Gernulf Olzheimer kommentiert (CCCXXXVI): Doku-Soaps

8 07 2016
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Wer will schon eine glückliche Familie sehen. Glückliche Familien, und sei es auch nur eine ganz und gar harmlose Zweierbeziehung mit obligatem Goldfisch, hinterlassen diesen unangenehm bitter vorwurfsvollen Geschmack auf der Zunge: wie kann ein Mensch so werden? Hat er’s nicht alles selbst vollendet? Und doch weicht er ab vom idealisierten Durchschnitt, hat einen anderen BMI, weniger auf dem Konto, kein postmodernes Kraftfahrzeug, und leistet sich keinen Traumurlaub, oder wenigstens zweimal zu wenig im Quartal. Sie sind alle schmähliche Versager. Die Zuschauer. Nur gut, dass man ihnen als Mittel der Abgrenzung nach ganz unten die Doku-Soap gelassen hat.

Das Konzept ist so einfach, dass es auch die Zielgruppe kapiert: Spannerfernsehen von und für sozial andersartig begabte Dummklumpen. Kein Programmgenre zieht derart viele Schimmelhirne in seinen Bann, die einen, weil sie endlich mal im Fernsehen sind, die anderen, weil sie nicht die einen sein müssen. Wer in diesem Kindertheater nun als Sieger im Hirnzellenweitwurf vom Platz geht, ist noch nicht geklärt. Es kommt auf den Einzelfall an.

Kleinere Kaliber probieren sich am Leben der anderen, wie wir es eh schon zu kennen meinen. Der Alltag von Polizisten und Parkwächtern fußt noch auf der moralingetränkten, im Krimi und der ubiquitären Gerichtsshow präsenten Erektion des Zeigefingers, wie er von Erbsünde, öffentlichem Recht und gesellschaftlicher Degeneration befleckte Hobbybrezeln in ihre Schranken weist. Zwei Nasen im Gefecht mit besoffenen Schwarzfahrern und dem drohenden Wohnungseinbruch wegen der durchreisenden Schlawiner – die Ordnungshüter im Sumpf der Verdeppung wecken den Wunsch nach der Falschparker-Gestapo samt mobilem Schafott, langsam, ganz langsam, sehr, sehr, sehr langsam (es handelt sich um Innenminister) bewegen die Länder sich, verbieten gezielte Verdusselung der Beamten, und die TV-Wirtschaft muss sich etwas Neues ausdenken. Das Problem ist, ihr fällt auch hier wieder etwas ein.

Flugs tritt man das Niveau noch weiter nach unten. Kurz vor der Erdkruste entdeckt die Firma den Dauerbrenner Schadenfreude, der noch jedes beknackte Format gerettet hat. Niedermolekular verzahnt mit einem Voyeurismus sadistischer Art sucht sich das seine Opfer. Adipöse mit Haarausfall, Bildungsferne mit Sprachfehler, beziehungs- und triebgestörte, psychisch beeinträchtigte Honks im Urlaub, auf Partner- oder Jobsuche, kurz: der sich als geistig gesund einschätzende Querkämmer sieht ihren Resozialisationsversuchen beim Scheitern zu, nimmt seinen eigenen Hirnschaden aber nicht wahr.

Das Setting garantiert, dass eine der aus wirrem Genmaterial zusammengecasteten Schnackbratzen die intellektuelle Abwrackprämie der ganzen Folge kassiert haben muss, wodurch sich eine an leisen Brechreiz gemahnende Fremdscham breitmacht. Was dort an vor dem Spaßkarren weggehüpften Maultieren seinen unsortierten Verbalmüll ins unschuldige Medium absondert, während es sich von Fett und Zucker ernährt, selbstreferenziell TV-Trash konsumiert und die Kinder auf ein Leben im Abseits vorbereitet, löst bei den Fachleuten für angewandte Sozialpornografie allenfalls wohligen Grusel aus. Zwischendurch watet ein Spitzenkoch durch bröckelndes Küchenmobiliar und zieht aus Wasserdampf und billigen Sprüchen ein Restaurant aus der Fünftklassigkeit. Hinterm Baum hervor balzt ein abgehalfterter Landwirt, trifft frontal auf eine Schwiegermutter aus welkendem Polyester mit Sprech- und Schluckmodul, Totalschaden, aus. Das Ergebnis ist unscharf hingequarkter Matsch, den der Schnitt nicht einmal mit der Axt retten könnte, aber was kümmert das Unterschichtsgucker, die mit dem entsprechenden Pegel eh nicht aufnahmefähiger sind als eine gebrauchte Hundewindel.

Die Realität hält dem Mist leider nicht Stand und muss auf die Schnelle aufgefettet werden. Schon entsteht, was als Scripted Reality bekannt wurde. Zwar eine Realität, wie sie im Frontallappen eines triebgestörten Schwerstalkoholikers nach gründlichem Schlafentzug entsteht, wenn er kurz vor Abgabeschluss mit der Birne an den Balken bumst, aber immerhin eine Art Realität. Es wurden schon Weltreligionen aus weniger tragfähigem Material zusammengeschwiemelt.

Wahrscheinlich haben sich die Knalltüten auf dem Sofa längst damit abgefunden, dass keins der im Suff entstandenen Schauermärchen auch nur einen Funken Wirklichkeit enthält, dafür Blut und Tränen, Schweiß und Scheiße. Wer denkt, die aus Emotionen und Selbsterniedrigung geschwappte Gülle habe der überlebt, der sich als dicht am Zuschauer positionierte Figur auf der Schussfahrt zur Nachahmung empfehle, der irrt gewaltig. Es sind die glücklich Dummen, die den Dreck ohne Hirnembolie wegstecken, die inwendig blondierten Blödföhnaushilfen, die ihr zur Existenz geronnenes Torkeln im Schrott wegstecken, weil das Langzeitgedächtnis nicht mehr auf die Reihe kriegt. Auch die kann man beneiden um ihr Kollektivkoma und das Glück, doof zu sein wie ein Prellbock. Aber dann wäre man ja ein Pharisäer.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCXXXVIII): Quoten-TV

25 04 2014
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Früher – aber da waren die Gummistiefel noch aus Holz, man konnte noch drei Tageszeitungen lesen, aus denen nicht derselbe gleichgeschaltete Dreck quoll, und schaltete man den Fernseher an, so hatte man da ein Programm. Noch eins. Und noch eins. Und bisweilen lohnte es, ein Stündchen für das neue Medium freizumachen, denn es ließ die Betrachtung zu, dass es wie einst die Dichter nützt und unterhält. Dann kam die Quote.

Wer heute zu ziviler Tageszeit den Empfänger anknipst, zur Hinrichtung eines Urlaubstages oder ähnlich selbstgeißlerischen Zwecken, wird ad hoc mit dem Auswurf der telemedialen Resterampe vollgesülzt. Infantile Gewinnspiele, beschämend schlechter Dokuschrott mit naturidentischem Realitätsimitat, Seifenoperetten minderer Güte lassen die Matschscheibe von innen beschlagen, den Bildungsauftrag sucht man vergeblich. Dabei macht es noch nicht mal einen Unterschied, ob es sich gerade um die öffentlich-schrecklichen Kohleverbrennungsanlagen mit parteiintegrierten Verblödungsbeauftragten handelt oder um den Wurmfortsatz der Werbeindustrie. Mit Sicherheit sieht man Seichtmatrosen im Flachwasser dümpeln, da nur so die Ziele der Investoren zu erreichen sind: zwanzig Prozent Rendite, und ein Volk, das vor lauter Hirnweichheit den Beschiss nicht riecht.

Das Quoten-TV will in die Schlagzeilen, und es tritt den Marsch an mit der Brechstange in der Hand. Wo immer Polarisierung notwendig scheint, schalten die Sender auf Provokation. Dreck fressen, Eltern und Kinder demütigen, Jugendliche zum Jodeln oder Modeln vor die Jury schicken, damit einer nach dem anderen aufs Maul kriegt, mehr braucht es heute nicht mehr, um eine komplette Familie, WG oder Therapiegruppe vor die Glotze zu bekommen. Was allen Guckreiz verursacht, kann ja so schlecht nicht sein, und wenn man schon das geistige Lumpenprekariat auf dem Schirm hat, bekommt man es auch am besten in intellektueller Flachlage ins Schleppnetz. Nirgends stellt sich die kranke Gesellschaft in Frage, nur das auf die Spitze getriebene Selbstbild könnte das tun – und welcher Lemming würde eigens von der Klippe hüpfen, um im Sinkflug in den Reflexionsmodus zu wechseln?

Das probateste Mittel, um die Grütze großflächig in den Schädel der Beknackten zu kleistern, ist die perennierende Wiederholung. Im Jahresrhythmus trieft einmal gekaufter Schmonzes aus der Leitung, gerne zu den Zeiten, in denen nach aller Schätzung obere Lohngruppen keine Spots für Premium-Konsumgüter rezipieren, weil sie gerade im Meeting pennen. Die Blödelbeiträge, in denen sich regelmäßig der vergorene Hirnblubber der Medienredaktionen absetzt, wo erbärmliches Personal überflüssige Filme dreht – eine Tüte Lurchlaich wird wegen mangelnder Mimik nicht mit Til Schweiger besetzt, während Ferres und Neubauer sich selbst spielen, wie sich gegenseitig imitieren – wird aus Boshaftigkeit und Prinzip von der Wirklichkeit in den Schatten gestellt. Nur noch aus Bordmitteln und grob massenkompatiblen Geschmacksverstärkern zusammengequirlte Skripte überstehen das Sperrfeuer der Sparfeuerwehr, die ihre quasi verbeamteten Schmalzbrocken der Nation an der kurzen Leine in die Produktion prügelt. Was sich als Star dünkt, sind letztlich nur leibeigene Hackfressen, die auf der Gulagsuppe um ihr Leben paddeln und nach einer Runde in der Endablagerung landen, wenn sie nicht brav in die Kamera hampeln.

Natürlich ist das nach Maßgabe ökonomischer Hominiden als Einheitsbrei für die große Mehrheit gedacht, vulgo: farbige Demokratiesimulation mit optionaler Pinkelunterbrechung. Doch ist die Achse des Blöden derart verdellt, dass sie nicht mehr registriert haben, wie die schweigende Mehrheit ihre Fernseher auf der Deponie ausgesetzt und das Netz zum Ersatz heranziehen. Um noch die letzten Deppen auf der Couch anzutackern, das verbliebene Potenzial an wehrlosen Opfern, quarken ihnen die Sender längst verweste Wiedergänger aus dem prähistorischen Bereich rein: die Angst, dass mit der ersten Veränderung der erste hirntote Gucker reflexartig abschaltet, trifft auf die hysterische Hoffnung, durch niveausenkendes Material den Dämmerschlaf der Vernunft in die Ewigkeit zu verschwiemeln. Um sich für diese Nullleistung bei den politischen Entscheidungsträgern Absolution zu erschleimen, krempeln sie die Kausalkette einfach auf links – das, was man dem Zuschauer nun dies- wie jenseits der Körperverletzungsgrenze zumutet, bekommt er nur, weil er es so will. Und er will es nur, weil er eh nichts anderes bekommt. Und er bekommt es nur, weil…

Sollte es ein Format geben, möglichst auf einem 24-Stunden-Live-Sender, in dem die jetzigen Protagonisten dieses unsortierten Bilddurchfalls auf kreative Art ihrer gerechten Strafe zugeführt würden, die Anstalt bekäme einen Ehrenplatz in der Ruhmeshalle des Weltkulturerbes. Auch wenn jetzt schon klar sein dürfte, dass Markus Lanz den ganzen Sabber moderiert.





Sendeschluss

23 01 2014

„Und wissen Sie, was Sie jetzt gewonnen haben?“ Doktor Happonen setzte ein Häkchen auf der Liste, während der dicke Mann mit dem schütteren Haar schnaufend durch das kleine Zimmerchen turnte. „Wissen Sie, was Sie jetzt gewonnen haben? Wissen Sie das!?“ Seine Begeisterung war schier nicht zu bremsen.

„Früher oder später kommen sie alle zu mir.“ Doktor Happonen war von einer stoischen Ruhe, die noch einer Betonwand gespottet hätte. „Ich kenne die Branche. Bei manchen dauert es etwas länger, manche sind auch zweimal hier, und manche – aber Sie sehen es ja selbst.“ Der Patient war wohl einmal ein bekannter, wenn nicht gar berühmter Quizmaster, dessen Namen nur keiner mehr wusste. Ständig trippelte er durchs Zimmer, als suchte er die Kamera. „Und das hier haben Sie gewonnen!“ Er verbeugte sich vor imaginären Beifallssalven. „Das ist durchaus nicht ungewöhnlich“, informierte mich der Therapeut. „Die meisten Sendungen werden ja heute völlig ohne Zuhilfenahme von Publikum aufgezeichnet, und in den Proben lernt man auch, sich ohne die Applauskonserve zu verbeugen.“ „Der aktuelle Stand unserer Unterhaltungsindustrie“, antwortete ich düster, „lässt zu wünschen übrig.“ „Ach was“, gab er gleichmütig zurück. „Das ist nicht der aktuelle Stand. Heutzutage produziert man längst Sendungen ohne Zuhilfenahme von Zuschauern.“

Zwei alternde Matronen in Dirndlschürzen vollführten eine Art volkstümlichen Rheumatismus, eine Tür weiter lief ein schwer impulsgesteuerter Mann im verwaschenen Trainingsanzug auf, wie er selbst meinte übrigens zur Hochform. „Hier! Kennter, kennter? Kennter? Ja, kennter?“ „Lassen Sie ihn doch bitte endlich kentern“, grummelte ich, aber der Doktor hielt mich zurück. „Drehen Sie sich mal zur Seite.“ Kaum hatte ich das Gesicht ein bisschen bewegt, sackte der im Ballonseidenanzug in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihm gelassen. „Jetzt einmal kurz hingucken.“ Ich starrte ihn an. „Kurz“, mahnte Doktor Happonen, doch ich war nicht schnell genug. „Hier, Bad Bederkesa! Be-der-ke-sa! Kein Witz, kein Witz!“ Ich musterte aufmerksam meine Schuhspitzen, aber er hatte schon zu hyperventilieren begonnen. „Hier, kennter doch, Bederkesa!“ Noch zappelte er, aber lange würde er es nicht mehr durchhalten können. „Bederkesa!“ „Wie Sie sehen, haben wir auch hier das Problem, dass wir die falschen Leute im Fernsehen auftreten lassen. Aber was sage ich Ihnen, gleich gegenüber ist ja der beste Beweis für meine Theorie.“

„Sie sind also für Atomstrom?“ Ein etwas streng gescheitelter Typ im glänzenden Jackett – offenbar aus demselben Stoff, aus dem auch der Trainingsanzug des abgehalfterten Komikers bestand – drängte sich an die Tür und versuchte gleich, mich am Kragen zu packen. Doktor Happonen hielt sofort seinen Arm dazwischen. „Also sind Sie für Atomstrom. Wie können Sie in so einem Fall eigentlich Kinder in die Welt setzen?“ „Ich habe gar keine…“ „Ach was“, schrie die schmierige Gestalt. Verdammt, ich war ihm auf den Leim gegangen. „Weil Sie keine Kinder haben, glauben Sie natürlich sofort, Sie müssten für Atomstrom sein. Und das finden Sie gut, ja!?“ Da war nichts zu machen. Aber ich hatte auch so keine Chance mehr, denn er führte seinen Dialog einfach ohne mich weiter. „Und weil Sie gegen Atomstrom sind – lassen Sie mich jetzt mal ausreden! weil Sie strikt gegen Atomstrom sind, Sie haben ja nicht gesagt, Sie wären dafür, dann sind Sie also dagegen, und deswegen muss ich jetzt meinen Kindern erklären, warum Sie keine haben, die dann meine Rente bezahlen? Also sagen Sie mal, Rente: ja oder nein? Und finden Sie Ihre Antwort eigentlich gut? Oder doch?“ Doktor Happonen klappte die Tür zu. „Man kann Sendungen nicht nur ohne Zuschauer produzieren“, befand ich. „Bei manchen sollte man es sogar.“ „Aber das ist nur eine andere Symptomatik desselben Fehlverhaltens. Es ist wie drüben.“ Happonen zeigte mit dem Daumen zu dem Komiker, der noch immer keuchend durch seine Kammer torkelte. „Sie wollen gar nichts darstellen, sie können auch gar nichts darstellen. Nur sich.“ Ich runzelte die Stirn. „Dann stellen sie ja wenigstens etwas dar.“ Er schüttelte den Kopf, leise, aber aus Gewohnheit vollkommen frei von Resignation. „Kaum. Sie sind ja nichts.“

Rhythmisches Schlurfen und ein seltsamer Singsang waren aus dem Zimmer mit dem großen Fenster zu hören. „Baby“, gab die Stimme bekannt, „Baby, heut’ Na-hacht, oh Baby!“ Das Hüftwackeln war durchaus gekonnt, zwar nicht für meine Zielgruppe gedacht, aber technisch einwandfrei. Hier war ein Könner am Werk, ein großer Bühnenstar, wie er lasziv mit dem Mikrofon am Bühnenrand entlang schlurchte. „Welch anmutige Verwendung der Haarbürste“, flüsterte ich fasziniert. „Der Mann hat echt Talent.“ Er musterte mich und schlenkerte mit seinen ausladenden Schritten in meine Richtung. „Für Dich bin ich immer noch Der Händler, klar!? Aber Du darfst Händler zu mir sagen.“ Ich fühlte mich geschmeichelt. Der Doktor hakte die Liste ab. „Austherapiert“, sagte er trocken. „Morgen ist Entlassung, wir brauchen den Platz für einen hartnäckigen Rechtspopulisten, der sich nicht aus den Talkshows entfernen lässt.“ Und er klopfte dem Sänger beruhigend auf die Schulter. „Sie haben Glück, junger Freund.“ Der Mann strahlte. „Wir bringen Sie ganz groß raus.“





Trennkost

28 05 2013

„Und dabei habe ich sie wirklich geliebt.“ Robbie Fundusi, der bekannteste drittklassige Gitarrist der aktuellen Popmusik, litt intensiv in die Kamera. „Noch mal“, schnarrte Siebels. „Und noch etwas leidender. Die Leute kommen doch sonst auf den Gedanken, dass Sie die Alte gar nicht schnell genug loswerden könnten.“

Die graue Eminenz der deutschen TV-Produktion lehnte sich behaglich zurück. „Wir haben gerade eben noch den Zuschlag bekommen“, informierte er mich, „die anderen Kanäle hätten uns um ein Haar die Rechte vor der Nase weggeschnappt. Aber jetzt sind wir am Drücker. Und es wird das Format des Jahres.“ Robbie Fundusi, manche kannten ihn aus vollkommen unbekannten Bands, nicht verkauften Soloalben und einem vorzeitig abgesetzten Werbespot für WC-Lufterfrischer mit Fichtennadelduft, er trennte sich nach knappt zwei Jahren ehelicher Gemeinschaft von der Sängerin und Schauspielerin, deren Namen ich am Morgen noch nicht gekannt hatte und den ich bis zum nächsten Tag sicher würde vergessen haben. „Die kleine Blonde da?“ Siebels schüttelte den Kopf. „Das ist die Regieassistentin. Die da drüben. Tini Tornado. Merken Sie sich den Namen gar nicht erst, sie ist – ach, egal.“

Der Einspieler zeigte Bilder aus besseren Tagen. Ein furchtbar verliebtes Liebespaar richtete die gemeinsame Wohnung mit geschmacklosen Möbeln ein, während der Weichzeichner verdeutlichte, dass sie momentan auf die ordnende Funktion ihres Großhirns würden verzichten müssen. „Sie ist so romantisch“, säuselte der Barde, „sie stellt alles mit diesen rosapinkroten Sachen voll.“ Eingesuperte Herzchen verpickelten die Bildschirmoberfläche. „Wer hat sich denn diesen Schrott ausgedacht“, höhnte ich. „Ich“, antwortete Siebels ungerührt. Ich zuckte zusammen. „Das Fernsehpublikum will eine Wunschvorstellung, es will große Gefühle, und es will irgendwelche Knalltüten, auf die es diesen emotionalen Schmadder projizieren kann. Wir haben sie damals für teures Geld gekauft und ihnen eine Traumhochzeit ausgerichtet. Sie mussten nur noch ins offene Messer laufen.“ Er schlürfte an seinem Automatenkaffee.

Tini Tornado war unterdessen sehr bemüht, sich um einige kitschige Porzellanfigürchen zu zanken. „Die kommen aus Paris“, heulte sie, „das war der schönste Urlaub meines Lebens!“ Ich blickte Siebels verständnislos an. „Wenn ich es bis hierher richtig verstanden habe, hat sie die Scheidung eingereicht und möchte nicht mehr an diese Ehe erinnert werden. Warum also sollte sie ein Souvenir aus einem Urlaub mitbringen, wenn sie sich gar nicht mehr daran erinnern will?“ Er winkte ab. „Natürlich kann sie sich nicht mehr erinnern, sie war damals ja viel zu betrunken. Und falls es Sie interessiert, die Dinger da hat sie sich in einer Online-Auktion gekauft. Vorige Woche. Wir mussten dies Haus ja einigermaßen herrichten, bevor wir es wieder ausräumen.“ Tini pfefferte die anscheinend kostbaren Schäfer und Tänzerinnen in einen Pappkarton. So viel wert waren sie wohl doch nicht.

Ich warf einen Blick auf Siebels’ Klemmbrett. „Sie haben vor, den kompletten Rosenkrieg dieser beiden Popsternchen zu einer Samstagabendshow zu machen?“ Er schüttelte den Kopf. „Falsch, das würde nur einen unzureichenden Eindruck bei den Zuschauern hinterlassen. Man kann nicht in die Tiefe gehen. Man kann nicht psychologisieren. Das erfordert mehr Aufmerksamkeit.“ Ich wollte schon aufatmen, als er fortfuhr. „Wir machen daher eine achtteilige Serie.“

Auch Robbie Fundusi, mit bürgerlichem Namen Hans-Robert Fönskes, bekam noch eine Soloszene. „Dabei habe ich sie wirklich geliebt“, beteuerte er und blickte sich hilflos um. „Also wirklich jetzt, echt voll total und so.“ „Schnitt“, schrie es von hinten. Da platzte es aus dem Möchtegernstar heraus. „Ich kann so nicht arbeiten! Hier muss zufällig meine Gitarre im Bild stehen und ein angeschlossener Verstärker!“ Siebels winkte genervt ab. „Er muss natürlich noch sein neues Album promoten, aber zweimal reicht. Lassen wir ihn machen, den Kram können wir hinterher immer noch rausschneiden.“

Interessanterweise besprach er sich gerade mit Tini, wer die nächste Szene im Wohnzimmer des halb möblierten Bungalows drehen sollte. „So gut scheinen die beiden sich aber doch noch nicht auseinandergelebt zu haben“, spottete ich. „Das lassen Sie mal nicht die Scheidungsanwälte der beiden sehen.“ „Wozu?“ Siebels blieb kalt. „Sie haben nie zusammengelebt, die ganze Ehe war ein halbwegs gelungener PR-Gag, und mehr war wohl auch nicht zu erwarten gewesen.“ Ich musste einen kleinen Augenblick zu lange gezögert haben. „Sie glauben wirklich, wir machen das, weil sich zwei Produkte der Popindustrie zufällig verlieben? Das nenne ich mal naiv.“ „Aber warum dann eine Scheidungsshow?“ „Weil das in jeder Beziehung der Kernzielgruppe irgendwann mal ansteht“, gab Siebels zurück. „Wir laden den Hochzeitskrempel mit Emotionen auf, und jetzt tun wir dasselbe mit der Trennung. Das Publikum soll doch wenigstens einmal das Gefühl haben, so menschlich zu sein wie ihre prominenten Vorbilder.“ „Ach Sie“, rief Tini dazwischen, „Sie wollten uns doch eine Schrankwand und die Einbauküche ins Haus liefern, die wir uns ausgesucht hatten. Wir müssen mich doch noch darüber streiten, wer die behalten darf.“





Echt jetzt

20 12 2011

„Lass mich endlich in Ruhe, doofe Kuh!“ Die junge Mutter war außer sich vor Zorn „Leon-Balthasar“, fauchte sie, „wie oft habe ich Dir gesagt, dass Du Dein natriumarmes Wasser austrinken sollst! Wenn Du jetzt nicht artig bist, kommst Du nicht in den Golfverein und musst mit Kindern von Arbeitslosen spielen!“ Siebels nuckelte an seinem Plastikkaffee. „Großartig“, murmelte er. „Die Alte ist wirklich fantastisch. Das Scheißbalg auch. Großartig. Man möchte auf der Stelle kotzen.“

Die Maskenbildnerin puderte die Dreißigjährige ab und richtete ihr ein paar Stirnfransen mit einigen Stößen aus der Sprayflasche. Der Regieassistent gestikulierte wild. „So von hinten“, markierte er, „dann können Sie ihm den Arm auf den Rücken drehen. Das sieht unheimlich schmerzhaft aus, ist es aber nicht, wenn das Opfer eingeweiht ist.“ „Kenn ich“, brüstete sich das Kind. „Hatten wir in der letzten Serie. Da hab ich voll eins in die Fresse gekriegt von meiner Mutter. Die spielt heute hier die Jugendstaatsanwältin.“ Der Regieassistent blätterte unschlüssig das Skript durch. „Davon weiß ich gar nichts. Haben wir eventuell das Drehbuch für diese Folge geändert?“ Siebels war unbemerkt dazugetreten. „Die Staatsanwältin haben wir zur Vorsicht, und dann schauen wir mal, wie sich die Episode entwickelt. Wenn er in dem Konflikt mit seinem Vater wirklich gut rüberkommt, können wir ihn das Auto in die Luft jagen lassen. Da wäre dann automatisch die Polizei mit im Spiel, weil es einen schwerverletzten Passanten gibt, und dann wird er ins Erziehungsheim gesteckt.“

Und schon lief das muntere Treiben weiter. „Sagen Sie mal“, fragte ich den TV-Erfinder, „übertreiben Sie es nicht ein bisschen mit Ihrer geskripteten Realität?“ Er blickte mich mit einer Mischung aus Langeweile und Erstaunen an. „Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz – war das etwa ernst gemeint?“ „Natürlich. Ein Drittel der Zuschauer ist der Überzeugung, dass es sich bei dem Schmodder um nichts als die abgefilmte Wahrheit handelt.“ Er grinste. „Sehr gut, zumindest für den Sender. Genau das Publikum ist doch das Rückgrat eines typischen Prekariatsprogramms. Wer diesen billig gestrickten Sozialporno für bare Münze nimmt, ist auch der ideale Werbekunde. Die fragen nicht nach, was die Werbung ihnen sagt, muss stimmen, sonst wäre es ja nicht im Fernsehen.“ „Das Medium ist die Botschaft“, seufzte ich. „Ganz recht“, tröstete er mich. „Aber nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, es stimmt mehr, als Sie bisher angenommen hatten. Und es ist gar nicht einmal so schlecht.“

Die Mutter hatte nun Verstärkung von einem sichtlich genervten Gatten bekommen. Er war noch nicht ganz zur Tür herein und bekam schon einen Wutanfall. „Was heißt hier Sitzenbleiben“, tobte er. „Hast Du dem Anwalt schon gesagt, dass er den Klassenlehrer fertigmachen soll? und den Direktor? und das Schulamt weiß auch noch nicht Bescheid? Was mache ich hier eigentlich den ganzen Tag?“ „Du arbeitest“, versuchte es seine Frau schüchtern. Da explodierte er. „Richtig, ich arbeite!“ Fast fegte er mit seinem Gefuchtel die westafrikanischen Skulpturen (zweifelsohne billige Replikate, die Originale hätte man nach dem Diebstahl in einen Safe gepackt, aber sicher nicht in eine Bauhaus-Schrankwand mit Halogenstrahlern) „Ich arbeite, während Du Dir hier mit Deinem Sohn, dem Sitzenbleiber, einen schönen Tag machst! Wenn Du keine Lust mehr auf mein Geld hast, dann sag es doch einfach!“ „Echt jetzt, Ihr seid alle beide doof“, verkündete der Halbwüchsige, marschierte in die Küche und öffnete eine Limonadenflasche. „Leon-Balthasar“, ließ sich der hysterische Muttersopran vernehmen, „keine Limonade! Ich will nicht, dass Du Limonade trinkst!“ „Dann kauf das Scheißzeug doch nicht“, brüllte der Junge zurück. „Du trinkst nur Gin, weil der wie Mineralwasser aussieht, Papa trinkt nur Bier und Kaffee, um nicht mit einer Bierfahne ins Büro zu kommen, und Du schmeißt jede Limo weg, sobald ich sie angebrochen habe.“

„Lassen Sie mich raten.“ Siebels blickte mich belustigt an. „Was wollen Sie denn raten? Wer hier als erster die Nerven verliert?“ „Nein, ich frage mich nur nach Ihrer Intention.“ Der altgediente Fernsehmacher lächelte. „Was vermuten Sie denn? dass ich diese elitären Schnösel als Feindbild aufbaue?“ „So in etwa“, bestätigte ich. „Allerdings wüsste ich nicht, warum das nun sonderlich toll sein sollte. Was ist denn nun neu? Haben Sie etwa heimlich arbeitslose Kleindarsteller angeheuert, um dieses Millionärspack zu spielen?“ „Besser.“ Siebels grinste von einem Ohr zum anderen. „Viel besser. Es ist gar nicht gespielt. Es ist ein Skript, aber durchaus Realität.“ Die Mutter schwankte schon gefährlich. Der Regieassistent reichte ihr einen Flachmann. „Die säuft ja echt“, stieß ich hervor. Siebels kicherte. „Warum sollte sie auch nicht saufen, schließlich ist die Frau schwer alkoholabhängig. Nennen Sie’s Method Acting. Auf jeden Fall sind das drei stinkreiche Sozialfälle, die ihr beschissenes Leben vorführen. Die Politik, vor allem die Sozialpolitik entwirft ihre hirnrissigen Konzepte ja vorwiegend anhand dieser Sendungen, mehr sehen sie nicht von der Realität. Warum sollten sie also nicht auch mal über die sogenannte Elite aufgeklärt werden?“ „Man muss es glauben, und wenn man es besser wissen sollte, dann glaubt man es erst recht?“ Er nickte. „Und dafür sorgt das Format. Und da alles, was im Fernsehen ist, der Wahrheit entspricht…“ Er nippte am Kaffee. „Das Medium ist die Botschaft. Und jeder Widerstand ist zwecklos.“





Der reine Wohnsinn

21 04 2011

„Herzlichen Glückwunsch, Herr äääh… also wir kommen dann mal rein.“ Die dicke Blondine versuchte, sich an mir vorbei in die Wohnung zu rollen. Aber ich blieb breitbeinig in der Tür stehen. „Jetzt machen Sie doch mal Platz“, quengelte sie, „wir kommen ja gar nicht rein!“ „Genau das ist auch der Sinn der Sache“, teilte ich ihr ungerührt mit. „Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie hier wollen, ich weiß nur, dass Sie damit keinen Erfolg haben werden.“ Jonas tauchte plötzlich aus der unüberschaubaren Menge von Menschen auf dem Treppenabsatz auf und zog mich beiseite. „Jetzt lass doch Sina erst mal reinkommen. Dann kannst Du es Dir immer noch überlegen.“

Sina Wippstock, wie mir Jonas auf dem Weg in die Küche beibrachte, wollte nur mein Bestes. Wahrscheinlich stürzte sie sich mir ihren Begleitern aus genau diesem Grund auf das Bücherregal. „Das kann man dann gleich mal weg hier“, verkündete sie. „Günni haut dann die beiden Sljörksvigs aus Buche furniert rein, ja?“ Schon fingerte Günni an den Pfosten. „Was machen diese Vollidioten da?“ „Reg Dich doch nicht gleich auf“, beschwichtigte Jonas meinen aufbrandenden Zorn, „Sina macht doch diese Sendung mit den Möbeln, und wir dachten, da Du gerade erst Geburtstag hattest…“ „Das war vor zehn Monaten“, erwiderte ich trocken. „Was will dieser Trampel hier?“ Statt einer Antwort ging Günni zu Boden „Das kriegt man gar nicht raus hier“, jammerte er, „ich brauche eine Säge!“ Jonas wurde bleich. „Halt, die sind in die Wände eingebaut!“

„Wo stell ick det hin?“ Ich konnte den Mann mit der Latzhose gerade noch davon abhalten, seinen Metallkoffer schwungvoll auf den Schleiflack zu hebeln. „Schaffen Sie mir diese Idioten vom Hals“, schrie ich. Das rührte den Mann mit der Kabeltrommel nicht. „Wer waren Sie noch gleich?“ „Das ist meine Wohnung“, brüllte ich, „und Sie sind derjenige, der sie gleich über die Balkonbrüstung verlässt!“ „Reg Dich nicht auf“, stöhnte Jonas. „Reg Dich jetzt bloß nicht auf – aber ich hatte Sina erzählt, dass Du heute Geburtstag hast, und deshalb wollten sie die Folge schon heute Abend – he, wo willst Du denn hin?“ Ich rollte unterdessen Kabel auf und schob zwei Scheinwerferstative wieder aus der Küche heraus. „Ich zähle bis zehn, und dann hat der Letzte diese Wohnung verlassen! Sieben, acht, neun…“ „Wippstock mein Name.“ Offenbar war sie erst jetzt dazu gekommen, die Situation abzuschätzen. „Was machen wir denn jetzt? Ich muss doch bis sechs Uhr eine Folge im Kasten haben. Können wir vielleicht irgendwo hier im Haus…“ Jonas und ich blickten einander an. „Sigune“, sagten wir, wie aus einem Mund.

„Herzlichen Glückwunsch, Frau äääh… also wir kommen dann mal rein.“ Schon stand die ganze Mannschaft im Flur der esoterischen Nachbarin. Lavendelräucherstäbchen hatten einen erkennbaren Duft hinterlassen, leise grunzten tibetische Mönche meditativen Singsang vor sich hin, eine Armada von Grünpflanzen wippte im milden Sonnenlicht. „Wo stell ick det hin?“ Der Latzhosenmann steckte den Kopf unschlüssig in die Tür; hier war kein Rein- und kein Durchkommen.

Günni drückte mir die Kamera in die Hand. „Machen Sie mal, Sie schaffen das schon. Ich muss gleich mal eben runter, die beiden Sljörksvigs holen und den Örneblorbel.“ „Den was?“ „Klapphocker, weiß lackiert und abwaschbar, im Doppelpack mit Sitzkissen Snokkekøppar.“ Sina Wippstock zwängte sich zwischen mehreren Messingkübeln hindurch ins Wohnzimmer. „Ihr könntet hier das Gestrüpp rausholen und dann ein bisschen Dekostoff über die Couchgarnitur machen, ja?“ Sigune war verwirrt. „Was soll das hier werden? Was machen Sie da?“ Die beiden trafen erste Anstalten, das Mobiliar durcheinander zu kegeln, hatten aber nicht mit der Geschwindigkeit gerechnet, mit der Sigune sich ihnen in den Arm warf. „Sie dürfen das hier nicht verrücken, sonst ist das Chi gestört!“ „Wir kaufen Ihnen ein neues“, tröstete Günni die entsetzte Frau im wehenden Seidengewand, die mit ihren Spiegelaufnäherchen durch die Wohnung blinkerte. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Sie da anrichten? Trixi, Thyra, Tabitha, verzeiht ihm!“ Günni schaute sich irritiert um. „Ist hier jemand?“ „Sie redet mit ihren Topfblumen“, informierte ich den Assistenten. „Seien Sie bloß vorsichtig, sonst schlägt das Gestrüpp aus.“

In der Zwischenzeit hatte der latzbehoste die Elektrik aus dem Dachgeschoss wieder nach unten geschleppt und rollte einige Lampen durch Sigunes Flur. „Wo stell ick det hin?“ „Schließ erst mal die Leuchten an“, beschloss die TV-Tante, „wir machen dann gleich Lightcheck, ja?“ „Ein Sljörksvig haben wir da“, verkündete Günni. „Stell doch mal jemand wenigstens einen Hocker ins Bild, sonst kriegen wir noch Ärger mit dem Sponsor.“ Jonas drückte sich vorsichtshalber nur im Hausflur herum und ließ sich gar nicht erst blicken. „Ich brauche Li-hicht“, jodelte Sina. „Det hammwa gleich“, brummte der Techniker und zog den Stecker an der Fußleiste. Im Nu verstummte das monotone Geplätscher des Zimmerspringbrunnens. Sigune riss ihm das Kabel aus der Hand. „Das Chi ist zerstört! Der ganze Energiefluss gerät außer Kontrolle!“ Ich deutete zum Ausgang, aber er verstand nicht. Plötzlich hielt Sigune ein monströses Buschmesser in der Hand. „Ihr werdet dafür büßen, dass Ihr mein Chi kaputt gemacht habt!“

Mit quietschenden Reifen verschwand der Kleinbus um die Straßenecke. „Wir könnten heute Abend ins Kino“, überlegte Jonas. „Im Fernsehen kommt ja wohl wieder nichts Vernünftiges.“





Keinhirnhasen

19 10 2010

Er war in Ungnade gefallen. Sie hatten ihm bis zuletzt zu helfen versucht, selbstverständlich nach ihren eigenen Spielregeln, aber ihm war nicht mehr zu helfen. Sie mussten Til Schweiger fallen lassen. Er war im falschen Augenblick ausgestiegen.

Noch tags zuvor hatte die Boulevardpresse das Propagandaspektakel rund um das Kinderschänder-Alibi bejubelt; vertragsgemäß war Schweiger erschienen, hatte sich für BILD ablichten und zitieren lassen. „Wo ist der empörte Aufschrei über diese widerlichen, armseligen Schweine“, fragte es betroffen aus dem Schauspielerdarsteller, „warum macht man sich mehr Gedanken um die Privatsphäre von einem Mann, der Kindern pornografische Fotos von sich schickt und sich dann mit ihnen verabredet?“ Verlag und Redaktion rieben sich die Hände, die Auflage sank nur unwesentlich mehr als prognostiziert. Der Unterschichtensender sah einer weiteren Folge mit Stephanie zu Guttenbergs Schrillshow entgegen. Medienrechtler hatten die Risiken abgeschätzt, ausgewogen und für tragbar erklärt, es würde sich um ein paar Hunderttausend Euro handeln, um ein bis höchstens zwei Menschenleben, kalkulierbare Kosten, wie sie dem Alltagsgeschäft entsprächen. Kein Grund zur Sorge. Niemand ließ sich aus der Routine bringen. Alles ganz geschmeidig.

Schweigers Anwälte ließen in der Presseinfo verlauten, jede weitere Zusammenarbeit mit Verlag und Redaktion von BILD sei vorerst nicht mehr denkbar. Ihr Mandant müsse sich vor allem jetzt davor schützen, die zahlreichen in zu Guttenbergs Missbrauchsmissbrauch verwirklichten Straftatbestände billigend zu erscheinen; dies sei nicht der Fall. Er distanziere sich ausdrücklich von stern und BILD sowie von RTL II. Für Interviews stehe der Leinwandler nicht mehr zur Verfügung. Das Bundesverteidigungsministerium war nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Kai Diekmann tobte.

Der Leitkulturbeauftragte des bundesdeutschen Präpotenzjournalismus, Franz Josef Wagner, gab den ersten Schuss ab. „Es macht mich schon sehr betroffen“, schrieb er, „wenn pauschal der Eindruck entstehen sollte, dass es Menschen gibt, die sich gegen die massenmediale Aufarbeitung von kinderpornografischen Inhalten zur besten Sendezeit mit den einträglichsten Werbeplätzen sträuben. Das ist nun wirklich eines der wichtigsten Vorhaben in vielerlei Hinsicht.“ Schweiger, so der Doyen der Gestrigen, sei ein besonders schwerer Fall; zwar habe er nie auf der Seite der Bösen gestanden, er habe allerdings – und das sei weitaus schlimmer – mit Springer gebrochen. Was nun folge, sei schrecklich, aber unvermeidbar.

Gleich folgenden Tages mokierte sich die Titelseite über Til Schweigers Vorliebe für jüngere Nachwuchsschauspielerinnen. „Sie könnte seine Tochter sein“, höhnte das Blatt süffisant und legte im Leitartikel nach: „Schweigers Neigung zu Keinhirnhasen ist ja nicht nur BILD aufgefallen. Morgen mehr!“

Im Anschluss blickte die Angetraute des Manta-Mimen von Seite 1, freilich ausgeschnitten aus einem Familienporträt, auf dem sie als 13-Jährige zu sehen war. „Das Sex-Monster hatte sie im Bett!“ Das war unter Abzug der Raum-Zeit-Krümmung nicht gänzlich verkehrt, führte jedoch zu einem einstweiligen Rechtsschutz, der BILD jede weitere Äußerung in dieser Sache untersagte. Schweiger hatte nicht mit der Fünften Kolonne gerechnet. „Seine Villa am Julius-Brölheim-Ring, das einzige Haus mit einer fliederfarbenen Fassade und Geranien auf dem Vordach, ist nicht zu verfehlen. Das Auto, ein silberner Kombi mit dem amtlichen Kennzeichen B-TS 1912, parkt meist auf dem Kiesweg, der zum Grundstück gehört.“ Die Leserreporter taten Ihres.

Als besonderes Schmankerl grub die Redaktion ein Leserfoto aus, das den Gesichtsgelähmten vor Jahren in einem Edelrestaurant beim Verzehr von Carpaccio zeigte. Ganz kurzfristig erst hatte sich BILD gegen eine Veröffentlichung im Rahmen der Kampagne für Fleisch ohne BSE-Gefahr entschieden, da der Rinderzüchter nicht genug zahlten wollte. „So lecker kann sicher sein“, hatte seinerzeit die Praktikantin gefabelt, „unser Lieblingsschauspieler schlemmt hauchzartes Kobe-Rind in Balsamvinaigrette – wenn Sie sich das leisten können, sind auch Sie in!“ In der Feder der Hauptstadtredaktion wurde daraus: „Hier frisst die Ekel-Bestie rohes Fleisch!“ Dem Bundesverteidigungsministerium war keine Stellungnahme zu entlocken.

Natürlich schloss sich im Verlauf der BILD-Aufgabe ein erläuternder Beitrag an, in dem der aus Sicherheitsgründen anonym zitierte Psychiater Chlodwig D. ausführte, dass der Verzehr von rohem Rindfleisch wie die Benutzung von Killerspielen oder etwa die Lektüre des SPD-Programms zu Hirnerweichung und seelischer Verrohung führen müsse. „Quasi alle Sittenstrolche haben irgendwann einmal rohes Fleisch verzehrt“, betonte D., es sei demnach nicht ausgeschlossen, dass es einer der Auslöser für Pädophilie sei.

Obwohl das Gesicht des Mannes unkenntlich gemacht wurde, konnte der 46 Jahre alte Akteur eindeutig identifiziert werden. Die gepixelten Bilder spärlich bekleideter Schulkinder, die man (wie eine spätere Recherche seitens des Deutschen Presserats ergab) nicht etwa von Guttenbergs Nagel, sondern gleich von der von der Leyen bekommen hatte, waren nach Aussage des Verlags selbstredend nur als Beispielillustrationen gedacht. Man denke nicht, dass sie am Zeitungskiosk als Aufreißer für potenzielle Kinderschänder dienen könne, die regierungsseitig verbreitete Anfixthese sei laut Koalitionsvertrag nicht mehr Teil der offiziellen Lesart. Man bedaure, dass bei der Bildbearbeitung versehentlich ein Bolzenschneider auf dem Tisch drapiert wurde, das sei Best Practice.

Ein älteres Foto, das das Ehepaar Schweiger samt Anhang zeigte – die Gattin bis auf einen halben linken Arm und etwas Haaransatz aus der Ebene geschnitten – brachte den Wendepunkt. Die Schlagzeilendrescher hatten ganze Arbeit geleistet, die Ausgabe erschien mit „Das Pädo-Monster macht mit den eigenen Kindern rum!“.Der Chef selbst erklärte den Komödiantiker zu seinem Thema und schloss seine Ausführungen, dass der Zweck in einer Leitkultur des christlichen Menschenbildes noch immer die Mittel zu heiligen habe, mit dem Bekenntnis zur geistig-politischen Wende: „Knallt ihn doch endlich nieder!“

Der Tathergang ließ sich aus den Spuren recht schlüssig rekonstruieren; Til Schweiger hatte sich eines Tricks bedient und einen ganz neuen, bei ihm noch nie gesehenen Gesichtsausdruck aufgelegt (die vernehmende Staatsanwältin sollte hernach zugeben, ihn fast nicht wiedererkannt zu haben) und damit das BILD-Gebäude betreten zu haben. Er ließ sich widerstandslos festnehmen. Das mediale Berlin war schockiert, schließlich habe doch Schweiger in den vergangenen Tagen nicht über mangelnde Medienpräsenz klagen können. Man konnte es sich nicht erklären, hoffte aber, dem Schauspieler werde dank seiner Bekanntschaft mit hochgestellten Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft nicht viel geschehen. Man erfuhr nichts. Das Bundesverteidigungsministerium nahm nicht Stellung.





Gernulf Olzheimer kommentiert (LXXV): Scripted Reality

17 09 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Ein jeder verrät sich, das Schwein am Gang, der Lustgreis am Husten im Kleiderschrank, und der gemeine Weichstapler fällt in der Konkurrenz um die intellektuelle Vorherrschaft im Wettrennen mit Fadenwurm und Stummelfüßer Platz um Platz nach hinten, wo sich Schund und Plunder um einen Schlag in den Nacken balgen, um den Stoffwechsel nicht einschlafen zu lassen. Knapp unterhalb dieser Klientel hocken Sauerstoffkonsumenten, die nur in eigens simplifizierter Umgebung lebensfähig sind: die unsortierten DNA-Reste, mit deren Existenz Privatfernsehanstalten ihre Anhäufung miserabler Plärrkulisse zwischen den Werbespots rechtfertigen. Eine Population, die schafft, jede Qualität quasi punktförmig zu modulieren, evolutionär kaum einer Erwähnung wert, geschweige denn eines Witzes. Es reagiert nur auf grobe Reize, Schießgewehr und Schmachtschlager, und er braucht unbedingt ein Klettergerüst, um aufrechten Gang zu markieren. Ihm hilft der Prekariatssender via Scripted Reality.

Was nicht doof genug ist, wird entsprechend erfunden. Der nachmittägliche Sozialporno wird aus Fertigware zusammengenagelt, kreischenden Teenagermuttis, dauerblauen Feinrippträgern und Kleinkindern, die man selbst als Sozialpädagoge gegen die Raufasertapete kloppen möchte, um das elende Gekreisch aus dem Cortex zu kriegen. Dazu bieten sich die handelsüblichen Accessoires, leichte Haftstrafen und Adipositas, Bildungsmangel und Nationalsozialisierung, um aus dem humanoiden Siff auf der Mattscheibe den feuchten Traum eines jeden Regisseurs zu machen, der täglich die Basis der Bevölkerung zu bespeicheln hat. Das also geklonte Casemodding des Proletariats hat mit der Realität nichts, in Worten: gar nichts zu tun, bedient jedoch höchst komfortabel die Ambitionen der Dompteure, die die Pro- und Antagonisten mit Anlauf in immer neue Konflikte rasseln lassen, um der gelangweilten Schar auf durchgeschwitztem Plastemobiliar überhaupt noch ein Lebenszeichen abzuringen in der Spirale stetig verdummenden Desinteresses – Emotainment braucht der Pöbel, die Fäuste soll er schütteln, zu Mord und Kotschlag hetzen, wenn der Producer Nüsse in seinen Käfig spuckt. Denn es ist gut so.

Schablonen gibt’s genug. Bauern suchen Frauen und überfordertes Familienpersonal darf plärrende Bälger in die Obhut professioneller Besserwisser geben, um die natürliche Priorität akademischer Egomuschis über pädagogisch dürftig ausgestattete Aufstocker zu untermauern, überschuldete Stinos gewöhnen sich daran, dass man sich coram publico nackig machen darf, so es die Verhältnisse fordern, dass Datenschutz und Bürgerrechte unterhalb des Einkommensdurchschnitts Serviervorschlag bleiben und nicht erheblich sind. So wenig, wie die Pseudowirklichkeit wirklich und skalierend ist, so gierig frisst sie Unbedarfte und verdummt sie verdauernd und hinterlässt sie am Dreckrand der Gesellschaft, indem sie ihm vorgaukelt, die kranke Mixtur aus Enthemmung und Depersonalisation sei normal. Schleichend erliegt der Bekloppte dem Guckreiz und kriegt die televisionären Flöhe nicht mehr aus dem Hirn, einerseits den verblödenden Gewöhnungseffekt, sich bald selbst wie moralischer Morast zu benehmen, andererseits den latenten Schuldvorwurf, der zischelnden Einflüsterung nicht widerstanden zu haben. Mit stillem Einverständnis, das Gebastel aus Psycholegosteinen für bare Münze zu nehmen, steigt das Volk ohne Not in die Falle und zahlt die Befreiung mit Dauerverdeppung.

Denn die Dramatisierung des Banalen, die die Trickfilmer dem ahnungslosen Vieh zum Fraß vorwerfen, häuft eine solche Menge an Vollquark aufeinander, dass der Delinquent nur noch stolz aufs Vorurteil sein kann, das er sich mit jeder Sekunde Trottelprogramm in die Birne pfropfen lässt. Nach dem Konsum einer einzigen Schicht von Krawalltalk bis Gerichtsshow mit Polizei-Doku und Primatdetektiv hat der Beknackte geschluckt, dass die Welt ein Sündenpfuhl ist, dass eine kaputte und entsolidarisierte Gesellschaft nicht mehr zu ändern ist, dass jeder an der Dramaturgie seines Abstiegs in die soziale Müllverwertung letztlich selbst schuld ist und sich nicht zu beschweren hat, wenn man ihm mit leichtem Treten nachhilft, und dass der Plebs im Zweifel vor den Instanzen der Gewalt zu buckeln hat, da ja die galoppierende Verrohung in der gekneteten Kalokagathie nicht stattfindet. Schon hat der vulgärsoziologische Mattscheibenkleister sein Leitmotiv für die neue Kastengesellschaft weg und kann, die Einführung aller Herrschaftsinstrumente der Gegenaufklärung betreibend, fröhlich auf dem Objekt seines Interesses herumtrampeln. Es ist formbar, denn der Impuls, nach der Fernbedienung zu greifen, wurde ihm längst weggemendelt.

Was immer die Widerspiegelungsvergewaltiger ihm in den Schädel schwiemeln, er turnt es auf Wunsch seitenverkehrt nach: Hungern und Fressen, Reproduktion und Religion, und es ist nur eine Frage der Polung, ob er zur Stabilisierung dieser oder jener Werte und Renditen in die Fabrik stapft oder ins Trommelfeuer. Obwohl auch das den Bescheuerten nicht stören würde; schließlich dient es der Wahrheitsfindung.





Landlust

19 01 2010

„So ein Stoffel! Das lasse ich mir nicht bieten!“ Tanja Ludowig (ihr Namensschildchen steckte noch an der Brust) hätte mich fast über den Haufen gerannt und warf mir stattdessen einen hasserfüllten Blick zu. Ich war doch etwas irritiert, doch Siebels tröstete mich. „Machen Sie sich nichts daraus“, munterte mich der TV-Produzent auf, „sie war eine der schwierigsten Kandidatinnen. Schlechte Laune, ständig wusste sie alles besser, und der erhoffte Traumprinz war auch nicht dabei.“ „Was hat sie denn erwartet“, mokierte ich mich, „zehntausend Milchkühe und eine Million Hektar Getreide?“ Er rückte seine Brille zurecht. „Sie hatten das Exposé gelesen, ja?“ Wie peinlich – dabei hieß die Sendung doch Bäuerin sucht Mann.

„Wir haben ganz einfach zwei Schlüsselfaktoren grundlegend geändert“, erklärte Siebels, während wir über den knöcheltiefen Acker dem Wohnwagen entgegen staksten, „da wäre natürlich zuerst die Geschlechterverteilung. Frauen sind nun mal die Entscheidungsträger in Familienunternehmen, in der Landwirtschaft leisten sie gleichwertige Arbeit und sind sowieso diejenigen, die über Partnerschaft und Ehe zu befinden haben – es ist doch ein alter Hut, sogar im Tierreich wählt das Weibchen den Partner, die Männer bilden sich immer nur ein, dass sie eine Frau erobern.“ Ich folgte ihm, obwohl das Gelände nach dem Schneeregen der vergangenen Tage kaum zu betreten war. „Und die zweite Änderung?“ „Wir zeigen echte Bauern.“

Heidemarie Lübberstedt war gerade sichtlich vergrätzt. „Schicken Sie mir nie wieder so einen Dummerjan“, schimpfte die Landfrau. „250 Kühe, gut und schön, aber wenn ich mir das schon anhöre: so ein Verstoß gegen die Tierkennzeichnungspflicht ab und zu ist doch nicht so schlimm, kann ja mal vorkommen – hat der Mann noch nie etwas von Cross Compliance gehört? Soll ich jetzt für drei Jahre auf die Beihilfezahlungen verzichten, weil dieser Dösbaddel auf meinem Hof die Kontrolleure bescheißt? Der soll sich mal schön woanders ins gemachte Nest legen!“ Sie hatte sich richtig in Rage geredet. „Und der soll Rinderzüchter sein? kann einen Campylobacter nicht von einer Brucellose unterscheiden und will seine Tiere hier in meinen Bestand einbringen? Nee, das kann er sich mal abschminken, nicht mit mir!“ Siebels schmunzelte. Die blondstoppelige Moderatorin hatte ihre liebe Mühe, die Landwirtin zu beruhigen. „Schauen Sie“, sagte der alte Fernsehfuchs, „so leicht lässt sich ein lebensnahes Format mit hohem Unterhaltungswert produzieren. Gewusst, wie!“

Hatte sich Ben, der knapp volljährige Modeltyp mit dem zuhälterbraunen Solariumsteint, etwa im Acker geirrt und gehörte zu einer Superstar- oder Kleiderständer-Show? Siebels guckte kurz auf den Regiezettel, gab dann aber dem Stylisten grünes Licht. „Der gehört rein. Alles okay so.“ „Und Sie werden mir sicher sagen, was dies Modepüppchen hier zwischen Melkmaschine und Rübenvollernter zu suchen hat?“ Er feixte. „Warten Sie’s nur ab.“

Tatsächlich war Leonie, die älteste der drei Breithaupt-Töchter und im sechsten Semester Betriebswirtschaftslehre, nur kurz amüsiert, bevor sie den Beau abkanzelte. „Ja nee, is klar.“ Siebels stieß mir den Ellenbogen in die Seite und biss sich auf die Zähne, um nicht laut loszuprusten. „Das da ist unsere Antwort auf Narumol – das Schickimicki aus der Großstadt.“ Die Nachwuchsfarmerin hatte derweil schon den verbalen Dreschflegel kreisen lassen. „Mit goldverzierten Schühchen in den Schwadmäher, so siehst Du aus! Vielleicht bricht sich der Herr ja noch die Nägel ab, wenn der Düngerstreuer mal repariert werden müsste. Das ist ein älteres Pendelrohrmodell, und wenn man da nicht mit kann – ach, was rede ich da, der ist ja zu blöde, um die Rundballenpresse anzukuppeln!“ Ben kam gar nicht zu Wort. Aber das war auch schon egal, die Jungbäuerin war fertig mit ihm. „Jetzt sieh zu, dass Du die Ausfahrt zum Eiermalen mit Gülcan findest! Du störst! Hier wird nämlich gearbeitet!“

Befriedigt schob Siebels die Thermoskanne mit dem heißen Kaffee zu mir herüber. „Das läuft ja ganz großartig!“ „Und was soll das jetzt bitte? Sie zeigen echte Bauern, das ist ja ganz schön, aber welchen Erkenntnisgewinn haben wir davon?“ Er stutzte. „Das wissen Sie nicht?“ „Vermutlich, dass die Unterschichtensender alle gar nichts dafür können, wenn sie die Zuschauer hinters Licht führen?“ „Falsch. Nennen wir es Umkehrschub: nicht der Bauer, der als der letzte Trottel dargestellt wird, als ein Dummkopf, gerade gut genug, um im Kuhstall den Mist aufzufegen, sondern das Publikum ist blöd. Die Idioten, die plärren, wenn die Frischmilch im Discounter nicht regelmäßig billiger wird, bemerken auf einmal, dass sie zu den Landwirten nicht herabblicken dürfen. Weil sie begreifen, dass sie weder das technische Know-how für diesen körperlich anstrengenden Beruf besäßen noch die Resilienz.“ „Sie meinen, wer sich diese Kuppelschmiere anguckt, ist nicht widerstandsfähig genug?“ „Nein, nur geistig nicht flexibel genug – Bauer sucht Frau erfordert sowohl ein eindimensionales Weltbild, damit das Format seine Wirkung entfaltet, als auch die Unfähigkeit, seine eigene bornierte Perspektive zu bemerken.“

Aus dem Garderobenwagen stieg Marko, beruflich erfolgreich, aber bei Frauen nicht eben wohlgelitten. Der Modderboden suppte ihm sofort in den Hosenumschlag. „Jetzt krieg mal den Arsch hoch, Du Betriebsbremse!“ Sabine raunzte den Volljuristen kräftig an. „Bei drei bist Du im Schweinestall, kapiert?“ Siebels setzte sich behaglich zurecht. „Na, sehen Sie?“





Fehlerträchtig

9 12 2009

„So eine gottverdammte Schweinerei!“ Die junge Frau drosch mit der Tasche auf den Papierkorb ein. „Danke, gestorben!“ Siebels lehnte sich zurück und gab dem Kamerateam ein Handzeichen. „Und jetzt wieder Position B, bitte!“ Ich schlürfte vorsichtig am heißen Kaffee. „Ob das eine so brillante Idee war, den Sendeplatz direkt nach dem Original zu buchen?“ „Aber ja“, bekräftigte der TV-Produzent, „nur so haben wir auch eine reelle Chance, dem Zuschauer die Flöhe wieder aus dem Ohr zu holen.“

Unterdessen hatte sich die Blondine mit dem deutlich erkennbaren Babybauch wieder beruhigt und stapfte nach einer kurzen Absprache mit der Continuity aus dem Bild. „Wir machen dann den Innendreh mit ihr nächste Woche Montag um halb vier, vorher bekommt sie keinen Termin.“ „Kein Problem“, antwortete Siebels, „dann machen wir ihren Nervenzusammenbruch gleich in einem Aufwasch mit. Spart uns eine Stunde Drehzeit.“ „Sie entwickeln sich langsam zu einem richtigen Ekel“, bemerkte ich angewidert. Siebels zog eine Braue in die Höhe. „Nur, weil ich der Republik zeige, was passiert, wenn sie schwanger wird?“ „Sie scheinen sich sehr sicher zu sein, dass Sie mit Ihrem Sozialporno noch ankommen. Ich bezweifle, ob sich das Fernsehpublikum den galoppierenden Niveauverlust noch lange antun wird.“ „Was? Ich? Sozialporno?“ Er kicherte. „Wir zeigen die wirklich unappetitlichen Sachen, die niemand erträgt. Das, was das Unterschichtenfernsehen sich nicht zu zeigen traut – die Wirklichkeit.“

Inzwischen waren ein Sanitäter und der Beleuchter schon damit beschäftigt, die nächste Schwangere aufzurichten; sie hatte den Gegenwert eines Gebrauchtwagens investiert, um ihre Sterilisation wieder rückgängig zu machen, und erfuhr nun, dass ihre Krankenkasse die Kosten des Eingriffs nicht tragen würde. „Was soll ich jetzt machen“, heulte sie, „ich bin völlig überschuldet, wenn das Kind kommt!“ „Hervorragend“, lobte Siebels. „Das Bild ist wirklich gut gelungen. Dazu als Gegenschnitt eine der Wahlkampfreden von Westerwelle oder Merkel mit ihrem üblichen Familiengewäsch, und der Zuschauer weiß, was Phase ist. Großartig!“

Mesemann klopfte an die Tür des Trailers. „Ah, Sie sind’s!“ Siebels strahlte. „Schieben Sie die Aufnahme gleich rein. Wir wollen sehen, was wir für die erste Sendung verwenden können.“ Die Supermarktkassiererin, die bereits fünf Kinder von vier Männern hatte und sich neben ihrem Halbtagsjob größtenteils von Kindergeld ernährte, wurde gerade vom Personalchef angebrüllt. Ihre Schwangerschaft passte nicht ins Konzept des Gebietsleiters. „Damit haben wir dann auch Innenaufnahmen in der Sozialbehörde“, nickte Siebels tief befriedigt, „und können uns ansehen, wie sie jetzt ihr sechstes Blag füttert, wenn man ihr wegen der Hartz-IV-Leistungen das komplette Kindergeld streicht. Vielleicht begleiten wir sie sogar auf Wohnungssuche.“ Begeistert klatschte er in die Hände. „Arbeitslose Schwangere mit fünf verwahrlosten Kindern sucht eine Sozialwohnung – das klingt nach einer satten Einschaltquote!“

Ich blätterte die Unterlagen durch. „Das Ding sieht mir sowieso aus wie eine Dauerwerbesendung für künstliche Befruchtung.“ Siebels nickte. „Das kommt noch dazu. Aber das ist es nicht. Haben Sie schon die gynäkologischen Befunde gelesen?“ Ich verneinte. „Ein bunter Reigen. Die Mittvierzigerin mit psychotischem Kinderwunsch trifft auf die Risikopatientin, die mit einer Schwangerschaft ihr Leben aufs Spiel setzt. Allesamt bekloppt.“ „Und die Sendung zeigt das, um den Kinderwunsch beim Zuschauer durch eine Art Trotzreaktion zu verstärken?“ „Genau, wenn Sie das sehen, wissen Sie: jeder Depp kann ein Kind kriegen. Jeder noch so absurde Kinderwunsch, wenn Sie beispielsweise HIV-positiv und hoch verschuldet sind, schon ein halbes Dutzend Kinder haben, die Ihnen das Jugendamt regelmäßig wegnimmt oder die mit Ihnen nichts mehr zu tun haben wollen – jeder Kinderwunsch ist grundsätzlich legitim. Gesunder Menschenverstand nicht.“

Die nächste Kandidatin hätte die Tochter des geistig völlig überforderten Vaters sein können; tatsächlich war sie die Mutter seiner Kinder. „Da kleben wir dann Wurfprämien-Gefasel von der Ex-Familienministerin rein und als Gegenschnitt die kinderfeindliche Politik, die sie jetzt als Arbeitsministerin betreibt.“ „Also wollen Sie aufklären, dass die Gesellschaft kinderfeindlich ist?“ „Mitnichten“, winkte Siebels ab, „ich zeige, dass das Unterschichtenfernsehen das irrationale, da die Realität ignorierende Diktat der Lebensentwürfe kopiert und sich zum willfährigen Sprachrohr einer Politik macht, die das NS-Repertoire abkupfert und die Wirkung durch neoliberales Klientelgeschleime gleich wieder zerstört.“ „NS-Politik?“ „Was dachten denn Sie, woher die Perfektionierung der Malthus-Theoreme kam? Beine breit für den Führer! Bisschen BDM-Charme, gebärfreudige Vaterlandsliebe, das wird doch gerne gepredigt in Parteien mit christlichem Anstrich. Fragen Sie mal einen katholischen Priester in Paderborn, was er von muslimischen Säuglingen hält. Der entdeckt ganz neue Toleranzen, wenn’s um Abtreibung geht.“ Ich war entsetzt. „Und diese psychotischen Ideen treffen auf die Wirklichkeit.“ „Die auch nicht viel besser ist“, bestätigte Siebels. „Aber wir kriegen das schon hin. Der Sendeplatz stimmt. Schwangere gibt es in Deutschland auch genug. Und Eva Herman ist froh, endlich mal wieder im Fernsehen zu sein.“