Amok

10 06 2009

Die Sicherheitskontrolle am Studioeingang dauerte fast eine Viertelstunde. Immer wieder telefonierte der Beamte mit seinem Knopf im Ohr, wobei er sich unfassbar wichtig vorkam und eine dementsprechend affige Figur machte. Zwei private Securitywarte wiederholten das Spiel, bevor ein weiterer Staatsdiener die Prozedur nochmals vollzog. Ich wischte die transparente Tinte von den Fingern, die man mir zum Abnehmen der Abdrücke aufgerollt hatte, fischte mir eine Wattefaser aus den Zähnen, die beim Speichelprobenabstrich hängen geblieben sein musste, und betrat den Vorraum. Der Personenschützer winkte mich durch, sobald ich ihm den Plastikausweis unter die Nase gehalten hatte. Ich war drinnen. Nur von Siebels weit und breit keine Spur. Wo steckte er nur?

Der Fernsehproduzent rannte hektisch durch den Flur, schob die Bodyguards unwillig zur Seite und wäre fast über einen Stapel Klappstühle gestolpert, hätte ihn ein Staatssekretär nicht geistesgegenwärtig am Arm gehalten. Die Politprominenz war bereits vollzählig erschienen. Sie tranken stilles Wasser, ließen sich das Gesicht abpudern und duldeten, wie der Kameraassistent mit dem Belichtungsmesser vor ihnen herumfuchtelte. Da hatte er mich entdeckt und eilte herüber. „Gut, dass Sie da sind“, keuchte Siebels, „wir haben noch eine Minute. Gehen Sie schon mal in den Regieraum. Wir müssen sofort anfangen. Lörchmann wartet auf Sie.“

Lörchmann wartete, allerdings eher auf das Licht, das den Beginn der Produktion ankündigen sollte. Die Darsteller – Bundesminister, Lobbyisten in höheren Staatsämtern sowie ein Wissenschaftler – standen hinter der Tischattrappe und guckten an die Studiodecke. Unvermittelt setzte die Diskussion ein. „Wir haben doch heute wieder gesehen, dass die Medien, und das muss man in aller Deutlichkeit auch mal so sagen dürfen…“ „Eine Katastrophe, die uns alle hier betroffen macht, ist aber…“ „… und nicht zuletzt, weil Killerspiele als Auslöser von Taten wie…“ „Das kann man jetzt aber nicht so eindimensional sagen, weil nämlich die sozialen Aspekte…“ „Trotz allem sind die virtuellen Morde ja immer auch…“ „… dass wir ein EU-weites Verbot von Computerspielen, von Paintball und…“

„Amok? Was reden die denn da?“ Lörchmann reagierte kaum, so zückte ich mein Mobiltelefon. „Lassen Sie’s“, hielt er mich zurück, „hier dürften Sie das Ding eigentlich gar nicht benutzen. Ist als kritischer Gegenstand eingestuft worden. Hat man das bei Ihnen nicht gefunden?“ Ich verneinte. „Nützt Ihnen auch nichts. Hier ist kein Empfang.“ Ich stürzte zum Computer. Kein aktueller Amokfall zu finden. Nicht einmal eine Drohung. Was wurde hier eigentlich gespielt?

Die Debatte hatte rapide an Fahrt gewonnen. „Das sind doch alles unbewiesene Tatsachen!“ „… kann man doch so gar nicht sagen – wie viele Bundesbürgerinnen und Bundesbürger führen allein im Polizeidienst jeden Tag eine Dienstwaffe, meine Damen und Herren, und haben noch nie eine Schule betreten, um…“ „Darum geht es doch hier gar nicht. Es geht um die Verteidigung, die wir als Zivilgesellschaft…“ „… eben das Problem, dass wir uns nur als Zivilgesellschaft verstehen. Wenn wir…“ „Es ist doch paradox, dass ausgerechnet Sie Bürgerrechte fordern und verbieten wollen, dass man die mit der Waffe…“ „… können wir doch gleich die Bundeswehr abschaffen, wenn wir hier die Waffen verteufeln wollen.“ „… hatten wir alleine in Niedersachsen im Jahr 1967 85% der Fälle, und das hat sich seitdem noch einmal verdreifacht, so dass wir heute, eine Zahl von, äh, und das sind in Sachsen…“ „… mit der Waffe, sage ich!“ „Wenn es Warnzeichen auf psychiatrische Störungen gibt, brauchen wir eine flächendeckende Überwachung von Schülern, die…“

Die Tür öffnete sich und Siebels schaute herein. „Alles klar bei Ihnen?“ Ich fragte ihn, wo denn der Amoklauf stattgefunden habe. Doch er antwortete gar nicht. Schon war er wieder im Studio. „Also wenn Sie mich fragen“, kaute Lörchmann hinter seinem Streichholz hervor, „das ist hier bloß für die Dose.“ „Eine Diskussionskonserve? Eine Instant-Debatte? Polemische Tütensuppe, die man beim nächsten Massenmord aufkocht?“ Er blickte mich nicht einmal an. „Bingo. Dies Geschwafel lässt sich doch schließlich bei jeder Gelegenheit verwerten. Und der nächste Amoklauf kommt bestimmt.“

„… kann doch die Rüstungsindustrie jetzt nicht wegen Ihrer ideologischen Phrasen…“ „… rufen doch Sie hier zur Hasswoche auf! Wie viele Bundesbürgerinnen und Bundesbürger verzichten auf Computerspiele und betreten trotzdem fast täglich eine Schule, um…“ „Das ist natürlich noch viel komplexer. Schauen Sie sich mal Micky Maus an, die Panzerknacker sind doch ein Paradebeispiel für fehlgeschlagene Resozialisierung! Da müsste man, ich habe jetzt keine genauen Zahlen, aber da sollte auf jeden Fall…“ „… aber im Gegenteil, denn Krieg ist Frieden, und das ist als sozialer Aspekt…“

Da hielt ich es nicht mehr aus und ging einfach ins Studio. Siebels saß entspannt auf seinem Stuhl und verfolgte das Gekeife. „Jetzt mal raus mit der Sprache: das wird aufgezeichnet? Und es hat gar kein Amoklauf stattgefunden?“ Er lächelte sanft. „Offiziell wird es aufgezeichnet. Aber durch ein kleines technisches Versehen wird diese Debatte gerade live ausgestrahlt. Der alte Trick mit der Weihnachtsansprache.“ Ungläubig sah ich ihn an. „Keine Opfer?“ „Und ob“, antwortete Siebels mit einem diabolischen Grinsen, „der Amoklauf findet just in diesem Moment statt. Hier. Und morgen kann die Regierung geschlossen zurücktreten.“