Befristeter Ausnahmezustand

7 04 2021

„Die Zahlen geben uns recht. Im Grunde haben wir unser Ziel seit mehr als zwei Wochen erreicht, aber so ist das mit den Entwicklungen. Manchmal hat man neue Pläne und findet die aktuelle Situation ganz praktisch, um mit der Umgestaltung gleich noch etwas voranzugehen. Die Bundesrepublik ist immer noch ein demokratischer Staat, zumindest vom äußeren Erscheinungsbild. Bis auf Weiteres.

Dieser befristete Ausnahmezustand hat einen sehr gut herausgearbeiteten Konstruktionsfehler, der für jeden bereits im Vorfeld gut erkennbar war. Aber was in den letzten Monaten alles im Vorfeld hätte erkannt werden können, darüber muss man ja nicht groß reden. Wir haben ihn strikt nach der Verfassung eingefügt, und wir haben gleichzeitig dafür gesorgt, dass an den entscheidenden Stellen niemand im Weg sitzt, wenn dieser Zustand auf verfassungsgemäßem Weg verlängert werden muss. Das ist das Angenehme, wenn man es mit guten Verfassungsrechtlern zu tun hat, sie lassen die Tür offen und drücken einem trotzdem die Schlüssel in die Hand, damit es nicht nach Einbruch aussieht.

Es werde immer so interessante Vorschläge gemacht, was man denn einführen könne für einen neuen Erkenntnisgewinn. Gewisse Kreise fordern eine Erfassung nach Religionszugehörigkeit für die gesamte Bevölkerung. Das hatten die Niederlande bereits 1936 lochkartentauglich erledigt, die deutschen Besatzer mussten für die Deportation der niederländischen Juden nur noch zugreifen. Es kommt nicht auf die technische Machbarkeit an, es kommt vor allem darauf an, wer da technisch was machen will. Ich persönlich muss mir jetzt keinen Vorwurf machen, wir haben nur geltendes Recht benutzt, um eine Notlage zu beheben. Was man als Notlage betrachtet, ist ja auch subjektiv.

Sie werden das natürlich für undemokratisch halten und als Diktatur bezeichnen. Es haben ja auch eine Menge Vollidioten vorher protestiert und vorherige Schutzmaßnahmen als Corona-Diktatur benannt. Hören Sie jetzt, dass jemand die aktuell geltenden Regelungen noch als Corona-Diktatur bezeichnet? Gut, das mag auch daran liegen, dass Sie das einmal öffentlich sagen, und dann sagen Sie so schnell nichts mehr, jedenfalls nicht öffentlich.

Natürlich hätte man die bisherigen Mittel des Infektionsschutzgesetzes nutzen und den Ländern klare Vorgaben machen können. Dazu hätte man nicht einmal neue Gesetze gebraucht, man hätte nicht einmal mit dem Lieblingsinstrument der Rechtskonservativen regieren müssen, mit der Strafverschärfung – alles ganz demokratisch, und genau dadurch hätten dann alle erst recht den Eindruck gehabt, in einer Diktatur zu leben. Denn das ist die typisch deutsche Denkweise: was ihnen an demokratischen Mitteln nicht in den Kram passt, wird als Staatsverbrechen bezeichnet, aber wenn sie wirklich in einer Diktatur sind, dann rennen sie mit Geschrei hinter jeder Fahne her in den Abgrund.

Es ist ja einigermaßen putzig, dass wir jetzt das Vertrauen der Bevölkerung genießen, weil wir die härtesten Anordnungen getroffen haben und sie auch unbeirrt durchsetzen. Immerhin haben wir dazu einen neuen Polizeiapparat aufbauen müssen, weil der alte größtenteils aus Terroristen bestand. Das ist bei einem solchen Systemwechsel nichts Ungewöhnliches, dass man die Sicherheitsbehörden anpasst, aber was hätten wir denn von denen noch übernehmen können? Jetzt funktioniert wenigstens die Durchsetzung des geltenden Rechts durch die Polizei wieder, und nicht die Durchsetzung der Rechten, die als Polizei gelten.

Wir könnten jetzt noch einige andere Dinge tun, die man von uns nicht erwartet. Beispielsweise die neun Milliarden von der Lufthansa zurückfordern, die sich Vorstände mit Millionengehältern unter den Nagel gerissen haben, um sich Boni auszuzahlen. Es spricht auch nichts gegen eine Konfliktlösung auf persönlicher Ebene, wenn Sie verstehen, was ich meine. Andererseits könnten wir solche Beträge auch schnell und unbürokratisch an die Opfer der Pandemie auszahlen. Wir befinden uns immerhin im Ausnahmezustand, da hört sich das nicht mehr ganz so populistisch an. Und Sie wissen ja, wenn es irgendwann vorbei ist – jede Diktatur ist einmal vorbei, sonst wäre es keine Diktatur – dann fällt den Menschen immer noch etwas Schönes ein. Etwas, das trotz allem besser war als in der Demokratie. Weil Menschen selektiv wahrnehmen, gerne Dinge verdrängen, die unangenehm sind, und sich selten für das Leben der anderen interessieren. Das werden dann die aufregenden Wochen und Monate der Ausgangssperre sein, in denen man heimlich den Besuch durch die Hintertür reinließ und dann im Keller gefeiert hat. Glauben Sie mir, Sie werden solche Erinnerungen haben.

Und wenn er dann doch plötzlich wieder vorbei ist, der befristete Ausnahmezustand, dann werden viele ernüchtert sein. Enttäuscht. Weil die Diktatur auch ihre praktischen Seiten hatte, weil sie auf klare Verantwortlichkeiten gesetzt hat und auf scharfes Tempo bei der Umsetzung der Notwendigkeiten. Dann werden Sie langsam wieder das Vertrauen in die Demokratie üben müssen, weil nichts schnell genug geht, weil über alles geredet und gestritten und entschieden werden muss. Ein paar Leute werden uns aufhängen wollen, aber daran ist man in Deutschland gewöhnt. Und mit etwas Glück ist es auch nicht das Ende der politischen Karriere.“





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXXII): Der Doppelstaat

13 07 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Natürlich ist das Problem schon älter. Während Uga seiner Sippe Zurückhaltung und Keuschheit predigte, knallte er sich regelmäßig im Rat der Alten die Birne mit vegorenen Grünbeeren zu. Kaum waren die Ägypter am Ruder, passierte es wieder. Dufte Pyramiden für die Könige, die sich vorsichtshalber zu Göttern erklärten, das gemeine Volk verscharrte seinen Biomüll im Wüstensand, weil die religiösen Bauvorschriften es so vorsahen. Die Päpste waren noch nicht als international renommierte Laienspieltruppe einer aufstrebenden Verschwörungstheorie bekannt, schon machten sie sich ans Werk: hübsche Spenden ans Baugewerbe, der Rest durfte den Schmodder mit Wallfahrten wieder in die Kasse kloppen. Was hier als ethisch geboten schien, verkam auf der anderen Seite des Tisches zur Lachnummer. Mit der Entwicklung des Staates als Keimzelle der Verwaltung wurde das Problem elegant gelöst. Schnell formuliert man die Rechte des Untertanen auf bröselndem Papyrus, dann ist die Sache gegessen. Zumindest für den Doppelstaat.

Die Sache zerfällt, wenn man sie richtig fallen lässt, in zwei Bestandteile, die nicht mehr viel miteinander zu tun haben. Dafür sorgt der totalitäre Geist, der in beiden spukt. Der Normenstaat ist die Veranstaltung von und für Schlafmützen mit Demokratieseepferdchen: so hübsch dürfen alle noch wehren, natürlich kann man gegen die Verhaftung noch rechtlich vorgehen – wenn man sie zufällig überleben sollte – und nichts würde sich mit dem plötzlich ausrollenden Faschismus in den Supermärkten ändern. Es gäbe statt Äpfeln und Birnen als Alleinobst immer noch Südfrüchte aus komplett islamisierten Feindstaaten, denn der Kapitalismus will ja auch leben, und wer würde diese Braunalgen über Wasser halten, wenn nicht die Turbokapitalisten? Wie der Fahrplan der Vorortzüge und die Luftballonaufblasverordnung bis in alle Ewigkeit gültig sein werden, so wird auch der Normenstaat seine stur regulierende, auf Teufel komm raus unideologische bis taubblinde Ordnung beibehalten. Krieg ja, Synagogen gerne anzünden, aber wer im absoluten Halteverbot parkt, der braucht einfach den Schlagring.

Davon unterscheidet sich der Maßnahmenstaat. Der Beknackte wundert sich, dass nach einer Nacht mit Nebel plötzlich rings um ihn die Wohnungen frei sind – so schnell kann’s gehen, und er denkt ja nicht nach, sonst träfe es am Ende ihn. Natürlich sind die Umsiedelungsbemühungen der anderen – wer weiß auch, wohin sie gegangen sind – ein bisschen schwer zu verstehen, aber da müssen wir ja alle durch. Die Hauptsache ist, der Staat tut etwas. Mauern bauen mit Selbstschussanlage, ein paar Tatverdächtige in Stammheim wegballern, Demos für den Normenstaat mit dem Wasserwerfer auflösen, dem Staat fällt schon etwas ein. Da ist der Staat enorm erfinderisch.

Der Maßnahmenstaat jedenfalls, der im Gegensatz zum Normenstaat nicht immer mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumläuft. Natürlich hat er ethische Grundsätze, nur eben austauschbare, und er hält sie äußerst hoch, deshalb schont er sie, wo er nur kann. Der Maßnahmenstaat ist im permanenten Ausnahmezustand, wird angegriffen und von Feinden bedroht. Ist das nach objektiver Betrachtung einmal nicht der Fall, dann sorgt er schon dafür, dass er angegriffen wird – oder dass es so aussieht. Seine erfinderische Kompetenz schafft sich Gegner, quasi aus dem Nichts, pustet eine nicht vorhandene Tatsache zur Gefahr im Verzuge auf, erfindet Widersacher in Form perfider Religionen, die mit immer denselben Mitteln wehrlose Staaten zerstören wollen, Menschenmengen wildfremder Nation, die nur deshalb überhaupt sich vermehren, um das eigene Land in den Boden zu stampfen, er imaginiert aus seinem trüben Geschwiemel fleißig Parasiten, deren einziges Ziel scheint, den Wirt zu töten.

So verlockend es scheinen mag, dass die Norm auch am Abgrund noch gilt, dass der Strom aus der Steckdose kommt und die Züge noch rollen, so unklug wäre es für die unbedarften Grützbirnen, sich leidenschaftslos anzupassen. Aber ja, würden sie später sagen, es mag gewisse Anzeichen von Diktatur gegeben haben, es war normal, dass eines Tages kein Person bestimmter ethnischer Gruppen mehr zu sehen war, aber wir waren natürlich immer dagegen. Nur der Maßnahmenstaat hat sie daran gehindert, sein Recht ist das Recht des Stärkeren und schert sich nicht um Grundsätze. Wie sozial ist, was Arbeit schafft, ist Recht, was für Recht befunden wird von der Interessengemeinschaft, die auch das nötige Einfühlungsvermögen besitzt, um das gesunde Volksempfinden zu definieren. Der gefährliche Irrtum, dass die Maßnahmen des dafür vorgesehenen Konstruktes ausschließlich andere treffen, bezahlen genug der eigenen Leute mit dem Leben. Und das war der Plan. Es gibt keine Norm, wenn die Unnormalen regieren wollen. Und es ist immer nur eine Frage der Zeit, wann der eigene Maßnahmenstaat unter fremden Maßnahmen bricht.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXXI): Die ethische Verwahrlosung

6 07 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Am Anfang war das Wort, und das Wort hatte eine Bedeutung, und jeder konnte sich etwas dabei denken, und das Problem war, dass die meisten auch so taten, als könnten sie denken. Es sind für gewöhnlich die jahrhundertelang in Stereotype und pejoratives Gespuck gekleidete Formeln, mit denen wir alles ansprechen, was anders ist, ob aus Hass oder Dummheit, das bleibt sich gleich, weil es hier kaum Ursache und Wirkung gibt, die zu trennen wären. Am Anfang waren blödsinnige Pöbeleien, denen man noch entfliehen konnte, und an die Wände gesprühte, denen man nicht mehr entkam. Wie man an einem Haus Scheiben mit Schmackes zerdeppert, um es in kurzer Zeit zur abbruchreifen Ruine zu machen, so funktioniert das auch bei einer sturmreif geschossenen Gesellschaft, die längst nicht mehr merkt, wer vor der Flinte steht und wer dahinter. Es entsteht, mustergültig geradezu, die ethische Verwahrlosung.

Voraussetzung für diese Verwahrlosung ist die Offenheit für mindestens den Zivilisationsbruch, der sich nicht mit mangelnder Anerkennung oder trübem Konservatismus abgibt, sondern Regression fordert, bewusste Ausgrenzung, das Schleifen der Normalität. Wer dazugehört, wird von denen bestimmt, die dazugehören, und schon geht es los. Die gesellschaftliche Mitte, so rissig sie im Inneren auch sein mag, wird zum Heer von Grenzbeamten, eine Söldnertruppe mit Anspruch auf Lenkung von rechts unten. Interessant ist, wie die Regression aus dieser Richtung eingeleitet wird: sie begreift eine systematisch entwickelte Gesellschaft mit Werten wie Liberalität und Gleichheit als moralisch verderbt, wohl wissend, dass auch sie nur eine Moral liefern kann, die nicht mehr als ein Konstrukt ist. Ihre Kritik ist nicht ethisch begründet, wie auch. Sie kritisieren nur, dass sich aus einer liberalen Gesellschaft kein Machtanspruch formulieren ließe, den man mit Gewalt verteidigen kann, kurz, es fehlt ihnen an einem Gegner.

Der ist schnell gefunden, das Geschäft der Grenzziehung um das eigene Lager erlaubt es, den Radius des angeblich Bösen beliebig zu erweitern: alles Feind. Wer seinen Hass in eine Richtung zu lenken weiß, bekommt ein Steuerungsinstrument von hoher Subtilität an die Hand, mit dem er in der Not – und die kommt, wann immer sie gewünscht ist – auch nach innen wirken kann. Das mächtige Mittel der Konformität schweißt nicht nur zusammen, was nie zusammengehört hat, es warnt auch davor, dass die wirr zusammengeschwiemelte Moral der Teilung, die das alles sichernde Othering erfand, irgendwann die eigenen Leute trifft. So wird aus dem Segen, den eine höherwertige Clique mit Führungsanspruch über die Gesellschaft gebracht hat, rasch eine Waffe.

Vor allem ihre Lärmentfaltung bringt den Vorteil, dass man damit das Volk in konstantem Aufruhr halten kann. Überall und immer greift der Feind an, jeder kann sich plötzlich als Abgesandter der anderen Seite entpuppen, und dann ist es gut, dass sich die Impulskontrolle längst im Tiefschlaf befindet. Die vorgelebte Brutalität ist zur Routine geworden, jederzeit und ohne Zusammenhang abrufbereit, und sei es nur im desinteressierten Schweigen, wenn offenes Unrecht geschieht, das nach den Maßstäben der neuen Unordnung ein notwendiges Übel ist, ein Grenzkonflikt, der sich durch Ignoranz lösen ließe, während dieselbe Verrohung längst in offene Gewaltbereitschaft mündet, die auch noch moralische Rechtfertigung erfährt, wo sie von den Gegnern des Systems Ablehnung erfährt. Die Verwahrlosung stürzt eine ganze Gesellschaft in den Dauerkarneval der Macht, den sie mit gruppendynamisch getriggerten Ausbrüchen erlebt, schnell in die Depersonalisation abgleitet – Du bist nichts, Dein Volk ist alles – und damit ihre Schuld in ein imaginäres Kollektiv abschiebt, ohne dessen Belastbarkeit sie nicht mehr in der Lage wäre, sich zu rechtfertigen. Im besten Fall mündet dies in einen Krieg, den der Staat im Vorgarten schon einmal ausprobiert, damit ihn der andere aus Angst möglichst schnell angreift. Aber es läuft in den meisten Fällen hinaus auf den Präventivschlag, zu dem ein Volk gezwungen wurde. Eine Grenze ist schließlich dazu da, dass man sie verletzt.

Dabei geht es längst nicht mehr um Verharmlosung, wie manche meinen, die in den Vokabularhülsen des Neusprech eine Befriedung der inneren Verfasstheit entdecken, Scham gar, wo ansonsten Zügellosigkeit herrscht. Dass sie herrscht, bedarf schließlich der permanenten Aufstachelung. Die ethische Verwahrlosung ist kein Status, sie ist ein Strudel, denn sie fordert immer neue Opfer, außen wie innen. Ihr ist der Endsieg. Diese Bilder werden wir aushalten müssen. Danach.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCLXII): Die politische Lüge

10 02 2017
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Seitdem sich die Zellkumpen aus der Ursuppe getraut haben, wurde es eigentlich nicht besser. Die Raubfische der Tiefsee täuschten mit blinkenden Dingern an der Rübe Fresschen vor und schluckten die Interessenten dann lebendig weg, aber anders machen Banken heute auch keine Reklame. Diverse Brutschmarotzer entsorgten ihr Gelege in Nachbars Nest. Aber erst der Hominide schleicht pfeifend ans Säbelzahnzicklein heran, krault es noch einmal am Bärtchen und zieht ihm dann die Steinaxt über die Kalotte. Sobald die evolutionäre Schlacke sich in Horden, Clans und Stämme teilte, wusste sie die Spaltung von Zunge und Tat zu nutzen. Das Talent zur Irreführung wurde zum Herrschaftsinstrument.

Das Dumme an der Lüge ist ja, man muss die Wahrheit kennen, weil sie sonst nichts auslöst. Und selbst da braucht es die feine Abstufung zwischen leiser Flunkerei und plärrender Räuberpistole, um das Heer der Blödkolben zu mobilisieren. Die Renten, schwafelte einst die abgesägte Glatze der Herz-Jesu-Sozialisten, seien sicher. Keiner habe die Absicht, Ehrenwort, eine Mauer, ich wiederhole: mein Ehrenwort, zu bauen. Read my lips. Trallala, da blühen die Landschaften. Inzwischen hat trotz funktionierender Portokasse der kleine Mann auf der Straße, dem die politische Lüge meist gilt, noch keine Segnungen des Fortschritts festgestellt, aber würde er die Wahrheit überhaupt vertragen?

Realpolitik ist letztlich nur das Kaufen von Zeit zu einem schwer verhandelbaren Preis, denn keiner weiß, wann er sich je im eigenen Seemannsgarn verheddert. Dass dabei mit doppelten Standards gearbeitet wird – Sozialismus war böse, die Waffen-SS liegt aber schon so lange zurück, und da waren die bedeutendsten Köpfe Mitglied, denen wir den Wiederaufbau zu verdanken haben – liegt nicht nur daran, dass Staatsräson ohne Machiavellismus nur selten standfest bleibt. Uneingeschränkte Macht ist nur dann zu erreichen, wenn in einem Arbeitsgang auch die Lufthoheit über die angeblich Klugen errungen wird; wird die Luft zu dünn, braucht es wiederum der Gewalt, um die von ethischen Resten befreite Herrschaft zu sichern. Aus einfachem Realitätsdesign schwiemelt sich alsbald die Macht Waffen für den Krieg gegen die Wahrheit.

Erzählt man also dem fluchtwilligen Briten, wöchentlich zahle das Land 350 Millionen Pfund Sterling an die Europäische Union, mit denen das gebrechliche Gesundheitssystem aufgepäppelt werden solle, so wäre diese Heuchelei mit einem kurzen Blick in die Bücher erledigt. Allein es wirft keiner einen Blick in den öffentlichen Haushalt, da es sich um Leimrute in der schlimmsten Form handelt: um das Versprechen, dem Quotengeziefer Geld zu schenken, sogar unter der Voraussetzung, hinfort vernünftig unters Volk zu jubeln, was zuvor dem Altbösen in den Rachen gepfropft ward. Dass die Verwirrung mit pseudomoralischem Anstrich in die Öffentlichkeit tritt, ist nicht neu, sondern wird planmäßig ausgeführt. Wer aber glaubte nicht der Lüge, gereichte sie genau den Richtigen in der Gesellschaft zum Guten?

Der Bettnässer von Braunau hat die Propaganda nicht anders behandelt, und das mit dem Twist, der ihn zum König der Aluhütchenspieler adelte: die Lüge, zumal eine, die den Regelbruch innerhalb der politischen Struktur zur Folge haben würde, per Dekret als konstituierendes Element einer anderen Wahrheit einzusetzen. Indem sie sich gegen alle offensichtlichen Beweise des Gegenteils abdichten, wird ihr Kahn noch nicht wasserdicht, säuft aber langsamer ab. Da mit dem Krieg die Wahrheit als erstes stirbt, ersetzt man sie vorsorglich mit der Alternative zur Wahrheit; sie stabilisiert sich, indem sie sich auf die Dümmsten stützt, die zwischen Lüge und Wahrheit nicht unterscheiden wollen, und aus allerlei Lautsprechern quillt, deren Ausstoß den Tiefstbegabten als wahr gilt, weil er das Leugnen locker übertönt.

Wahrhaftigkeit war nie eine politische Tugend, und noch selten hat sie das Politische oder die Welt verändert. Gefahr für die auf Realitätsverweigerung beruhende Räson jedoch entsteht schneller als das Rettende, wenn sich der staatliche Notstand auf der Grundlage einer moralischen Umwertung der unmoralischen Werte verfestigt. Wie die Gewalt die Wahrheit liquidieren kann, so wird Politik, meist als national borniertes Geschäft verstanden, früher oder später durch die heraufbeschworene Gewalt wieder entfernt, da Blut und Eisen noch nie eine dauerhafte Macht, geschweige denn Koexistenzen gezeitigt haben. Wer Zügellosigkeit und Habsucht in seiner eigenen gründlich verdübelten Restexistenz findet und sie zur Triebfeder des übrigen Mistgabelmobs erklärt, der irrt; nicht der Zweck heiligt die Mittel, die Mittel schlagen beizeiten zurück. Denn keiner, der nur bewundert werden will, wird von denen bewundert, die nur bewundert werden wollen. Derer aber, abgesehen vom destruktiven und ausbeuterischen Rand der Clique, gibt es mehr als genug. Man lügt sie nicht an, und wenn, dann nur einmal.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CLXXXIII): TV-Sadismus

8 02 2013
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Jede Gesellschaft hat ihre eigene Art, das Volk zu belustigen, manchmal mehr, manchmal weniger durchgreifend. Wo im antiken Rom Gladiatoren einander die Rübe eindellten, kämpften präkolumbianische Indigene mit Hilfe eines Balls gegen das Los, als Menschenopfer zu dienen. Im Blutrausch, in Grausamkeit und Überhebung über die vermeintlich minderwertige Kreatur ereignet sich eine Wohltat für die Nutznießer der Barbarei: sie haben das Gemetzel unbeschadet hinter sich gebracht, müssen also moralisch erhaben sein. Jedes Schimmelhirn schwiemelt sich im Schwall der Endorphine derlei Gekasper zurecht, erstaunlich ist jedoch, wie viel davon auch bei genauerem Hinsehen noch bleibt. Erstaunlicher noch, wie das Medium Bewegtbild sich der Herabsetzung des Menschen zum Zweck der sozialen Kontrolle bedient und aus der Not trällernde Tugend macht. Es lebe der TV-Sadismus.

Der Hexenwahn hat nachgelassen, sei es aus mangelndem Nachschub oder wegen des längst durchgreifenden Pragmatismus, kein Brennholz in öffentliche Spektakel zu investieren. Aus größerer Distanz bekäme man fast den Eindruck, es handele sich um einen aufgeklärten Stamm – Wasserspülung an jeder Straßenecke, Parlamentarismus und eine gemeinhin akzeptierte Mehrwertsteuer, die nicht zu größeren Revolutionen führt. Doch bei näherem Hingucken wandelt sich das Bild, denn die Randbereiche, das Arme, Kranke, Unterjochte, ist noch immer höchst tauglich, auf dem Jahrmarkt der Scheußlichkeiten Gaukelei zu betreiben. Freilich nicht allein aus Lust am Ekel, wie man beim Anblick pickeliger Gesichtsversuche möchte glauben wollen, sondern aus purer Dringlichkeit, dass der herrschende Staatsbürger die Nase rümpft über den Sott auf dem Fernsehschirm.

Mittelmäßig unbegabte Knalldeppen tanzen, obwohl sie es nicht können, und singen, wenngleich sie es besser hätten lassen sollen. Die Ergebnisse der Krachveranstaltung hängen ein gutes Jahrzehnt luftdicht verschlossen ab und werden dann zur Exkrementalverkostung in den Urwald gekarrt. Was dort übrig ist, schleift sich durch Talkshows und trifft auf den Abhub, der eine Tür weiter im Sozialporno die Protagonisten gibt. Nach planmäßig erfolgtem Augenausfall gewöhnt sich die Generation mit der Magenschleimhaut aus Gusseisen an den Hautgout des Verrotteten und feiert fröhlich den Abstieg ins Untergeschoss der soziokulturellen Exklusion. Sie reagieren richtig. Schließlich war es so gedacht, dass nicht der Masochismus das Programm bestimmt, sondern der Grenznutzen für die Quälenden.

Wer sich als verwahrloste Mehrfachmutter im kakerlakenverseuchten Plattenbau vor der Linse zum Fallobst macht, erfüllt seinen Zweck. Der Bescheuerte von der unteren Mittelschicht aufwärts erwartet das Einverständnis der Ausgebeuteten, sich für ein paar Scheinchen zum Aufstocken derart zu prostituieren, vulgo: im Überbau kracht’s nicht so laut im Gebälk, wenn man unten noch ein paar Hunde vom Hof jagen kann. Frauen werden in Patchworkfamilien getauscht, verzogene Rotzgören dürfen im Spießerumfeld spacken, der Mensch in Bestiengestalt erniedrigt sich, erniedrigt zu werden. Die Demütigung vor klatschenden Zuschauern ist nicht weniger als der Ausdruck einer neoliberalen Zwangsgesellschaft, denn er setzt die Freiwilligkeit des Opfers ebenso voraus wie den Moraldefekt des zuschauenden Täters.

Mit der Proletarisierung des Durchschnitts ist die stete Drohung verbunden, die Pseudoeliten könnten ihre Untertanenmentalität bis zum bitteren Ende an den Untergebenen abreagieren. Diese Not bricht sich Bahn als chronische Angst vor der strukturelle Vernichtung, oft unter dem Mantel des Legalen, noch öfter unter Nationalflagge und Religiotentum. Die Unterwerfung hat Methode. Sie spiegelt den sozialen Druck unter einer feudalistischen Ideologie wider: wer sich nicht überangepasst verhält, fliegt raus. Wer sich anpasst und trotzdem rausfliegt, hat die Gründe gefälligst bei sich selbst zu suchen. In der Buschlandschaft gesottenes Genital zu fressen ist weniger eine Kapitulation vor der Restwürde als ein Akt der Selbstentfremdung. Denn der Opfer-Abonnent ist Hilfsmittel bei der Konditionierung der relevanten Zielgruppe: der Zuschauer wird eingebunden und darf seine eigenen Erniedrigungsfantasien ausleben, wie eben jede hierarchische und repressive Gesellschaft nur dann funktionieren kann, wenn die Unterdrückten stets den Wunsch in sich wachhalten, zum Unterdrücker zu werden. Das Lächerlichmachen der Schwachen ist die Versicherung gegen die eigene Schwäche. Die Beknackten, die im Rudelkoma den Bodensatz des Geistes feststampfen, meinen dabei, ihren eigenen Weg zu ebnen; sie täuschen sich.

Die Verrohung schreitet fort, und sie bedient sich aus reiner Gewohnheit der einfachsten Mittel wie auch der besten Technik. Wie gut, dass wir es zu diesem Wohlstand gebracht haben, wenigstens in Einzelteilen.





Der Fuchs und die Trauben

12 02 2012

für Bertolt Brecht

Da er sie hängen sah, sprach er, die Trauben,
sie seien ihm zu sauer. Wie man wüsste,
so gäbe es noch Füchse, die da glauben,
dass man von sauren Trauben kosten müsste,

doch diese seien Feinde – so entartet,
dass es nach sauren Trauben sie gelüste,
das sei kein wahrer Fuchs. Und er erwartet,
dass man der Feindschaft stolz sich nun auch brüste.





Letzte Fahrt

8 08 2009

Sie foltern nicht, und wenn, zu guten Zwecken,
denn alles ist an ihnen grundgesetzlich,
und wird erst die Verfassung hier verletzlich,
so wollen sie mit Macht sie brechend strecken.

Sie brechen Recht, die ewig Selbstgerechten,
und setzen Unrecht gegen das Verbrechen.
Wie sinnlos, ihnen jetzt den Star zu stechen,
da sie als Tugend Blindheit noch verfechten.

Die See gibt nichts zurück. So sind die Rechte,
die einmal fort sind, fort und wir betrogen,
als sie uns mit in tiefe Wasser zogen,

in Schwäche, die sie leiden fern der Mächte,
um uns, ertrinkend selbst, drin zu ertränken –
ein kleines Leck, es kann ein Schiff versenken.