Der Saal kochte. Ein Grüner sah Rot. Die Fraktion ging schier auf dem Kopf. „Es geht vielmehr knallhart um Definitionsmacht in Zeiten der Virtualisierung der Welt“, schwadronierte Matthias Güldner, „Ihre Anhänger kämpfen mit hoch effektiven Mitteln für die Rechtsfreiheit ihres Raumes.“ Der frenetische Applaus der rechtspopulistischen Bürger in Wut, deren sämtliche Mitglieder erschienen waren, wurde von den Christdemokraten freundlich unterstützt. So viel Wahlkampfhilfe hatte man freilich nicht erwartet.
Auch die Spur der Steine, die aus dem Netz auf den Fraktionsvorsitzenden der Grünen in der Bremischen Bürgerschaft geworfen wurden, war kaum zu übersehen. Güldner legte sogar noch nach. In einer hastig anberaumten Pressekonferenz, die nach der Kritik aus der Parteizentrale notwendig wurde, verzichtete er aus Zeitgründen auf eine Entschuldigung für sein zuvor abgesondertes Profilblech, was dem Bundesvorstand auch die Last nahm, das politische Klima weiterhin im Auge behalten zu müssen. Güldner bediente sich schwerer Geschütze, deren Bedienungsanleitung er nicht studiert hatte, schlimmer noch: er philosophierte. Dass argumentiert werde, die derzeit nur gegen bisher noch nicht nachgewiesene Kinderpornografie im Internet installierten Sperren könnten auch umgangen werden, ließ der Alternativpolitiker nicht gelten. Wer das behaupte, habe sich halt das Hirn herausgetwittert. „Gesetze abschaffen, wenn sie nicht eingehalten werden?“, rhetorisierte er. „Genauso gut könnte die Tatsache, dass Morde begangen werden, obwohl sie verboten sind, als Argument gegen den Mordparagraphen im Strafgesetzbuch angeführt werden.“
Die Mitarbeiter des ehemaligen Referatsleiters für Migration und Ausländerintegration ließen verlauten, dies sei keinesfalls ein Affront gegen in Deutschland existierende Parallelgesellschaften; vielmehr habe Güldner in die Pauschalbeleidigung sämtlicher Internetnutzer ausdrücklich auch alle deutschen Staatsbürger eingeschlossen.
Doch die politische Welt debattierte. Welcher Teufel hatte den Bündnisgrünen geritten, so sinnlos wie unflätig seine Wählerschaft anzugreifen? War dies etwa ein Komplott, um der Piratenpartei heimlich Stimmen zuzuschanzen? Gut informierte Kreise in der CSU munkelten gar, der Grüne mit der hohen Affinität zu Menschenrechtsfragen wolle es dem Freiherrn im Wirtschaftsministeranzug gleichtun und mit gezieltem Unfug vorbei an der bayerischen Figur die oberen Temperaturbereiche des Politbarometers einnehmen. Schaudernd sah man kommen, wie die Sprechpuppe der Sprechpuppe einer Sprechpuppe den Ökos einen Rang noch vor der SPD verschaffen wollte. Jetzt galt es. Jetzt oder nie.
Schnell fand sich in Bremen eine Abordnung von betroffenen Grünen, doch zögerten sie noch, seine Büroräume zu betreten. Es wurde schließlich hervorgehoben, dass die – bisher konsensuale – Bekämpfung verfassungsfeindlicher Äußerungen Vorrang haben müsse, buten un binnen. Um zu gewinnen, mussten sie etwas wagen.
Den letzten Anstoß gab die Anzahl der Parteiaustritte, die Güldners Spurwechsel gezeitigt hatte. Man stocherte dezent im Türschloss. Nichts. Der Mann war wie vom Erdboden verschwunden. Papierfetzen auf dem müslibraunen Teppichboden kündeten zwar davon, dass er eben noch greifbar gewesen sein müsse, doch bis auf den Glassturz mit dem Joschka-Fischer-Gedächtnispflasterstein und ein noch original verschweißtes Exemplar von Internet für Dummies sprach kaum etwas dafür, dass dies auch tatsächlich Güldners Arbeitszimmer gewesen wäre. Da entdeckten sie, dass der Computer nicht ausgeschaltet worden war.
Offenbar hatte der alte Fuchs ein abgefeimtes Spiel getrieben, wie die letzten Twitter-Nachrichten auf dem Bildschirm bewiesen. Ein ganzes Volk in Bausch und Bogen zu kriminalisieren war ihm nicht leicht gefallen, doch hatte der Wahnsinn Methode. Vor diesem Ansturm würde das BKA in die Knie gehen müssen. Was die Deutsche Bahn mit dreimal so vielen Schwarzfahrer-Strafanzeigen nie würde leisten können, Güldner schaffte es: Schäuble zog sich panisch ins Grundgesetz zurück. Bald würde an jeder Straßenecke ein Bündel Polizisten lauern, um §211 StGB zu überwachen, wie es Güldner dem Kriminalamt ins Ohr gezwitschert hatte, wohl wissend, dass kein noch aberwitziger Vorschlag im Wahlkampf unberücksichtig bleiben würde.
Tatkräftig unterstützt wurde er dabei von Julia Seeliger. Die Sahra-Wagenknecht-Raubkopie der Spontis apostrophierte ihren Feed ausdrücklich an die gesetzestreuen Abweichler, die sich dem Nachturnen der Ausrenkübungen verweigert hatten. „Heult doch“, höhnte ihr Feed, „wenn Ihr Euer verkorkstes Bild über Parteien habt, kann ich da auch nicht mehr helfen.“ Fasziniert von den Möglichkeiten der virtuellen Mobilisierung und hingerissen von ihrem eigenen Getwitter hatte die Pippi Langstrumpf des Web 2.0 genau im richtigen Moment gehandelt und trieb gegen den Strom.
Der Bundesvorstand traute seinen Augen nicht. Wenn man jetzt noch Folter forderte, konsequente Videoüberwachung der Republik, Geolokalisierung sämtlicher Mobiltelefone und eine Internetzensur, von der China nur träumen könnte! „Das ist die Chance“, jubelte Claudia Roth am Fernsprecher, „damit kriegen wir alles hin, alles! Den kompletten Atomausstieg! Weltfrieden! Und wenn wir uns ein bisschen anstrengen, klappt’s diesmal vielleicht sogar mit Tempo 100.“
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