Gernulf Olzheimer kommentiert (CXCIII): Der Anspruch der Eliten

26 04 2013
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Ein Gespenst geht um in Europa, vielmehr: es überholt auf der rechten Spur, hält den Mittelfinger aus dem Fenster und betrachtet die Straßen als sein Eigentum. Wehe, ein anderer wagte es, bei Rot zu bremsen. Wie der Henker führe der Lenker drein, fuchsteufelswild, unbelehrbar, da nicht weiter an der Realität interessiert. Die Welt gehört ihnen, den selbst ernannten Eliten, aber sie können nicht einmal damit umgehen.

Kein Tag vergeht, ohne dass das Geheul der angeblichen Oberschicht durch die blühenden Landschaften zetert. Ihre Wehleidigkeit, sich nicht an die Spielregeln halten zu wollen, auch wenn sie sie selbst geschrieben haben sollten, ist ein peinlicher Auswuchs der Ichlingspest. Jäh greint es durch Wald und Flur, das rumpelstilzt sich einen, da sie sich stärker an den Kosten der Allgemeinheit zu beteiligen haben – wer denn sonst, möchte man fragen, etwa die Obdachlosen? die Niedriglöhner und die Erwerbsunfähigen? Sie leben nicht von der Sahne, ohne den Pöbel zu beschimpfen, der ihnen den Kuchen nicht schenken will.

Die blühende Landschaft ist für sie wie ein Selbstbedienungsladen, mehr noch: ein Paradies für Ladendiebe und Zechpreller. Sie, die gleicher sein wollen als die anderen, fordern Vorzugsbehandlung, weil sie wie andere sein wollen. Sie benutzen Stadtgrün und Zebrastreifen, erwarten von der Polizei, dass sie den Verkehr regelt, bei Einbruch und zerkratzten Kotflügeln ermittelt, sie erwarten, dass der Richter für sie den Dieb verknackt und der Justizvollzug ihn einsperrt. Sollte es brennen, warten sie auf die zu diesem Behufe vorgesehene Feuerwehr. Bei der alljährlichen Flutkatastrophe halten sie das Eingreifen von Zivilschutz und Bundeswehr für eine Selbstverständlichkeit. Sie wünschen Papierkörbe im Weichbild und Kunst am Bau, Straßenbeleuchtung, Kanalisation und Parkuhren, Gewerbeförderung und Denkmalschutz. Wenn nicht, dann beschweren sie sich, dass der Staat für alles Geld schmeißt, nur nicht in ihre Richtung. Wobei sie sich auch beschweren würden, wenn er das Geld schmisse. Oder in ihre Richtung, aber nicht genug. Sie würden, tönt’s aus der zufälligen Zusammenrottung am oberen Ende der Vermögensverteilung, mit Pech und Fackeln aus dem Land getrieben. Was für ein elender Hirnplüsch, der ihnen aus der Rübe rattert.

Denn der Anspruch der sogenannten Eliten ist es eben nicht, diesen angeblich unwirtlichen Staat zu verlassen und sich in irgendeiner von Wirbelsturm und Erdbeben, Militärdiktatur und Malaria bedrohten Operettenrepublik mit quietschbunten Cocktails unter die Palme zu pflanzen, sie hieven nur ihre Kohle über den Äquator und schätzen ansonsten eher den Nieselregen der norddeutschen Niederung sowie dessen optisches Pendant, die Halsfalten der Kanzlerin.

Klassischerweise sind es eben die Eliten, die im Vollbewusstsein ihrer Deutungshoheit das unterste Dezil als Schmarotzer abtut, gesellschaftlich nicht integrierbare Randfiguren, die jede geregelte Arbeit kategorisch ablehnen, den Staat und seine Organe zutiefst ablehnend, gleichwohl sie ohne ihn vollkommen aufgeschmissen wären, da sie allein von seiner Gnade abhängig sind, um ihr Leben zu fristen. Womit sich die Vermögenden hinreichend selbst beschrieben haben dürften.

Denn sie sind nicht nur von der Feuerwehr und den Wasserwerken abhängig, sie müssen darauf vertrauen, dass die Großwetterlage stabil bleibt, ohne Erschießungskommandos, Weltrevolutionen, Sozialismus und, horribile dictu, Steuererhöhungen. Sie müssen darauf vertrauen, dass der Staat den gesellschaftlich überflüssigen Reichen nicht die Knute überzieht, dass er Eigentum schützt und ihr Lebensmodell nicht als illegal bezeichnet. Sie müssen darauf vertrauen, dass sich die Gesellschaft aus lauter Liberalität eine Schicht leistet, die netto Verluste einfährt und nicht fähig ist, dies zu ändern.

Möglicherweise haben sie selbst schon vom Hauslehrer auf dem Stammsitz des Geschlechts ihr Schulwissen unter die Kalotte geschwiemelt bekommen, möglicherweise popeln sie auf privaten Internaten ihren Nachgeburten ihre verquere Ideologie ins Hirn, doch wenigstens mittelbar sind sie ohne das öffentliche Bildungswesen komplett aufgeschmissen. Ohne Regel- und Hochschulen hätten sie weder Rechtsanwälte noch Schönheitschirurgen, die sie vor der Wirklichkeit in Schutz nehmen, von Steuerberatern noch zu schweigen. Sie hätten keine staatlich geplante und gebaute Bundesautobahn, um die Karre vollstoff über den Asphalt zu jagen. Sie hätten nicht einmal den staatlich subventionierten Billigstrom aus Kernreaktoren, um den Großbildfernseher und die elektronisch gesteuerte Haustechnik zu betreiben. Vermutlich würden sie an der roten Ampel gleich mal übergemangelt, höchstwahrscheinlich, weil keiner sehen würde, dass sie rot ist – ist sie auch gar nicht, sie fehlt ja gleich ganz, und der Notarzt, der die Reste des Sozialopfers in einen Eimer schmeißt und ins Universitätsklinikum karrt, ist auch gleich mit ausgewandert. Das Leben ist bekanntlich hart, ungerecht, teuer, und am Ende geht man tot.

Man sollte denen, die ihre Steuern nicht fürs Gemeinwohl blechen wollen, ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen und sie unter Androhung von Materialkaltverformung im Gesichtsschädelbereich über die Grenze verfrachten. Endlich sind sie des Jammertals ledig, ihr Kapital haben sie immer bei sich, was kann’s schöner geben? Sie werden jäh bemerken, dass sie, da unter ihresgleichen, mit erhöhter Gesindeldichte zu rechnen haben. Wir werden es verschmerzen. Nur keine Neiddebatte.





Corriger la Fortune

16 11 2010

„Dreiunddreißig, die Nummer dreiunddreißig bitte!“ Wie die Stimme des Losbudenverkäufers schnarrte Klöppwitz in sein Mikrofon. Ein verschüchterter älterer Mann mit Schirmmütze und schütterem Schnäuzer meldete sich. „Hier“, stotterte er, „bitte sehr, die Nummer da, hier.“ Klöppwitz sah kurz auf die Losliste und hakte sie ab. „Dann haben wir hier einmal die Stufe drei mit Verlängerung. Herr Schrettler?“ Der Alte schluckte aufgeregt. „Bitte, ja. Schrettler, bitte sehr, hier.“

Doch der Amtmann schien gar nicht mehr zu hören, er war in Fahrt und schnurrte mit Schmiss in der Stimme den Verwaltungsakt herunter. „Ergeht folgender Beschluss: die monatlichen Einkünfte belaufen sich auf sechshunderttausend Euro netto, zuzüglich Jahresprämie in Höhe von zweieinhalb Millionen Euro, für die Dauer von drei Jahren, keine Überprüfung in der Zwischenzeit, sofortiger Vollzug. Gegen diese Entscheidung kann Widerspruch…“ „Sechsmal Tausend, ich meine, Hundert, das ist doch, bitte!“ Schrettler keuchte. „Sie müssen sich irren, Herr!“ Aufgeregt wedelte er den Kontrollzettel durch die Luft. „Sie müssen doch wissen, ich war Karosseriebauer, hier…“ Er senkte die Stimme und den Blick. „Gekündigt nach dreißig Jahren.“ Klöppwitz lachte. „Jetzt trinken Sie erst mal einen Schnaps auf den Schreck, und dann bringen Sie Ihrer Frau einen Blumenstrauß mit, ja?“

Ich fuhr mit dem Bleistift die Liste entlang. „Die Gerechtigkeit meint es manchmal gut mit den Leuten, nicht wahr?“ Klöppwitz nickte. „Das ist auch der Sinn der Sache: soziale Gerechtigkeit muss gerecht sein und nicht nur die Gesellschaft als abstrakten Apparat stützen.“ Er zog eine Rolle Pfefferminz aus der Schreibtischschublade. Ich nickte ihm zum Dank zu und nahm ein Bonbon. „Aber Sie werden sehen, dass es nicht immer so leicht geht.“ Klöppwitz setzte eine ernste Miene auf und griff zum Mikrofon. „Vierunddreißig, bitte!“

Der fettige Mann in dem leicht angestoßenen Nadelstreif löste körperlichen Ekel aus, wie er so breitbeinig an den Tresen trabte. „Schobert, Stufe vier.“ „Jetzt sieh zu“, pfiff der Arrogante ihn an. „Ich verplempere hier nicht die Zeit mit einem kleinen, kündbaren Weichei!“ „Siebzehntausend Euro im Monat, dazu elftausend an Beteiligungen, Kapital beläuft sich auf…“ „Das weiß ich ja wohl besser, Du Nachteule!“ Schobert schnappte den Zettel und stob ohne einen Gruß heraus. Klöppwitz blickte mich an. Er musste tief durchatmen.

„Wir hatten das ja anders geplant“, erzählte er in der Pause. „Eigentlich sollte es nur für mehr Transparenz sorgen: jeder Steuerzahler sollte wissen, wohn seine hart erarbeitete Kohle geht. Bis jetzt wird Ihnen die Kohle einfach abgenommen, und dann dürfen Sie sich freuen, wenn Politiker irgendwelche Bahnhöfe verbuddeln wollen oder Atomsuppe quer durch Deutschland rollen lassen. Das kippt in eine Umverteilungsmaschinerie. Sie wissen gar nicht, was damit getan wird.“ „Diese Formulare habe ich in Erinnerung.“ Tatsächlich war mit das Braungrau immer als besonders üble Farbe erschienen. „Nur hätte man den angekündigten zweiten Schritt der Transparenz tun sollen: die Bürger fragen, ob sie mit dieser oder jener Ausgabe auch einverstanden sind.“

„Sechshundert Euro, dazu die anteiligen Kosten an der Kaltmiete. Ihre Tochter hat sich noch nicht gemeldet, Frau Diehler. Sie wissen, dass Sie als einzelne Personen an der Lotterie teilnehmen und nicht als Bedarfsgemeinschaft?“ Die Frau nickte stumm, faltete den Zettel und griff nach ihrem Einkaufsbeutel. „Es ist diese Lethargie“, seufzte Klöppwitz. „Sie können mit den Leuten machen, was Sie wollen, die mucken nicht einmal mehr auf, wenn Sie ihnen alles nehmen, was ihnen zusteht, und sie dann rausschmeißen. Ein ganzes Volk duckt sich weg. Und nur auf denen trampelt man herum, die sich nicht mehr wehren können.“ „Es ist die alte Taktik, das Volk zu teilen, um es zu beherrschen.“ Er wiegte den Kopf. „Mag sein, mag nicht sein. Aber haben Sie schon einmal auf die Reaktionen geachtet und bemerkt, was man den Ärmsten in dieser Gesellschaft vorwirft? Einkommen ohne jede Bereitschaft zur Arbeit, keine erkennbare Neigung, das System durch Eigeninitiative zu verändern, Abkoppelung aus den Sicherungsmechanismen wie Sozialversicherung oder Krankenversicherung. Die Mittelschicht lässt sich leicht zu dieser Haltung bringen, das erfordert nicht besonders viel. Aber wissen Sie, was das heißt? Sie unterstellen den Armen alles, was sie auch der selbst ernannten Elite ankreiden. Sie lassen ihren Zorn auf die Täter an den Opfern aus. Eine Neiddebatte, die man mit den Herrschenden nie zu führen wagte.“ Wieder griff ich zu den Pfefferminzdrops. „Das mag sein. Aber was führt Sie zu diesem Schluss?“ „Noch im Angesicht dieser Bundesbehörde sind die Reichen von der Gier gesteuert“, versetzte Klöppwitz. „Wir sorgen auch dafür, dass diejenigen, die bisher die Armen als Schmarotzer und Parasiten bezeichnet haben, in kürzester Zeit kuriert waren. Wir haben die jeweilige Arbeit von der Entlohnung entkoppelt. Ein guter Schritt in Richtung Grundeinkommen. Und so stellen wir fest: manchen geht es um die Arbeit – manchen geht es ums Geld.“

„Sie müssen diesem Ekelpaket siebzehntausend Euro auszahlen“, sagte ich gedankenverloren und glitt weiter die Liste hinab. Klöppwitz grinste. „Zwei Wochen, danach pfänden wir sein Vermögen und hetzen ihm die Steuerfahndung auf den Hals, und dann kriegt er fünf Jahre Hartz IV mit Ein-Euro-Jobs. Vergessen Sie nicht, der Mann war mal Investmentbanker.“





Lob der Faulheit

9 11 2010

Knöllges schloss die Augen. Diskret hatte die Schwester die Teetassen wieder gefüllt und war zum Admiral gegangen. (Wir nannten ihn den Admiral, weil er einen blauen, uniformähnlichen Gehrock trug, über und über mit goldenen Knöpfen versehen, in dem er sich herrschaftlich vorkam und entsprechend bewundert werden wollte; wir taten ihm indes diesen Gefallen nicht.) Ich schlürfte von dem siedend heißen Gebräu. Im Kamin knisterte ein behagliches Feuer. Der Ausblick auf die sanft ansteigenden Hügel, bedeckt mit Rasen und Heide, beruhigte das Gemüt und machte angenehm schläfrig. Die Sonne sank. Alles war gut. „So lassen wir uns die Arbeit gefallen“, kicherte Knöllges, „nicht wahr, mein Lieber?“

Am anderen Ende des Ruhesaals lag eine Dame auf der Récamière. „Das Sanatorium ist für seine gute Luft bekannt“, schwärmte Knöllges. „Glauben Sie mir, Sie werden sich wie neu geboren fühlen.“ Ich teilte ihm mit, dass ich keine ganze Woche bliebe, sondern nur noch ein paar Stunden bis zum Abend. „Sie wollen wieder zurück? Wie schade!“ „Nun“, lächelte ich, „auch auf Sie wartet nächste Woche der Vorstand. Die kommende Saison will besprochen sein, und dann die Quartalszahlen, und es muss geklärt sein, wer der Nachfolger von Dr. Castellani wird.“ Er öffnete die Augen und seufzte. „Diese verfluchte Gartenzwergfabrik. Ich bekomme kaum noch Büroschlaf.“ Er nippte am Tee. „Wollten Sie sich nicht längst zurückgezogen haben?“ Knöllges nickte. „Ja, aber ich wollte vorher noch die ganze Firma umkrempeln. Und ich denke, es sollte gelingen. Ich werde die Arbeit abschaffen.“

Er hatte sich das Kissen in den Rücken gestopft und saß nun aufrecht, die Teetasse auf dem Schoß. „Sie wollen die Leute entlassen und nur noch am Aktienmarkt spekulieren, stimmt’s?“ Konsterniert blickte Knöllges mich an. „Wie kommen Sie denn darauf? Eine Welt ohne Gartenzwerge, das ist doch nicht vorstellbar!“ „Was wollen Sie denn machen? Den Angestellten Ihre Firma schenken?“ „Aber nein“, begehrte er auf. „Ich schaffe ganz einfach die Arbeit ab. Und dann werden wir noch besser.“

Die Schwester goss Tee nach. Knöllges saß nun ganz aufrecht. „Ich dachte es mir so: man sperrt die Leute acht Stunden am Tag ein, gibt ihnen ein festes Gehalt, damit sie nicht davonlaufen, und dann erwartet man von ihnen, dass sie erfinderisch und innovativ sind.“ „Sie meinen“, hakte ich ein, „man könne die Arbeit ganz abkoppeln von dem Geld, das man dafür bekommt? Ein bedingungsloses Grundeinkommen in Ihrem Unternehmen?“ Er schob sich lächelnd die Brille zurecht. „Sie haben mich verstanden. Ein Grundeinkommen ohne die ständige Sanktionsmöglichkeit, weil man die nachlässig oder fahrlässig formulierten Ziele des Unternehmens nicht erreicht hat oder sogar nicht erreichen konnte.“ „Sie haben ja ziemlich viel vor.“ Knöllges schmunzelte. „Sicher, aber die Steinzeit gibt mir Recht.“

Der Admiral hatte sich schwerfällig erhoben und bat die Aufwärterin um ein weiteres Kissen für den Korbstuhl. Ich rührte in meiner Tasse. „Sie müssen sich die anthropologischen Konstanten vor Augen halten“, begann Knöllges. „Wir sind uns ja alle letztlich ähnlich: wir wollen uns entwickeln. Jeder von uns hat Ehrgeiz – zumindest die meisten von uns.“ „Also diejenigen, die weiterhin arbeiten, wenn man ihnen das Gehalt auch ohne Arbeit zahlen würde?“ „Nicht ganz“, berichtigte er mich, „ich meine die, denen eine Loslösung dieser beiden Größen voneinander eine Verbesserung brächte. Es sind die, die ohne den Zwang zur Arbeit erst richtig kreativ werden. Stellen Sie sich das vor, neuer Schwung auf dem Gartenzwerg-Sektor!“ Begeistert klatschte er in die Hände. Die Dame auf der Récamière zuckte zusammen. „Und doch“, wandte ich ein, „sind Sie ein Gegenbeispiel. Seitdem ich Sie kenne, ziehen Sie sich alle sechs Wochen von der Welt zurück und kommen hierher.“ „Jawohl!“ Knöllges strahlte geradezu. „Ein Lob der Faulheit, denn nur in der Muße kann ich arbeiten – dann, wenn ich nicht arbeiten muss.“

Vorsichtig stellte ich die Tasse ab. „Ist denn der Mensch nicht faul in seiner ganzen Natur?“ „Sicher nicht“, gab Knöllges zurück. „Denken Sie an die Steinzeit. Unsere Vorfahren hatten es schwer, sie mussten mit Wind und Wetter fertig werden, mit der unsicheren Ernährungslage, mit den wilden Tieren. Um sich zu behaupten, mussten sie Pfeilspitzen und Messer erfinden, Nadel, Ahle und Säge, Mahlstein und Feuerzeug. Die technischen Errungenschaften haben ihn immer weiter gebracht, bis in die Gegenwart.“ „Sie mussten das Beste aus ihrem Leben machen. Hätten sie nicht die Nadel erfunden, sie wären alle erfroren, weil sie nur unzureichende Kleider gehabt hätten. Sie gehorchten der Not und nutzten den Verstand, der den Menschen vom Tier unterscheidet.“ „Der den Menschen vom Tier unterscheidet“, stimmte Knöllges zu, „richtig. Aber warum dann Muschelketten? Wozu haben sie aus Knochen Flöten gefertigt und aus hohlen Bäumen die ersten Schlaginstrumente? Warum haben sie die Höhlen geschmückt mit kunstvollen Malereien?“ Ich zuckte die Schultern. „Sie waren Menschen wie wir.“ Das, gab ich zu, hätte ich auch gar nicht bezweifelt. „Oh doch“, lachte Knöllges. „Sie sind wie ein konservativer Politiker, der sich selbst eine Menge Vorteile herausnimmt und den Armen eine kategorische Arbeitspflicht auferlegt, weil er es für brandgefährlich hält, wenn Menschen die Chance auf Faulheit haben.“ „Haben wir das denn? Müssen wir nicht alle unseren Beitrag in dieser Gesellschaft leisten?“ Knöllges lächelt noch immer. „Faulheit, das ist nichts anderes als Zeit, die nicht primär ökonomischen Mehrwert schafft. Ob Sie dabei in der Sonne liegen oder für Ihren gehbehinderten Nachbarn einkaufen, das spielt keine Rolle.“ Ich schwieg. Er hatte Recht.

„Es ist immer dasselbe“, seufzte die Schwester. „Jetzt wird er sich wieder eine Zigarre anzünden wollen, die er hereingeschmuggelt hat, obwohl er ganz genau weiß, dass er hier nicht rauchen darf. Dann gibt es eine Diskussion, wir holen Fräulein Ingelore, dann grummelt der Admiral ein bisschen, und dann ist er wieder lieb. Alle drei Stunden. Sie können die Uhr danach stellen.“ „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, gluckste Knöllges, „vor allem, was die schlechten betrifft. Aber wie gesagt, es ist nicht die Faulheit, die den Menschen auszeichnet. Wir müssen sie nur mehr pflegen.“ Ich legte ein Stück Kandis nach. „Nehmen wir einmal an, es wäre doch so, wie die Kritiker behaupteten. Nehmen wir einmal an, der Mensch wäre an sich faul und nicht…“ „Es ist doch interessant“, fiel er mir ins Wort, und seine Stimme hatte einen harten, fast metallischen Klang angenommen, „dass das immer nur von den Eliten so behauptet wird – sie werfen den anderen eine Tiernatur vor, während sie für sich selbst die Vernunft des Aufgeklärten in Anspruch nehmen. Daraus resultiert ja auch die Ontologie der Arbeit, die man als Strafe betrachtet, als Druckmittel. Nur sie selbst, sie stehen in einem anderen Diskurs, der ihnen erlaubt, Arbeit als eine befriedigende Tätigkeit zu sehen.“ „Gut, soll alles sein.“ So leicht wollte ich ihn nicht auslassen. „Was aber, wenn der Mensch in Wirklichkeit doch faul wäre? Wenn es nun Acedia, die Trägheit des katholischen Herzens nicht wäre, sondern die protestantische Tugendethik, die uns anleitet? Wenn Kant nicht Recht hätte, dass das Phlegma uns davon abhielte, eine ungewollte und schädliche Arbeit zu tun oder gar das Böse?“ Knöllges ließ sich wieder behaglich in sein Kissen zurücksinken. „Dann müsste dieser Grad der Zivilisation einer kleinen Schar von Mutanten geschuldet sein, die sich gegen eine große Mehrheit normaler Menschen mit faulen Genen durchgesetzt haben.“

Die Dame hatte sich Tee bestellt. Knöllges zog die Decke hoch und klemmte sie unter die Beine. „Schön, dass Sie den Sonntag hier verbringen. Von Zeit zu Zeit muss man das machen. Es entspricht ja auch eher dem jüdisch-christlichen Menschenbild.“





Der Nächste, bitte!

29 03 2010

„Und der Nächste, bitte!“ Während ich an Keudells Schreibtisch Platz nahm, ordnete der Beamte noch akkurat seine Papiere und spitzte seinen Bleistift hingebungsvoll im kurbelbetriebenen Apparat nach. „Holen Sie schon mal Ihren Antrag raus“, sprach er geistesabwesend, „dann kann ich gleich sehen, ob ich Ihre Bewilligung gleich heute weitergebe oder ob Sie vorher noch…“ Ich überlegte, ob ich ihn unterbrechen sollte, aber da hatte er seinen Irrtum auch schon selbst bemerkt. „Bitte vielmals um Entschuldigung! Es ist aber auch ein Betrieb hier – rein zu toll, sage ich Ihnen, rein zu toll. Aber so ist das eben, sie wollen alle nicht arbeiten, keiner von denen will arbeiten. Wenn die mit der Energie, mit der sie sich vor der Arbeit drücken, die Ärmel hochkrempeln und anpacken würden, ich sag’s Ihnen, Deutschland wäre ein Paradies! So sind sie, was soll man machen.“ Er seufzte tief. „Wir können uns die Politiker nun mal nicht aussuchen.“

Die Liste war umfangreich, unlogisch aufgebaut und zu allem Überfluss auch noch von Doubletten gespickt, kurz: ganz genau das, was man von einem Bundesministerium erwartete. „Warum machen Sie sich eigentlich diesen Umstand? Das hat es doch früher auch nicht gegeben.“ Wieder stöhnte Keudell und faltete die Hände. „Der Kündigungsschutz wird gerade wieder einmal gestrafft, das heißt: das, was davon übrig geblieben ist.“ „Kündigungsschutz? Gibt es den noch?“ Er nickte. „Die so genannte Deregulierung ist das neue Zauberwort.“ „Davon hatte ich auch schon gehört“, bestätigte ich, „sie macht wettbewerbsfähig und schafft sofort neue Arbeitsplätze und ist ein großer Anreiz für Investitionen…“ „… und führt dazu, dass dieselben Idioten sich immer wieder neu auf irgendwelche Jobs bewerben, von denen sie keine Ahnung haben. Der Albtraum aller Personalchefs.“ „Immerhin müssen Sie zugeben, dass man wesentlich schneller Leute wieder einstellt, wenn man weiß, dass man sie bei schlechterer Auftragslage auch wieder entlassen kann.“ Keudell schüttelte den Kopf. „Falsch. Blödsinnig und falsch. Man entlässt nicht jemanden, mit dessen Arbeitsleistung man zufrieden ist, weil man fürchtet, dass eine gute Arbeitskraft bei der Konkurrenz unterkommen könnte. Man entlässt Niedriglöhner, weil man weiß, dass man dieselben Leute auf den alten Arbeitsplatz setzen kann, und zwar für einen Euro in der Stunde, den man noch nicht einmal selbst zu berappen braucht. Und wenn man Auftragsspitzen abarbeiten muss, gibt es Leiharbeiter. Erzählen Sie mir keine Märchen.“ „So hat es aber das Arbeitsministerium gesagt“, begehrte ich auf. Keudell fletschte die Zähne. „Eben“, knurrte er, „genau darum.“

Er griff in den großen Stapel hinein und zog treffsicher ein Blatt Papier hervor. „Es gibt sowieso nur noch befristete Verträge, und dann soll es auch noch möglich sein, die Kräfte ohne jeden Grund vor die Tür zu setzen.“ „Das ist ja heute schon fast der Normalfall“, bestätigte ich, „die Hälfte der neu geschlossenen Arbeitsverträge sind inzwischen befristet.“ „Mit dem Ergebnis, dass es den Arbeitnehmern auch völlig egal ist, wo ihre Firma steht – rausgeworfen werden sie sowieso, arbeitslos werden sie ohnehin irgendwann, es ist nur eine Frage der Zeit, also wozu noch Engagement für die Wirtschaft?“ Keudell raufte sich die dünnen Haare. Ich legte tröstend die Hand auf seinen Arm. „So schlimm wird’s doch nun auch wieder nicht sein.“ Er ächzte. „Sie machen sich ja gar kein Bild, was da auf uns zukommt. Auf die ganze Gesellschaft.“

Die Akte auf seinem Schreibtisch war der Vorgang von Franz Josef Jung. „Typisch – wieder so eine lückenhafte Erwerbsbiografie. Hier mal ein bisschen als Verteidigungsminister gejobbt, da hat’s von der Qualifikation her nicht so ganz gereicht, dann als Arbeitsminister, und jetzt darf er nur noch die Aushilfstätigkeiten machen. Das kann doch nicht gut gehen! Am Ende haben wir wieder diese Löcher in der Rentenversicherung und die Politiker kommen bei uns an, weil ihre Grundsicherung nur knapp oberhalb der Armutsgrenze liegt.“ Er riss den Zettel mit einem Knall zur Seite und schlug den nächsten Vorgang auf. „Oder hier, Ursula von der Leyen. Die hat uns das ganze Trauerspiel überhaupt erst eingebrockt!“ „Sie meinen, weil sie das mit den befristeten Arbeitsverträgen so im Koalitionsvertrag haben wollte?“ „Koalition, Schmoalition“, grantelte Keudell, „sie hält es auf keiner Position aus. Und sie sucht sich immer das aus, wo sie irgendwas mit Kindern machen kann, was dann aber nichts mit Kindern zu tun haben darf und den Kindern auch nichts bringt.“ „Dafür ist ihre Stelle aber auch schnell wieder frei, wenn Sie sie loswerden wollen. Betrachten Sie es positiv: das macht Platz für neue Investitionen.“ Er murrte noch immer. „Und dann die mangelnde Motivation für die Lebensplanung! Wenn Sie die heute als Arbeitsministerin einstellen, dann wissen Sie doch nicht, was sie bis morgen alles wieder kaputtgekriegt hat!“

Noch einmal blätterte Keudell um. „Niebel?“ Er nickte. „Schwieriger Fall, er hat ja nicht nur ein Problem mit der Arbeit, er hat ja auch eins mit der Arbeitsvermittlung.“ „Vermutlich weiß er, dass das alles nichts bringt“, mutmaßte ich. „Das wollen wir schon schaukeln“, wiegelte der Amtmann ab. „Schließlich sind wir der FDP auch zu großem Dank verpflichtet.“ Ich begriff nicht. Keudell schmunzelte. „Sie verhalten sich antizyklisch. Sie sind derart versessen darauf, freie Stellen mit Pensionsanspruch zu besetzen, dass ihnen die Aspiranten für die Stellen ausgehen. Ein enormer Vorteil, wenn Sie mich fragen. Sie haben eine einigermaßen gesicherte Altersvorsorge, und ich kann diese Pappmascheefiguren abhaken. Zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Keudell schmunzelte noch immer und schlug schon wieder um. „Auswärtiges – na, mal sehen. Ging ja plötzlich. Da wollen wir mal sehen, wer den Posten jetzt noch haben will.“ Und er vertiefte sich wieder in seinen Bleistiftspitzer. „Der Nächste, bitte!“





Schlossallee

8 10 2009

Ich fand Siebels hinten im Transporter, den man zu einem Regiewagen umgebaut hatte. Er reichte mir einen Kopfhörer und einen Becher Kaffee. Ich zog den Kopf ein und krabbelte auf den Sitz neben ihm. „Unsere Begleiterin, Frau Bornekamp-Wienstroth, Sie haben sich sicher bei der Vorbesprechung kennen gelernt.“ Auf dem Monitor verfolgte ich, wie die junge Sozialpädagogin durch die Gänge einer Einkaufspassage irrte. Ein Kamerateam begleitete sie und ihren Schützling unauffällig.

„Und jetzt Halbtotale“, befahl der TV-Macher. Die Kamera zoomte heran und ich sah, wie ein junger Mann in abgetragener Jeansjacke aus dem Geschäft kam. Was Marcel Möhrlich – die eingesuperte Bauchbinde teilte mir nicht nur seinen Namen mit, sondern auch die Tatsache, dass er Investmentbanker war – nicht bemerkte, waren die Verkäuferinnen, die ihn argwöhnisch, aber sehr dezent bis knapp vor die Ladentür begleitet hatten. Bornekamp-Wienstroth nahm ihn in Empfang. „Was meinen Sie“, schnöselte der Kohlearbeiter, „kleines Schampüsschen? Ich lade Sie ein. Sollen ja auch nicht leben wie eine Beamtin.“ „Ich dachte, Sie setzen hier Manager und Anwälte und Bänker auf Hartz IV?“ „Genau das“, bestätigte Siebels, „sie bekommen den Regelsatz und sollen sehen, wie sie fertig werden.“ Möhrlich ließ an der Fressgasse die Korken knallen. Die Bedienung blickte etwas pikiert, servierte aber anstandslos zwei Gläser Schaumwein. Nur das übrige Publikum, Anzüge in der Mittagspause, drehte sich angewidert um. „Und wie bezahlt dieser Schmierlappen Champagner von seinem Regelsatz?“ „Das ist nicht mein Problem“, kicherte der Regisseur, „er hätte eben besser aufpassen müssen. Wir haben ihm gesagt, dass er mit dem Geld einen ganzen Monat lang überleben soll. Wenn er es in einer Stunde verprasst, hat er halt Pech gehabt.“

Das zweite Team fing eben den CEO eines Großhandelskonzerns ein, der sich der nächsten Pflichtaufgabe stellen musste. Er sollte den Wocheneinkauf für eine dreiköpfige Familie erledigen. Geduldig nahm ihm der Coach Pfifferlinge und tiefgekühlte Wachtelbrüstchen wieder aus dem Wagen. „Und das soll zeigen, dass diese Großverdiener kein Verhältnis mehr zum Preisgefüge haben?“ „Das soll zeigen, dass sie die Bodenhaftung verloren haben“, replizierte Siebels trocken. „Ein Kilo Pfifferlinge für drei Personen – er wird die Hälfte wegwerfen müssen, und diese Standpauke wird ihm die Hauswirtschaftslehrerin am Ausgang halten.“

Inzwischen hatte Möhrlich die Blicke um ihn und auf ihn bemerkt. Er wollte den letzten Rest des Regelsatzes in ein italienisches Edeljackett anlegen. Bornekamp-Wienstroth seufzte. Sie erklärte ihm nochmals die Spielregeln, aber der Geldverbrater hörte ihr einfach nicht zu. „Sie meinen also, das sei besonders einfallsreich?“ Siebels stutzte. „Warum denn nicht? Wir haben selten ein derart simples Format produziert. Es ist derart durchsichtig, dass man sich schon fast schämen muss. Jeder kapiert es. Nun ja, fast jeder. Die Hauptdarsteller nicht.“ „Sie schleppen Banker und Manager“, sagte ich, „die sich sonst mit einem 500-Euro Schein den Hintern abwischen, für einen Tag lang in die Welt eines sozial Benachteiligten, und machen ihn damit zum Gespött, weil solche Leute die Bodenhaftung verloren haben. Was, Siebels, ist daran neu?“ „Dass diese Typen das Geld ausgeben, als wenn es nachwüchse, das erwartet der Zuschauer ohnehin“, antwortete er, „das haben wir noch nicht einmal berücksichtigt. Es trägt die Storyline ein bisschen weiter, aber erheblich ist es nicht. Viel wichtiger ist der Umstand, wie sie es tun. Sie bekommen das Geld anderer Menschen in die Finger und verjuxen es sofort. Sie schmeißen es einfach weg. Es ist ein Spiel, verstehen Sie?“ Ich sah ihn bitter an. „Um das herauszufinden, müssen Sie diese Sendung produzieren? Das hätte ich Ihnen vorher sagen können.“ „Schauen Sie, es geht auf.“

In der Tat hatte Möhrlich einfach weiter in der Luxusboutique herumgesucht und allerlei an die Kasse mitgenommen, Schuhe, eine Seidenkrawatte, einen Schlangenledergürtel, Manschettenknöpfe, einen Mantel, einen sandfarbenen Kaschmirschal. Er ließ die irritierte Verkäuferin alles abziehen und verwies dann auf die Sozialkindergärtnerin. Doch die weigerte sich einfach. „Sehen Sie genau zu. Er wird aggressiv. Es ist ein Spiel, aber er hat die Regeln nicht begriffen. Und jetzt will er sie nach seinen Vorstellungen ändern.“ „Siebels, Sie wissen so gut wie ich, dass das ganze Experiment in ein paar Minuten vorbei ist. Er hat die Kohle verprasst und sich ein bisschen blamiert, aber das wär’s für ihn dann auch gewesen. Wo bleibt die Moral?“

Er lehnte sich zurück und betrachtete ganz genüsslich, wie Bornekamp-Wienstroth den sauren Geldhai aus dem Laden führte. „Der pädagogische Effekt setzt ein, wenn man die Geschichte vom Ende her betrachtet.“ „Sie meinen, der Zuschauer würde erst jetzt…“ „Ach was“, unterbrach er mich, „was hat denn der Zuschauer damit zu tun?“ Die Sozialnanny zog ein Papier aus der Tasche und gab es Möhrlich. Der lachte und versuchte einen Witz. Dann erstarb sein schmieriges Grinsen. Er zitterte. Schließlich brach er in Tränen aus. „Was hat das zu bedeuten?“ „Der pädagogische Effekt, wie ich Ihnen bereits sagte. Hier sehen Sie ihn.“ „Das war nicht das Ende?“ „Wie man’s nimmt“, lächelte Siebels und gab dem Kameramann ein Zeichen, „wie man’s nimmt. Er hat soeben seine fristlose Kündigung bekommen.“





Vertrauen gegen Vertrauen

5 03 2009

Zwei Pfandbons. Nur 1,30 Euro hatten die ganze Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt. Dass so was von so was käme, sagten die einen. Die anderen sagten das auch, meinten es aber ein bisschen anders.

Die nationale Vertrauenskrise drohte. Denn uneingeschränktes Vertrauen sei einer Supermarkt-Kette nicht mehr zuzumuten, wenn der Verdacht bestünde, dass es sich bei der Verdächtigung um einen Verdacht handelte; dies sah das Gericht als erwiesen an, und um mehr ginge es auch nicht, ließ es verlauten. Eine strafrechtliche Würdigung wäre ohnedies nicht zu erwarten, da der Streitwert zu vernachlässigen sei angesichts des 30-jährigen Arbeitsverhältnisses.

So begann die öffentliche Debatte zunächst auch durchaus moderat in justizinternen Kreisen. Nach einem Essay, den Franz Josef Wagner, das moralische Gewissen der Bundesrepublik, publiziert hatte, wurde allerdings die Frage laut, ob dies einen im Rechtsdenken nicht erlaubten Analogieschluss darstelle. Die Juristen verwahrten sich: die Formel Wer lügt, stiehlt auch sei in keiner Sache zum Tragen gekommen. Im Gegenteil sei erwiesen, dass, wer zwar nicht gelogen habe, doch verdächtig sei, des Stehlens verdächtigt werden zu können.

Der neue Straftatbestand wurde demnach als Vertrauensbruch bezeichnet. Nach allgemeiner Lehre war der Versuch dann gegeben, wenn die Vornahme des Vertrauensbruchs unmittelbar einseitig angesetzt wurde. Einen Aspekt der Strafrechtslehre beleuchtete der international bekannte Jurist Franz Josef Wagner mit seiner Arbeit über die moralische Würdigung des Betruges. Sie sei nicht gegeben, gleich doppelt nicht, wenn ein Betrug gar nicht nachgewiesen werden könne.

Keine drei Tage später schwoll die Diskussion an. Der Auslöser waren Ermittlungen gegen zahlreiche Banken, darunter auch Landesbanken, deren Management vorgeworfen wurde, Gelder veruntreut zu haben. Ein zähes Ringen begann. Der verhältnismäßig hohe Streitwert ließ strafrechtliche Schritte erwarten – arbeitsrechtliche Konsequenzen stellte die Rechtsprechung ins Ermessen der Bankvorstände, denen aus bisher nicht geklärten Umständen Beweisstücke für einen Verdacht wegen Vertrauensbruchs abhanden kamen. Ein weiterer Schritt zu Ordnung und Frieden im gesunden Rechtsempfinden war damit unternommen.

Natürlich waren die linkspopulistischen Kräfte nicht zufrieden und strengten eine Untersuchung der Tatumstände an. Der Streitwert, der immerhin der gesamten Weltbevölkerung gehöre, auf mehrere zukünftige Generationen hochgerechnet, sei doch eher gering, urteilte die Justiz. Der international bekannte Wirtschaftswissenschaftler Franz Josef Wagner kommentierte dies als ethisch vertretbare Lösung. Immerhin, so Wagner, sei Besitzwahrung kein Privileg der Privatwirtschaft; auch die unter staatlicher Kontrolle stehenden Banken besäßen das Recht, die Fehler des Kapitalismus zu begehen.

Ein launiges Intermezzo lieferten sich Peer Steinbrück und die Linke. Die Beschuldigung gegen den Bundesfinanzminister lautete, dieser habe weite Teile des Etats veruntreut und durch unvorhergesehene Kreditaufnahmen das Vertrauen missbraucht. Noch am selben Tag sprang die Kanzlerin ihrem Minister in die Seite, indem sie ihm vor aller Welt das Vertrauen entzog – da ein nunmehr nicht mehr vorhandenes Vertrauen auch nicht gebrochen werden konnte, war Steinbrück aus dem Schneider. Die Koalition rieb sich die Hände. Und verfuhr weiter wie bisher.

Doch auch vom rechten Rand kam Kritik. Das Geld sei nicht Eigentum der Banken, sondern Volksvermögen. Die Expertenkommission arbeitete den Fall noch einmal durch und befand, dies sei vor dem Emmely-Präzedenzfall eine klare und verlässliche Aussage. Da auch die Pfandbons nicht der Kassiererin gehört hatten – und nicht einmal dem Einzelhandelskonzern selbst, sondern dem unbekannten Pfandgeldeigner – könne man hier die strafrechtliche Verfolgung ausschließen.

Die Wogen glätteten sich, als feststand, dass den Bankmanagern eine Nähe zur Gewerkschaft nicht nachgewiesen werden konnte. Keiner von ihnen hatte einem Betriebsrat angehört. Zur Beruhigung bezahlten die Bankhäuser sie mehr und mehr mit Pfandboni.

Der international bekannte Ontologe Franz Josef Wagner unterstrich in seinem Vortrag, den er anlässlich der Gründung der von Tengelmann ins Leben gerufenen Stiftung für Menschenrechte hielt, die Unterschiede von Pfandbons und Bankkrediten. Als materielles Gut sei ein Bon nicht mehr in der Zuhandenheit, das Geld aber mitnichten weg. Es sei nur umverteilt worden. Schlüssiger hatte bislang kein international bekannter Paläobiologe Heidegger erleuchtet. Sogar Klaus Zumwinkel bekannte, sein Vertrauen in die rechte Hälfte des Staates sei nun wiederhergestellt.

Allein die Zweifel blieben in Kaiser’s neuen Kleidern hängen. Man zögerte. Vor allem von Umverteilung sprach man nicht gern. Einen sozialistischen Anstrich wollte man sich nur ungern geben. Der international bekannte Fußballexperte rehabilitierte sich angesichts eines Urteils, das einen arbeitslosen Schwarzfahrer mit einer empfindlichen Strafe belegte. Dies sei kein Sonderfall, so der international bekannte Kirchenhistoriker, sondern nur eine juristische Fußnote; dennoch sei ein Beförderungserschleicher kräftig anzupacken – wer auf Volkes Kosten Omnibus fahre, schädige im Gegensatz zu den Banken die Allgemeinheit und könne gar nicht genug Härte zu spüren bekommen. Der Vertrauensverlust war überwunden. Unbedingte Ehrlichkeit hatte einmal mehr gesiegt über die moralischen Konstruktionen einer Öffentlichkeit, die sich nur auf Kontrolle verlassen wollte.

Wäre da nicht der Bon über acht Cent gewesen, den Wagner im Flaschenrückgabeautomaten gefunden und in die Tasche gesteckt hatte. Das Überwachungsvideo dokumentierte es lückenlos. Der Vertrauensbruch ließ sich nicht mehr kitten, denn es blieb nicht bei einem Versuch – von der Kasse weg wurde der international bekannte Menschenrechtsaktivist abgeführt.

Noch schwelt der Rechtsstreit. Der Staatsanwalt forderte bereits, das Opfer in die Schlagzeilen zu bringen. Lebenslänglich. Auf Bewährung.