wieder Stille ganz angenehm, eine leises Abschließen, mit etwas Abstand auch ein klarer Blick auf das, was war, damit man klarer sieht auf das, was da kommt. Und damit der Spaß in diesem kleinen satirischen Salon nicht zu kurz kommt, der für jeden eine Sitzgelegenheit und etwas Kurzweil bietet. Wie in den letzten Jahren nehme ich mir einige Tage Weihnachtspause, um in aller Ruhe die alten Schätze in Klarsichthüllen zu verpacken, hier und dort nachzulesen, und am Montag, den 2. Januar 2017, geht es dann weiter. In alter Frische.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





So ziemlich am Ende

21 12 2015

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wieder einmal haben wir gemeinsam einen Jahrkreis zu Ende gebracht. Es war ein seltsames Jahr, nicht zu sagen: es war kein gutes. Der Abschiede waren genug, die Stimmung ist etwas gedämpft. Der bewegende Augenblick, als wir uns vor wenigen Tagen am Grabe des verehrten Doktor Conradi versammelten, der nach kurzer Krankheit von uns gegangen ist, hatte nun auch nicht lange angehalten, schon vor der Kapelle war Hildegard wieder in Hochform und hatte eigentlich an allem etwas auszusetzen. Der Sarg war ihr zu schlicht und der Kranz zu pompös, die Orgel zu laut – der gute Conradi hatte sich eigens etwas sehr Kompliziertes von Franck gewünscht, wohl auch, um bis ganz zuletzt jemanden auf einer Holzbank sitzend zur Verzweiflung zu treiben – sowie das Wetter ganz unmöglich für so eine Feier, das habe der alte Geschichtslehrer mit Absicht so eingefädelt, und überhaupt wisse sie nicht, was sie dort solle, sie habe ihr Abitur ganz woanders abgelegt. Tante Elsbeth, schon hoch in den Neunzigern und als die bekannt, die den späteren Pädagogen mit den Neutra der u-Deklination gepiesackt hatte, hört nicht mehr so gut, doch sie spricht zum Ausgleich deutlicher. Da es just auf die Festtage zugehe, so die alte Dame auf ihren Stock und meinen Neffen Kester gestützt, könne man doch sicher die Geschenke umtauschen. Sie nämlich wünsche sich vom Knochenmann den Doktor Conradi zurück und biete ihm dafür Hildegard als vollwertigen Ersatz. Es stockte der Trauergesellschaft der Atem, wenn auch aus mehr als einem Grund. Reinmar, mit dem ich seit Schultagen eine Freundschaft pflege, hatte das für sehr gut befunden; sobald Hildegard da angekommen wäre, wo wir alle dereinst hin müssten, würde er sich nicht mehr freiwillig bei uns blicken lassen.

Doktor Klengel war nicht minder erschüttert. Er hat sich zurückgezogen und seine hausärztliche Praxis einer jungen Kollegin übergeben. Hildegard mokiert sich über sie und hat schon angekündigt, diese Praxis nicht mehr zu betreten. „Das ist keine Ärztin“, verkündete sie, „die war doch eben noch eine Medizinstudentin!“ Auf die Frage, wie sie selbst ihr Staatsexamen überlebt hat, verweigert sie hartnäckig die Antwort.

Dass auch Horst Breschke nebst Gattin unter den Gästen waren, hatte mich zunächst überrascht, Frau Breschke erklärte mir den Grund für die Einladung. Die Herren hatten sich vor Jahren in einem Sparklub für Beamten des höheren Dienstes angefreundet, wo sie als Oberamts- beziehungsweise -studienräte die ordentliche Dosierung von Zahnpasta aus der Tube diskutierten und leere Toilettenpapierrollen als Kaminanzünder ausprobierten. Der rüstige Pensionär fragte auch gleich, ob ich ihm einen Nachruf auf den Freund für das monatliche Magazin des Klubs verfassen wolle.

Sie hatte den Geschichtslehrer zwar erst spät kennen gelernt, dennoch war Anne zugegen. Die Welt ist bekanntlich klein, und so erfuhr ich zu diesem Anlass, dass ihre Perle Sofia Asgatowna auch bei Conradis geputzt hatte. Max Hülsenbeck hatte sie diesmal nicht im Schlepptau, und sie wird ihn auch nie wieder mitnehmen. Er hat sich heimlich, still und leise verkrümelt, bei der Staatsanwaltschaft kennt man ihn nicht mehr – Husenkirchen weiß etwas, sagt aber nichts, das ist immer noch besser als andersherum – und seine ehemalige Wohnung ist längst neu vermietet. Das hat auch sein Gutes, denn seit längerer Zeit konnte ich keinen Schokoladenvorrat mehr anlegen, ohne zu sehen, wie Anne regelmäßig spätabends darin einfällt. Ich hatte schon erwogen, die Pralinen gleich bei ihr zu deponieren und die therapeutischen Gespräche telefonisch zu erledigen, aber sie ließ sich nie darauf ein. Im nächsten Jahr wird sie sich selbstständig machen und eine eigene Kanzlei gründen. Wer noch keine Kakaoaktien besitzt, sollte jetzt sein Depot großzügig aufpolstern.

Mandy Schwidarski von Trends & Friends ist in Schwierigkeiten geraten. Ob Travel-Experte Maxim oder der Kollege Minnichkeit ihr noch länger die Treue halten? Beiden ist sie inzwischen je drei Monatsgehälter schuldig, ich bekomme noch eine hübsche Summe für eine Titelgeschichte, und ihre Telefonnummer wird inzwischen von einer etwas desinteressierten Automatenstimme beantwortet.

Mit Siebels, der grauen Eminenz der deutschen Fernsehlandschaft, hatte ich schon lange kein Wort mehr gesprochen. Er rief mich vor ein paar Tagen an und teilte mir mit, dass er wie gewöhnlich noch einmal dreizehn Folgen einer TV-Schmonzette abreißen würde – Nonnen in der Karibik, dazu ein Krankenhaus, in dem gleichzeitig eine jugendliche Reporterin sitzt, die die große Liebe sucht und dazu nach Bad Sülze zieht – um die Reste aus dem Gebührentopf durch den Ausguss zu jagen. Er hat sich vor längerer Zeit das Rauchen abgewöhnt und wird nun langsam zum Hypochonder. Vielleicht umgibt er sich ja deshalb seit Jahren mit TV-Ärzten.

Sigune, die ich gerne ebenso wenig gesehen und gehört hätte, beschäftigt sich inzwischen mit den Unterschieden zwischen Vollmond- und Neumondwasser. Vermutlich hat das eine total andere Dinge im Gedächtnis als das andere, ich kann mich nur gerade nicht erinnern, welches. Sie hat es mir in einem länglichen, wirren Vortrag erklärt, ich aber war bereits nach der Hälfte vollständig paralysiert und fragte mich, wie ich der Lage möglichst ungesehen würde entfliehen können. Eine gefühlte Stunde später – die Nachbarin hatte mich schon über die Vorteile der Planetentonschalen für eine natürliche Verdauung aufgeklärt – klingelte unvermittelt ihr Telefon und erlöste mich aus einer Muskelstarre, von der ich mich erst Tage später wieder erholen sollte. Vielleicht hätte ich Sigune fragen wollen, ob eine tibetische Teppichfliese dabei hilfreich gewesen wäre. Man weiß ja nie.

Dies ist in knappen Worten die Stimmung, in der wir am Weihnachtstag nun in kleiner Runde in Bücklers Landgasthof das Fest feiern werden bei Ente und Hecht. Einige Flaschen vom 1995-er Wupperburger Brüllaffen und 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen sind dabei, Bruno, Fürst Bückler und seine rechte Hand Petermann haben schon Einzelheiten durchblicken lassen, Hansi weiht nach Jahren ein neues Service ein, und da er zum Geburtstag seiner Cousine Sofia Asgatowna gekommen ist, wird auch Gennadi Jefimowitsch sich nützlich machen. Als langjähriger Pâtissier eines französischen Hotels wird er die Küche auf die eine oder andere neue Idee bringen.

Mein Großneffe Kester trägt seit wenigen Wochen den Doktorgrad und hat mir genau erklärt, warum ich das nicht verstehe. Er hält Gluonen für berechenbar wegen einer Antisymmetrielücke, die in der Wellenfunktion der Baryonen auftritt. Damit könnten in drei bis siebzehn Generationen Grundannahmen der Stringtheorie experimentell überprüfbar sein. Ein beruhigendes Gefühl, wenn man immer etwas zu tun hat. Mein Patenkind Maja ist mit dem Studium ausgelastet und sucht nach einer Eingebung, um den Satz von Kronecker-Weber auf beliebige Zahlkörper zu verallgemeinern. Da sage noch jemand, mit Mathematik könne man im täglichen Leben nichts anfangen.

Eine gute Nachricht immerhin habe ich auch fürs kommende Jahr, denn der allgemein geschätzte Freund und Kollege Gernulf Olzheimer, der mich am Freitag zu vertreten pflegt, hat nach einer längeren wie lauten Wutrede auf das deutsche Gesundheitssystem, bei der er einen schweren Kristallascher durch die gläserne Terrassentür des Friedhofscafés schmiss – ich vergaß zu erwähnen, dass auch er dem alten Conradi das letzte Geleit gegeben hatte – angekündigt, auch weiterhin regelmäßig und pünktlich seine Kommentare bei mir abzuliefern. Außerdem habe ich immer einen vernünftigen Cognac vorrätig.

Die Schachpartie am dritten Festtag steht fest, ich habe ein ganzes Jahr lang geübt, ein Gambit abzulehnen. Möglicherweise ist das lehrreich, nicht nur fürs Schachspiel. Der mir seit Kindertagen vertraute Freund wird jedenfalls schweigen, und das ist auch gut so.

Nun habe ich fast alles verraten, abgesehen von den Präsenten, daher hier noch einmal vor Zeugen: dieses Jahr schenken wir uns nichts. (Das Muranoschälchen für Anne und die Uhr für Hildegard tun hier nichts zur Sache.) Es war ein seltsames Jahr, nicht zu sagen: es war ein anstrengendes. Wie in den Jahren zuvor werde ich mich ein bisschen zurückziehen, und am Montag, den 4. Januar 2016, geht es weiter.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Es musste so kommen

23 12 2014

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ja, es sieht etwas chaotisch aus, aber das kam so: Als Hildegard, und eigentlich war auch das nicht geplant, weil sie über die Festtage immer wegfährt, sie wollte wie gesagt Geschenkpapier mitbringen, Band hatte ich noch, und deshalb war das im Arbeitszimmer neben dem Schreibtisch, aber alles noch nicht eingepackt, und – nein, ich muss anders beginnen. Ich müsste überhaupt einmal beginnen, am besten ganz von vorne.

Mit den Geschenken, und eigentlich mit der Sitte des Schenkens. Weil wir inzwischen dazu übergegangen sind, einander mit großen, größeren, immer größeren Päckchen und Paketen und Kisten und Kästen zu überhäufen, die längst nicht mehr unter einen handelsüblichen Weihnachtsbaum passen. Was andererseits auch den handelsüblichen Weihnachtsbaum, nachfragebedingt sowie am Zeitgeist orientiert, wieder ein Stückchen größer macht, so dass inzwischen auch XXXXXL-Pakete darunter Platz haben, was die XXXXL-Päckchen eben zu klein aussehen lässt, mit dem Ergebnis, dass… – Was rede ich hier überhaupt, wir kennen das doch alle. Alle Jahre wieder. Bald werden wir alle in größere Häuser umziehen müssen, weil wir den Platz für die größeren Bäume brauchen, unter denen dann die größeren Pakete liegen können, die wir uns aber nicht mehr leisten können, da wir jetzt ja in größeren Häusern leben müssen.

Weihnachten ist, sehen wir der Sache ins Auge, vor allem ein betriebswirtschaftliches Problem.

Das fing damit an, dass Hildegard eben nur eine Sorte Geschenkpapier mitbrachte, ein durchaus sehr hübsches Muster mit roten Sternen auf goldenem Grund, dickes, voluminiertes Papier, das man knifft und klebt und zum Halten bringt, ohne sich die Finger daran aufzureißen, kurzum, das Verpacken würde dieses Jahr wirklich eine Freude sein. So dachte ich, und damit nahm die Sache ihren Lauf. Es waren auch die passenden Anhänger vorhanden, für jeden einen, um noch einen herzlichen Wunsch an den jeweils Beschenkten mitzuschicken, aber dafür muss man eben aufpassen und die Pakete nach dem Packen auch in der richtigen Reihenfolge verstauen, vorsortieren, ordnen, wenn man nicht, ich gebe es zu, zur komplizierteren, da einfacheren Lösung greift: ein Geschenk, beispielsweise graue Wollsocken im Doppelpack, liebevoll einschlagen, zukleben, mit Band und Schleife versehen, um eine traditionelle Verschnürung vorzutäuschen, den Anhänger zwecks eindeutiger Zuordnung an das Ding pfriemeln, dann das nächste Zeugs verpacken. Irgendwann verspürt man den Wunsch, das komplette Christfest einzutüten, um es en gros aus dem Fenster zu schmeißen, aber je nach Größe der Familie und Anzahl der Beschenkten ist es mit zwei oder drei Anfällen erledigt.

Dann aber nahm das Schicksal seinen Lauf. Hildegard, die das Konvolut vor dem Schreibtisch sah, montierte von links nach rechts die ihrer Ansicht nach passenden Anhänger an die Präsente. (Logisches Denken ist ihre Stärke, es sei denn, sie entscheidet sich unterwegs anders.) Und so fuhr sie getreu sämtliche Geschenke aus und gab sie ab, während ich je zwölf Flaschen 1995-er Wupperburger Brüllaffen und 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen – die geneigte Leserin, der aufmerksame Leser wird beide als exzellente Tröpfchen kennen, weil sie schon öfters eine Rolle in meinem Salon gespielt haben – einlud und in den heimischen Keller spedierte. Ich also kam zurück, Senf hatte ich keinen dabei, dafür war auch noch nicht Heiliger Abend, und stellte fest, dass die Bescherung bereits stattgefunden hatte. Jeder hatte seine Gabe erhalten. Meinte Hildegard.

Die Bückler-Brüder, Küchenchef Bruno, den sie voller Respekt Fürst Bückler zu nennen pflegen, und sein Bruder Hansi, bedankten sich mit milder Ironie, da ich sie mit einer Nudelmaschine bedacht hatte. Endlich, teilte mir Bruno mit, würde er sich an komplizierte Gerichte wie Maultaschen wagen können, ohne dem Küchenjungen das äußerst gefährliche Wellholz erklären zu müssen. Aus dem Hintergrund hörte ich Petermann feixen, Entremetier und des Meisters rechte Hand, wie er sich zu Ostern ein Küchenmesser wünschte. Ich hatte den Schaden, der Spott folgte, und doch glaubte ich noch an einen dummen Zufall. Wie ich mich getäuscht haben sollte.

Denn kaum hatte ich die Tischreservierung bestätigt und eingehängt, da klingelte es schon wieder. Siebels, die graue Eminenz unter den TV-Produzenten, meldete sich vom Flughafen, da er zwischen den Jahren wieder einmal schnell dreizehn Folgen Traumklinik im Ozean oder ähnlichen Schrott abdrehte, um die Gebühren des laufenden Jahres zu verballern. Er war sehr angetan von seinem Geschenk, bedauerte aber, es aus Sicherheitsgründen hier deponieren zu müssen. Ob ich das nicht bedacht hätte. Ich war verwirrt. Bis mir auffiel, dass er das Schweizer Armeemesser bekommen hatte. Es passte, und das war noch das einzig Gute an der Sache.

Schon stichelte Hildegard. Dass ich auch keine individuellen Weihnachtsgeschenke zu machen bereit wäre, dass bei mir immer alles gleich aussähe und über einen Kamm geschoren würde. Kurz bevor ich dem Kristallaschenbecher ausweichen konnte, hatte ich noch gefragt, wer denn auf die Idee mit der einheitlichen Sorte Geschenkpapier gekommen war, aber da war die Sache schon so gut wie gelaufen. Sie hatte sich auf meinen Fehler mit den nicht genau gekennzeichneten Geschenken kapriziert, mir eine quasi sozialistisch anmutende Gleichmacherei unterstellt – „Rote Sterne! Du wirf mir noch einmal schlechten Geschmack vor, rote Sterne! Zu Weihnachten!“ – und schon nach einer Viertelstunde jede weitere Diskussion abgelehnt.

Was allerdings noch lange nicht meine Rettung war. Mandy Schwidarski, die noch immer höchst erfolgreich ihre Agentur Trends & Friends durch die Wogen der öffentlichen Aufmerksamkeit fuhr, teilte mir per SMS mit, dass sie sich schon immer einen Motorradkalender gewünscht hatte. Dass sie ohne die ansonsten typischen leicht bekleideten Damen, im Fachjargon als Fahrerzubehör bekannt, auskommen musste, monierte sie nicht. Ich hätte es wissen können.

Wir gut, dass ich mein inzwischen nicht mehr so halbwüchsiges Patenkind Maja mit regelmäßigen Zuwendungen bedenke und im Dezember die Zahlung leicht anpasse. Sie hat das Studium der Mathematik aufgenommen und bekommt wie zuvor mein Großneffe Kester, der gerade in theoretischer Physik promoviert wird, ihr Geschenk in guter Dosierung. So wird die Dankbarkeit auch nicht auf den Weihnachtstag beschränkt.

Sofia Asgatowna, Annes Perle, bekommt gleichfalls ihr Geschenk. Sie putzt zwar nicht bei mir, sorgt aber für Ruhe bei der Freundin und hat sich dafür eine Flasche vom guten, ja sehr guten Champagner verdient, den auch Staatsanwalt Husenkirchen nebst Gattin und Tante Elsbeth am letzten Adventssonntag erhalten. Da ist Ordnung.

Aber Anne, ach! fühlt sich schon wieder tödlich beleidigt. Ihr in hübsches Halbleinen gebundenes Handbuch des Königsgambit empfand sie als böse, ja bitterböse Geste, da sie sich mit dem Schach so gar nicht auskenne und diese Anspielungen auf ihren Beruf – sie ist nun mal Juristin, wenngleich eine sehr gute – strengstens verbitte. Ich habe es versucht. Ich habe alles versucht. Es half nichts, sie wird mich nicht mehr kennen. Sie fährt mit Hülsenbeck in den Weihnachtsurlaub, dieses Jahr in die Seealpen, und wird nicht vor dem zweiten Festtag mitten in der Nacht heulend vor meiner Tür stehen. Die Schokolade liegt schon bereit.

Trends & Friends rief noch einmal zurück, diesmal war es Minnichkeit, der sich brav, aber etwas verklemmt für die Heine-Gesamtausgabe bedankte (und fragte, wie lange er zum Lesen bräuchte). Ich habe keine Hoffnung, dass er sie je aus der Verpackung nimmt, und ich bereue, dass ich nicht die Lenin-Ausgabe in Kunstleder zum Bruchteil des Preises gekauft habe. Nicht gelesen ist nicht gelesen, und nur das Ergebnis variiert. Vielleicht ist das bei Heine sogar schlimmer.

Zwischendurch klingelte Sigune, die leicht unzurechnungsfähige Nachbarin. Sie musste wohl zwischen der Sprechstunde mit den Topfpflanzen und Feng-Shui-Möbelrücken eine freie Minute gefunden haben, jedenfalls freute sie sich über die exotischen Räucherutensilien. Dass es sich bei den chinesischen Pfeffern, Sumach und spreizender Melde nicht um Lufterfrischer handelte, kam gar nicht erst zur Sprache. Es würde in den nächsten Wochen nach kokelndem Kurkuma riechen. Was sollte ich nur tun.

Gerade plante ich einen längeren Aufenthalt am Südpol, da meldete sich Jonas. Er, der unter allen Umständen jung bleiben wollte, meckerte recht deutlich über meine Idee, ihm eine gebundene Gesamtausgabe des Teckelzüchter-Almanachs (1997 ff.) zu schenken. Ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Und überhaupt. Gut, dass Herr Breschke mit begeistertem Lob die Situation wieder rettete. Bismarck, der vierbeinige Freund des pensionierten Finanzbeamten, hatte die Leckerchen erst gar nicht anrühren wollen, doch Horst Breschke probierte eins und fand sie sehr schmackhaft. Seine Frau ebenso. (Seine Frau die Süßigkeit, damit hier keine Missverständnisse auftreten.) Gut so, die Mangobonbons waren nicht für sie bestimmt gewesen, aber immerhin hatte Breschkes Tochter sie auf einem Landausflug in Tunesien besorgt. Zollfrei.

Doktor Klengel bedankte sich für die Krawatte. Es klang wie ein auf den Anrufbeantworter gesprochener Formbrief.

Die Szene des Abends jedoch lieferte – als ob ich es noch betonen müsste – Hildegard. Als Lehrerin benötigt sie natürlich ab und zu eine Gedächtnisstütze, sie verfügt über einen dieser Ringbuchkalender, die man jährlich mit neuen Blättern befüllt, um sie in der Handtasche mit sich zu führen. Vermutlich war es das karierte Papier. Hätte ich sie je in einem unvorsichtigen Moment geheiratet, dies wäre die Scheidung gewesen. Was für ein Donnerwetter. Wenigstens war ich sie danach los, denn sie setzte sich sofort in den Wagen und fuhr. Es musste so kommen, und dass es so kam, macht die Sache nicht angenehmer.

Aber auch nicht unangenehmer. Reinmar, der beste Freund, der aus Kindertagen, der auch wieder für eine Partie Schach vorbeischauen wird, für einen Abend, an dem keine zehn Worte gesprochen werden müssen, fand die asiatischen Heilsteine sehr schön. Er meinte, er würde sie wohl in seinem Garten als Schmuck auf den Beeten einsetzen. Oder im Aquarium. Oder in einer Blumenschale. Ein gutes Geschenk erreicht immer den Menschen, dem es gilt.

Nur mein Kollege Gernulf Olzheimer, mein störrischer Gefährte, der noch immer Äxte sammelt und mit knirschender Feder seine Tiraden schreibt, der wollte nichts. Wir schenken uns nichts, und das gilt in jeder Hinsicht. Er bleibt mir ein weiteres Jahr verbunden. Das ist mir Geschenk genug.

Erschöpft sinke ich zurück. Was für ein Jahr, was für Sitten. Hätte ich das vorher gewusst ich hätte… – nein, ich hätte es nicht anders gemacht. Nichts davon. Sonst kann man das gar nicht machen. Und so soll es auch bleiben. Weshalb ich kurz Luft holen will, um ab Montag, den 5. Januar 2015, einen neuen Jahrgang zu beginnen.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





Zum guten Schluss nach gutem Brauch

20 12 2013

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wie gut, dass ich gerade nicht Bundeskanzler bin. Einerseits – nein, das muss wirklich nicht sein. Und andererseits, sollte mir vielleicht irgendein Missgeschick passieren, dann erschiene hier eine alte Grußbotschaft, und noch schlimmer wäre es, das fiele niemandem mehr auf.

Wie gut, dass ich gerade nicht Bundespräsident bin. Einerseits sondert der jetzige regelmäßig betuliches Zeugs ab, was ja seine hauptsächliche Aufgabe ist, grüßt dabei nicht unmotiviert von Afrika und seiner Frau oder fuchtelt herum vor der Fichte, hinter die er uns ansonsten führt. Und andererseits hält sich meine Lust in Grenzen, anderen Leuten beim Regieren zuzusehen und ihnen die Hausaufgaben unterschreiben zu müssen. Es gibt Angenehmeres.

Beispielsweise Weihnachten. Auch in diesem Jahr hat uns die Konsumgüterindustrie wieder den Wunsch ans Herz gelegt, fleißig einzukaufen, und so retten wir brav und folgsam Arbeitsplätze, wenngleich größtenteils in China, sofern es sich nicht um Aufsichtsratsvorsitzende und Vorstände handelt. Und Paketpacker im Versandbunker. Und Auslieferungsfahrer. Die können sich zwar keine neuen elektronischen Spielzeuge zum Fest der Liebe leisten, aber das bedeutet ja auch nur, dass die Wirtschaft theoretisch gesehen durchaus noch Wachstumspotenzial hätte. Und darauf kommt es schließlich an.

Im neuen Ministerium für digitalen Straßenbau grübeln vielleicht gerade ein paar Referatsleiter über der Frage, woran man ausländische Rentiere erkennt, weil die ja in absehbarer Zeit mautpflichtig sein werden. Das Problem sind sicher die deutschen Rentiere, denen man zuerst eine Plakette anpappen müsste. Deutsche Rentiere. Ein Fall für den Landwirtschaftsminister, der vermutlich alles registriert und überwacht, was nicht rechtzeitig wegläuft. Oder er kümmert sich gerade um den Krümmungsgrad des EU-Christbaums. Irgendwas muss man tun. Diese vier Jahre können sich sonst ganz schön ziehen.

Ich für meinen Teil bin ja schon zufrieden, wenn die Weihnachtsgans in diesem Jahr nicht aus dem Ofen wiehert. Wobei die Zusammenlegung von Verbraucherschutz- und Justizministerium in diesem Fall sogar einmal sinnvoll wäre. Sollte dies mit demselben Aufwand geschehen wie seinerzeit die Regulierung von Telefonwarteschleifen, wir wären vermutlich innerhalb weniger Monate im Paradies. Oder innerhalb einiger Jahre. Oder später. Oder wahrscheinlich gar nicht, aber der Weg dahin wird ganz nett gewesen sein.

Just habe ich den Versuch unternommen, meine Bekanntschaften mit Ministerposten zu versorgen. Man soll das nicht tun, ich weiß, denn man achtet ja schon wieder viel zu viel auf die angeblich so wichtigen Fachkompetenzen. Als ob ein Arzt einen guten Gesundheitsminister abgäbe. Der letzte Versuch war wohl eher humoristisch gemeint. Das würde Doktor Klengel auch noch hinkriegen, und da er die meisten Leiden mit Aspirin, Sitzbädern und Placebos vertreibt, ist auch die Seite der Kosteneinsparung bei ihm berücksichtigt.

Für den Wirtschaftsminister würde ich ohne Frage Herrn Breschke nominieren. Der Mann ist wirklich produktiv, es kommt zwar nichts Nennenswertes heraus, aber der Mann entfaltet ein fabelhaftes Getöse dabei. Dessen ungeachtet war er vor seiner Pensionierung Finanzbeamter mit Leib und Seele, weiß auch ein gutes Stückchen zu sparen, und doch, die sinn- und ziellose Entfaltung von Aufwand liegt ihm im Blut. Ein Superministerium wäre sicherlich ganz nach seinem Geschmack.

Dass Anne für das Justizwesen geeignet sei, halte ich für ein nicht bestätigtes Gerücht; sie wäre eine herausragende Verteidigungsministerin. Zwar ist sie nicht siebenfache Mutter (nichts läge ihr ferner), aber sie verbringt ihr Tagewerk damit, wüste Drohungen in Heißluft zu verwandeln und ist bei bewaffneten Konflikten sicher einschüchternd genug, dass sich potenzielle Gegner nicht mit einer ganzen Armee ihresgleichen anlegen wollen. Dazu wäre sie die erste kompetente Frau auf diesem Sessel. Es sei denn, Hildegard würde sich dafür interessieren. Dann könnten wir auch gleich auf die Bundeswehr verzichten, sie wütet etwaige Feinde im Alleingang weg. Allerdings würde sie sich berufsbedingt besser als Bildungsministerin machen, und sie wäre vermutlich die erste, die Kinderallergie als anerkannte Berufskrankheit für Pädagogen durchsetzen würde.

(Ich stehe gerade unter Beobachtung für meine frauenfeindlichen Äußerungen, also sage ich nicht, dass ich Sigune, die ihre Blumentöpfe nach Feng Shui ausrichtet und die Topfblumen mit linksdrehend gerührtem Informationswasser aus Vollmondabfüllung gießt, als Gedönsministerin für erste Wahl halte. Zumindest dann, wenn man das Gedönsministerium in der Qualität erhalten will, wie wir es von der letzten Sprechpuppe her gewohnt waren.)

Die Bückler-Brüder besetzt man am besten mit Innen und Außen. Ein cholerischer Erbsenzähler und ein schwatzhafter Tausendsassa. Wenn ich auch mit den Jahren merke, wie sie einander ähneln und der eine mehr und mehr vom anderen hat, dass sie sicher irgendwann die Plätze tauschen könnten. Nur bei Siebels bin ich mir sicher, den haut nichts vom Sockel. Der ist mit allen Wassern gewaschen und weiß zu gut, wie Medien funktionieren, also benutzte er sie auch so, wie er es will, und nicht, wie sie sich das vorgestellt hatten. Es könnte keinen besseren Kanzleramtsminister geben als ihn.

Und dann er, der Einzigartige, der mich seit Jahren begleitet. Dieser Virtuose der verbalen Axt, ein unbestechlicher Kritiker von soziologischer Bildung und rabiater Kraftentfaltung, der auch da verbrannte Erde hinterlässt, wo zuvor nur Beton war. Ich nehme an, Gernulf Olzheimer wäre es vollkommen egal, wer unter ihm den Kanzler spielt.

Dieses Jahr war eins der Verluste. Manche sind von der Bühne abgetreten, manche haben sich zurückgezogen, und eben in diesen Momenten blickt man erschüttert in den Spiegel und fragt sich: Hat man es bisher auch einigermaßen anständig gemacht, und: wird man es auch weiter mit Anstand hinkriegen? In diesem Lärm überhört man leicht, dass die Zeit immer noch nach Satire schreit, und wenn auch einige nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die Politik längst den grausigen Humor überflüssig gemacht habe, eins muss man doch betrachten. Es wird scharf geschossen, doch das reicht nicht. Es kommt schließlich darauf an, wer auf wen zielt. Und ob der Schuss ins Schwarze trifft.

Wie gut, dass ich nicht Bundeskanzler bin. Ich müsste mich täglich ärgern, dass ich überhaupt nicht wüsste, was die Leute so sprächen, denn ich spräche ja nicht ihre Sprache, und dann wäre ich sicher dienstlich verpflichtet, nachts wachzuliegen, aber wie ich mich kenne, würde ich an Freude, Liebe, Ärger, Lyrik, Makkaroni, Normaltheater, Linden, Himbeerbonbons, Macht der Verhältnisse, Klatschen, Hundegebell und Champagner denken, und damit wäre doch nun wirklich niemandem gedient. Außerdem, wäre ich Bundeskanzler, ich hätte für dieses kleine literarische Kabinett keine Zeit mehr, und das wäre ja doch zu schade.

Ich rechne mit dem Schlimmsten, aber vielleicht wird es wieder nur ein furchtbarer Schlips, eine Flasche Brandbeschleuniger (Terpentin-Aprikosen-Aroma) und diverse Bücher, die man gelesen haben muss, weil man sonst nicht sagen kann, man gehöre zu jenen, die sie auch gelesen hätten. Ich rechne mit furchtbarem Geknalle, dass der Hund der Nachbarn heulend unters Sofa schießt. Irgendwann wäre statistisch wieder eine umkippende Blumenvase dran, aber ich kann mich da auch irren. Vielleicht kann ich sie auf Ostern verschieben. Es wird ein ruhiges Fest, abgesehen von dem visuellen Sondermüll, der durch die Fußgängerzonen der Städte rauscht, sowie den akustischen Traumata, die sich langsam aber sicher einstellen, wenn man sich unvorsichtigerweise in ein Auto setzt, das mit einem Radio ausgestattet ist, das sich zum Empfang von Dudelfunk eignet. Ich lasse mich inzwischen gleich an der Notfallambulanz absetzen und dort von einer beflissenen Schwester die Gehörgänge mit warmem Schmalz ausgießen. Es soll die Lebenserwartung deutlich verlängern.

Um alles das angemessen zu begehen, werde ich auch in diesem Jahr kurz innehalten und mich auf die wesentlichen Dinge besinnen. Am Donnerstag, den 2. Januar 2014, geht es dann weiter. Ich schätze, ich werde auch dann nicht Bundeskanzler sein.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee