Verweile doch

5 05 2009

„Es arbeitet nämlich mit Quantensprüngen“, sagte Professor Spröckel, „gewissermaßen werden die Raumzeit-Teilchen auf den vorigen Energiezustand zurückgesetzt – allerdings hat das Gerät bis jetzt nur ein recht beschränktes Wirkungsquantum, mehr ist derzeit noch nicht zu bewerkstelligen.“ Und er nahm einen kleinen, flachen Gegenstand aus der Schatulle, der ungefähr wie ein Schlüsselanhänger aussah. Oben befand sich ein Drehrädchen. „Hier können Sie das Quantum regulieren. Danach auf den Knopf drücken.“ Ich wog das Gerät in meiner Hand. „Und dann setzt sich die Zeit zurück?“ „Dann setzt sich die Zeit zurück. Für einen Augenblick, für eine, für zwei, für zehn Sekunden. Aber jeweils nur für das gerade aktive Quantum – Sie können nicht den Finger auf dem Knopf halten und so Ihr ganzes Leben wieder rückwärts laufen lassen!“ Ich fragte ihn, wie lange die Batterie halten würde. „Nun, je nachdem, wie oft und wie lange Sie es einsetzen. Einen Tag oder zwei vielleicht.“ Ich steckte das Maschinchen in die Hosentasche. „Sie werden einige seltsame Erlebnisse machen“, kicherte Professor Spröckel, „und am Schluss werden Sie begreifen.“ Ernst sah er mich an. „Sie werden den letzten Grund finden. Sie werden zum Augenblick sagen: ‚Verweile doch!‘ Und Sie werden schließlich begreifen, junger Freund.“

Als ich an Nisselmanns Laden vorbei lief, stellte die Gemüsefrau gerade eine Stiege Äpfel auf den Gehweg. Da blieb sie mit dem Schuh an einem Pflasterstein hängen. Äpfel schossen in die Gegend, die Kiste flog auf mich zu – geistesgegenwärtig zog ich das flache Ding aus der Tasche und drückte. Da trat Frau Nisselmann wieder aus der Tür, und just bevor sie den Kasten wegschmeißen würde, fiel ich ihr in den Arm. Ein Apfel kullerte herunter, den sie aufhob und mir schenkte. So also funktionierte das!

Sein Gesicht kam mir bekannt vor, aber wer war das doch gleich? Der Mann rannte auf mich zu und bestürmte mich gleich mit Fragen: ob ich denn das Manuskript schon fertig hätte, ob ich schon wüsste, dass er zum Abteilungsleiter befördert worden wäre und unbedingt sieben neue Folgen der Sendereihe Kochen wie die Azteken bräuchte, nur wer war er? „Ernst Pröppelhusen! Haben Sie meine Visitenkarte nicht aufgehoben?“ Er war sichtlich beleidigt, die Azteken-Sendungen würde ich mir wohl in die Haare schmieren können. Da drückte ich auf den Knopf. Er rannte auf mich zu. Sofort breitete ich die Arme aus und legte ein strahlendes Lächeln aufs Gesicht. „Pröppelhusen, altes Haus! Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung – na sicher, gute Nachrichten sprechen sich doch schnell herum, ich weiß alles. Manuskript ist fertig, kriegen Sie morgen schon. Wissen Sie was, ich habe eine fantastische Idee für diese Azteken-Sache, was, das machen Sie ab jetzt selbst? Naja, das hätte ich mir denken können – ein Mann in Ihrer Position!“ Und ich ließ ihn in der Landschaft stehen, wo er mir noch lange nachsah, verwirrt, aber selig. Es war sein Glückstag. Sonst erkannte ihn keiner.

Im Stadtpark begann ich ein bisschen mit dem Quantending zu spielen. Zweimal, dreimal ließ ich einen dicken Mann, der schnaufend seinem Hund hinterher rannte, über seine Schnürsenkel stolpern. Ein köstlicher Anblick. Den Landeanflug einer Amsel auf einen Busch genoss ich aus allen Perspektiven, und aus lauter Übermut warf ich eine Papiertüte so oft auf den Abfallkorb, bis ich ihn schließlich getroffen hatte. Dann wurde mir die Sache doch ein bisschen langweilig. Es zog mich zu den geistigen Dingen hin.

Zwei alte Männer saßen vor dem Schachbrett. Sie schwiegen und spielten. Eine Weile beobachtete ich sie, wie sie grübelnd auf das Spiel blickten, da zog Weiß. Ich trat näher und sah, wie ein Turm gefährlich stand – einen Zug oder zwei, dann würde der gegnerische König in der Zange hocken. Weiß lenkte mit dem Springer ab und versuchte eine Diagonale. Schwarz ahnte nichts, ging in die Falle, schon bot ihm Weiß Schach. Ich drehte das Rad bis zum Anschlag und drückte auf den Knopf. Mit einer unauffälligen Handbewegung zeigte ich auf den weißen Turm und zwinkerte dem schwarzen Spieler zu. Da fiel ihm die Falle auf. Er zog den König auf die Grundlinie; der Weiße furchte stumm seine Stirn. Ich musste nicht einmal Gedanken lesen können und veränderte doch den Lauf der Dinge. Jede Gegenwart, die sich wandelte, führte in eine andere Zukunft. Mir schauderte davor, was der Apparat in falschen Händen alles anrichten könnte, und sei es nur dadurch, dass ich nicht in den Gang der Geschichte eingriffe.

Kaum war ich zu Hause, stopfte ich das Manuskript in einen Umschlag. Aus der Küche drang gefährliches Rumoren. Da fiel es mir ein: ich hatte nicht eingekauft. Kein Spargel, kein Käse, nicht einmal ein Stück Brot war noch da. Hildegard steckte den Kopf herein. Tückisch freundlich fragte sie, ob ich alles fürs Abendessen bekommen hätte. Ich drückte auf den Knopf. Schon erschien ihr Gesicht wieder in der Tür. „Hast Du auch alles fürs Abendessen bekommen?“ Schon wollte ich zu einer Antwort ansetzen, da schnitt sie mir einfach das Wort ab. Ich drückte nochmals. „Hast Du auch alles fürs Abendessen bekommen?“ „Ach, weißt Du“, sagte ich, „ich dachte, ich lade Dich heute Abend mal ein beim…“ Schon zischte sie zurück: „Mal wieder eine Deiner typischen Ausreden. Der Herr geht lieber im Park spazieren und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen, statt einzukaufen.“ Also noch mal. „Ich dachte, heute Abend könnten wir…“ „Mal wieder eine Deiner typischen Ausreden“, schalt sie mit schneidendem Unterton, „der Herr geht lieber im Park spazieren und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen, statt einzukaufen.“ Verzweifelt drückte ich und drückte und drückte. „Wollen wir zu einer Luxuskreuzfahrt aufbrechen? Jetzt gleich?“ Grimmig machte sie alle meine Hoffnungen zunichte. „Mal wieder eine Deiner typischen Ausreden. Der Herr geht lieber im Park spazieren und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen, statt einzukaufen.“ Ich versuchte, nochmals zu drücken aber da war die Batterie leer. „Und glaub bloß nicht, dass Du mich mit Deinen Einladungen einwickelst! Das zieht bei mir nicht!“

Das also war des Pudels Kern.





In der grünen Hölle

16 03 2009

„Ganz vorsichtig“, mahnte Professor Wedekind, „der Extrakt ist unbezahlbar. Elf Jahre Forschung stecken darin.“ Ehrfürchtig stellte ich das Fläschchen auf den Tisch. Ich war ein lausiger Chemie-Schüler gewesen, hatte im Unterricht meist die Lateinübersetzung der vorangegangenen Stunde erledigt und wusste gerade mal, dass man kein Wasser in Säuren gießen soll. Doch dieser Wissenschaftler von Weltruf machte mich neugierig auf seine Entdeckungen.

„Die Chemie steht vor einer Revolution, junger Freund. Mit meiner Kondensationsmethode werden wir Aromastoffe herstellen, die keines Menschen Nase je gerochen, keine Zunge je geschmeckt hat.“ Er hielt einen Flakon in die Höhe. „Kirscharoma – Sie kennen es aus jedem beliebigen Fruchtjoghurt. Doch mein Verfahren vermag Unglaubliches.“ Er tunkte eine Nadelspitze hinein, die er in ein großes Wasserbecken hielt. Einen Teelöffel schöpfte er nun in ein Trinkglas und füllte es mit Sprudel auf. Ich kostete. „Kirschlimonade! Ein Viertelliter, und die Weltmeere schmecken für ein Jahr wie Kirschsaft.“

Nun war ich gespannt, was der Professor an Düften auf Lager hatte. „Passen Sie mal auf.“ Und er sprühte eine blassgelbe Flüssigkeit auf ein Pappkärtchen, das er mir unter die Nase hielt. Es duftete intensiv nach wilden Rosen. Rasch verging das Parfüm – doch nein, es wurde zu Flieder und dann zu Waldmeister, changierte zwischen Koriander, frisch gemähtem Gras und Akazie, bevor es über sonnenwarmes Holz in Erdbeeren überging und schließlich als Anis sich verflüchtigte. Ich war beeindruckt. Wedekind schmunzelte. „Rindsbraten und Rotwein hätte ich auch im Angebot. Aber das sparen wir uns wohl besser fürs Duftfernsehen auf.“

Ganz beiläufig zog ich den Stopfen aus einem Glasballon und roch daran. Meine Augen begannen zu tränen. Professor Wedekind sah es und zog mich an den Schultern fort. „Um Himmels Willen! Sie dürfen doch nicht einfach die Dämpfe einatmen!“ Das Beißen ließ nach, aber ich sah verschwommen. Sein Gesicht schien grün anzulaufen. „Ich hoffe, dass Sie keine Beeinträchtigungen haben.“ Er leuchtete mir in die Pupillen. „Etwas getrübt. Grün, sagen Sie? Ich rate Ihnen, schnell nach Hause zu gehen. Morgen dürfte es sich bessern.“

Noch immer waren meine Linsen getrübt. Teils waren die Farben wieder normal, doch manchmal tanzten grüne Punkte vor mir. Der Springbrunnen vor dem Institut spie grünes Wasser, die grünen Hunde verschwanden im Rasen, die Blutbuche leuchtete grünlich in den Sommerhimmel.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Das Marsmännchen in der blauen Uniform sah mich mitleidig an. Ich machte ihm eine schwere Magenverstimmung weis. Er klopfte mir auf die Schulter. „Ruhen Sie sich mal aus. Gute Besserung! Sie sehen ja ganz grün im Gesicht aus.“ Sofort trat ich vor das nächste Schaufenster. Pistazienfarbene Schuhe und Handtaschen aus Farn lagen auf Dschungelkissen. War das die neue Mode? Ich wandte mich um, ging auf die Ampel zu, die grün aufleuchtete, und überquerte die Straße. Reifen quietschten, der Transporter brach aus und prallte gegen einen Laternenmast. Die Plane platzte. Grüne Orangen flogen heraus. Sie bedeckten den smaragdfarbenen Rotkohl vor dem Gemüseladen.

Ich rannte um mein Leben. Versteckte mich hinter einem grünen Briefkasten und ging bei einer grünen Telefonzelle in Deckung, hinter der grünen Stromreklame und der Litfaßsäule mit der grünen Schokoladenkuh. Flüchtig streifte mein Blick die giftig grünen Wahlplakate. Mehr Sicherheit – Kinder und Jugendliche wegsperren! las ich, und: Für soziale Gerechtigkeit – Deutsche Arbeitslosigkeit den Deutschen! Da war mir klar, ich war in der grünen Hölle.

Endlich hatte ich den Stadtpark erreicht. Hier im Grünen würde mich keiner entdecken. Ich ließ mich auf einer apfelgrünen Bank beim jadefarbigen Teich nieder und verschnaufte.

„Sie haben nicht zufällig ein Stückchen Brot dabei?“ Wer sprach da? Neben der Bank watschelte eine grüne Ente vorbei. „Sie riechen ein bisschen auffällig nach polyzyklischen Kohlenwasserstoffen. Genau wie die Joghurtbecher, die die Spaziergänger immer neben die Papierkörbe werfen.“ Verwundert fragte ich den Vogel, was er davon wisse. „Einiges. Wir sind schließlich mit Ihren Hinterlassenschaften konfrontiert. Man bildet sich weiter.“ Jetzt erst fiel mir auf, dass mich die Ente verstand. Doch ich hatte mich gründlich geirrt. „Nicht ich habe Ihre Sprache gelernt, Sie verstehen meine. Nun gut, erzählen Sie.“ Und der Erpel – ich hatte ihn inzwischen als Stockentenmännchen erkannt – flatterte auf die Bank.

Die ganze Geschichte erzählte ich ihm. Von Professor Wedekinds Veilchenextrakt bis zu den mysteriösen Dämpfen. Der Erpel wiegte sein Köpfchen und sinnierte. Er schnatterte schließlich: „Ich will es Ihnen verraten. Wenn Sie demnächst mit Brot wiederkommen.“ Einen Korb Weißbrot versprach ich ihm. Vergnügt quietschte er. Wie ein Gummientchen. „Sehen Sie den Ahorn da hinten? Pflücken Sie ein paar Blätter. Sie müssen sich die Augen damit ausreiben.“ Aufmunternd nickte er mir zu. Ob ich es nicht lieber zu Hause versuchen sollte? Andererseits würde ich bereits beim Betreten meiner Wohnung einen Picasso aus der grünen Periode sehen. Das konnte ich nicht riskieren.

Es erwies sich als schwierig, die untersten Blätter zu pflücken. Doch schließlich gelang es mir. Schnell rieb ich mir die Augen aus. Einen Moment lang sah ich gar nichts mehr, dann fiel es wie ein Schleier vor mir ab. Hinter den blassbraunen Matten des Parks erhob sich in frischem, frühlingshaftem Grau das Verwaltungsgebäude des Margarinekonzerns. Pinkfarbene Mütter schoben grellgelbe Kinderwagen über schmutzige Kieswege, auf denen grellrote Dosen lagen. Ich blickte zum graublauen Wasser. Der Stockenterich war wieder ans Ufer gewatschelt und drehte sich zu mir um, als er mich sah. „Rräpp“, sagte er, und noch einmal: „Rrrräpp!“

Voller Sorge rief mich Professor Wedekind am nächsten Tag an. Ich beruhigte ihn. „Alles halb so schlimm. Die Beschwerden sind abgeklungen. Alles wieder in Ordnung.“ Er war sichtlich erleichtert. „Was da alles hätte passieren können! Man weiß ja nie, was in so einer Tinktur alles steckt. Geht es Ihnen wirklich gut?“

Ich besänftigte ihn. Es habe so gut wie keine Nebenwirkungen gegeben.





Scheibenkleister

11 02 2009

Die Glaubenskongregation hatte sich zuletzt sowieso über nichts mehr gewundert. Die Vorhölle war abgeschafft worden. Man durfte den Holocaust nicht direkt leugnen, aber es machte auch nichts, wenn man sich nicht dafür entschuldigte. Und so nickten sie nur, als Benedikt XVI. an einem ganz normalen vatikanischen Morgen die neue Enzyklika Orbis etsi non zum Abtippen gab. Keiner dachte sich etwas dabei. Teils aus Gewohnheit, teils, weil sie alle nicht genug Latein verstanden, um zu sehen, dass der Pontifex einen unruhigen Schlaf gehabt hatte. Seit Tagen.

Mittags diskutierten Altphilologen noch über die Möglichkeit, einem Übersetzungsfehler aufgesessen zu sein. Die lateinische Sprache, so klar sie auch ist, kann doch manchen Unsinn ergeben, wenn man Kasus und Numerus nicht auf die Reihe kriegt oder gar seine Stammformen nicht gelernt hat. Schaurige Gymnasialerinnerungen tauchten in den Köpfen der Altsprachler auf. Doch so unmissverständlich war dieses Sendschreiben, dass sie sich dem Schicksal ergaben und die neue, ab sofort gültige Lehrmeinung einfach anerkannten. Der Papst hatte sich nicht geirrt, weil er sich – er ist nun mal Papst – gar nicht irren kann. Die Erde ist eine Scheibe. Punkt. Aus die Maus.

Gut, diese Idee war jetzt weder bahnbrechend noch schien sie besonders durchdacht. Schon im Mittelalter hatte man sich davon verabschiedet und modernistischem Allotria gewidmet. Aber dies gab doch Anlass zur Sorge. War das noch derselbe Papa Bene, der so gütig lächelte, während er zu Mord und Unterdrückung hetzte? Was war geschehen mit dem Heiligen Vater? Hatten Herrgott und Mutter Maria dem alten Mann, der sich sonst so rührend um Frauenordination, pädophile Priester und Geburtenkontrolle gekümmert hatte, jetzt endgültig ins Hirn gehauen? Wie sollten sie sich nur alle getäuscht haben!

Die Fundamentaltheologen bissen sich zuerst in die jeweiligen Hintern. Sie hatten es kapiert. Welch ein gerissener Schachzug! Ketzerei, Abfall, Sektierertum, alles auf einmal vom Tisch. Hier und jetzt wurde Metapher zur Wirklichkeit und vage Allegorie handfest. Kein Gottesmann konnte mehr in Opposition gehen. Ratzingers Scheibe umfasste alles, alles war in Ratzinger, keiner konnte der fundamentalen Umarmung entgehen. Die Bruderschaften tobten.

Während die Hegel-Gesellschaft noch zu klären versuchte, ob denn die möglichste aller besten Welten ein adäquater Ersatz für die beste aller möglichen sei, titelte BILD mit dem epochalen Transzendenz gewuppt! alle Bedenken beiseite, ja man könnte sagen: sie putzte jede Kritik von der Platte. Sie fiel von der Scheibe und ward fürderhin nicht mehr gesehen.

Kontroversen ergaben sich in Österreich, wo einige Weihbischöfe sich die Köpfe über das ewige Gerauche in den Priesterseminaren heiß redeten. Auch die ganze Schar der Trolle, Elfen und Gnome war den Patres suspekt – ein heidnisches Heer vermuteten sie hinter jedem Werwolf oder Golem. Selbst Engel mussten sich einer peniblen Sicherheitsprüfung unterziehen, bevor sie wie gewohnt weiter lobsingen durften.

Immerhin erübrigte sich die leidige Diskussion um den Gottesbeweis. Man müsse, so sprach die Kongregation, nur ganz fest daran glauben. Ob es erlaubt sei, auch an Buddha, Osiris und die Zahnfee zu glauben, wusste allerdings niemand. Das zuständige Referat kündigte an, erst noch Beweise sammeln zu wollen. Das könne dauern.

Zudem konnte der katholische Apparat nun mit vollem Ernst behaupten, dass sich die Demokratie durchgesetzt habe. Nach dem klassischen Prinzip One man, one vote regierte Ratzinger über seine Schafe. Er war der eine Mann, der die eine Stimme hatte. Und mehr wollte man dem Volk auch nicht zumuten.

Seine Heiligkeit gefiel sich nun darin, seine Heiligkeit öffentlich zu machen. Natürlich war es keine Kunst, über das Wasser zu laufen, denn der Fluss stand einige Meter höher als das Ufer. Und so wandelte Benedikt nun jeden Sonntag über den dreckigen Strom. Ob die Krankheitserreger unter seinen Füßen dadurch geheilt wurden, ist nicht verbürgt. Denkbar wäre es.

Die Zwerge an der Basis mussten sich kaum umgewöhnen. Schon zuvor waren die Zwerginnen wegen ihres Geschlechts diskriminiert und von den männlichen Zwergen aller Alters- und Rangstufen für einen universalen Patzer gehalten worden. Doch des Papstes Weltformel integrierte auch sie in die Schöpfung. Natürlich nicht, ohne sie weiterhin als Missgriff zu behandeln. Schwulen Zwergen erging es nicht besser, es sei denn, sie standen in Lohn und Brot der römisch-katholischen Kirche.

Überhaupt wurde die Theologie viel einfacher. Neben Feng Shui und Kapitalismus fand sich nun auch Wirres Denken als Lehrfach an der Vatikan-Universität. Das Postulat, dass der Geist je eine helle und eine dunkle Seite habe, galt ohne Ausnahme – die helle Seite war der Katholizismus. Der ganze Scheibenkleister mit der Scholastik hörte endlich auf. Alles war so komplex, wie es sein sollte, um es nicht verstehen zu müssen, und alles wurde plötzlich so einfach, dass man daran glauben konnte, wenn man nicht daran glauben wollte. Die Philosophie wurde nicht verboten. Sie wurde einfach verschluckt, wie das rote Pantoffeltierchen etwas verschluckt. Auf Nimmerwiedersehen.

So geschah es. Und siehe, es sah, dass es gut war. Und ein Irrtum war ausgeschlossen.





Wir sind wieder Papst

4 02 2009

„… zu der Überzeugung gekommen, dass sie nicht im Gegensatz zum Schöpfungsplan und der Liebe Gottes stehen.“ Der Kurienkardinal warf das Papier wutentbrannt auf den Schreibtisch. „Guerreiro, das darf den Vatikan auf keinen Fall verlassen, hören Sie? Auf gar keinen Fall!“ „Euer Eminenz haben das wohl nicht ganz verstanden. Das Sendschreiben ist bereits veröffentlicht worden.“

Tatsächlich hatten die katholischen Bischöfe um sieben Uhr MEZ die päpstliche Botschaft in ihren Faxgeräten vorgefunden. Dazu erging eine Kopie an ihre privaten E-Mail-Adressen. Man weiß ja nie, was der Vorsehung so alles in die Quere kommt.

„Das kann nur eine Fälschung sein.“ „Eminenz, das Siegel spricht dagegen. Die Unterschrift. Das Schreiben hat ein Aktenzeichen. Wir können da nichts mehr ausrichten.“ Der Kurienkardinal griff mit zitternden Fingern in seine Soutane und zog ein silbernes Fläschchen heraus. Nach mehreren großen Schlucken blickte er den Kanzlisten fest an. „Das ist unser Untergang, Guerreiro. Er ist plemplem! Verhütungsmittel! Wir sind am Ende!“ Guerreiro runzelte ironisch die Stirn. „Deus lo vult.“

Die Presse überschlug sich. Eugen Drewermann war nicht zu erreichen. Uta Ranke-Heinemann gab in einem Interview mit dem WDR zu Protokoll: „Was Ratzinger sagt, ist richtig, Sie dürfen sich auf ihn berufen.“ Außerdem plädierte die Theologin in diesem Fall ausnahmsweise für Täterschutz. Der Osservatore Romano übernahm den im Bayernkurier erschienenen Leitartikel von Erwin Huber. Fotos von Berlusconis Fettnäpfchen-Beauftragtem, wie er die Pizzeria der vatikanischen Museen betrat, kamen sofort auf alle Titelseiten. Heiner Geißlers Gastkommentar flog ersatzlos aus allen Gazetten. Einige Leserbriefe, die Benedikt XVI. zum sofortigen Rücktritt aufforderten, wurden irrtümlich doch noch im Rheinischen Merkur abgedruckt. Die personellen Konsequenzen gingen schnell und ohne großes Aufsehen über die Bühne.

Für Heiterkeit sorgte der altkatholische Bischof, der in der Talkrunde witzelte, man würde jetzt das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit noch einmal überdenken. In der PR-Agentur ging es weniger ausgelassen zu. Der Sekretär der Disziplinarsektion hämmerte auf den Tisch, dass die Designertassen in die Gegend sprangen. „Was haben Sie sich da wieder für einen Dreck ausgedacht? Kondome für die Katholiken! Haben wir denn nicht schon genug Schlamassel?“ „Ruhig, Pater. Wir haben das einzig Richtige getan.“ Monsignore Tournon schaute entgeistert. „Sie haben was? Das Richtige?“ „Haben wir. Dann schauen Sie sich mal bitte den Score der letzten Monate an.“ Der Consultant drehte sein Notebook und deutete auf eine Kurve. „Der Börsenkurs Ihrer Firma. Sehen Sie diesen Knick? Das waren die Piusbrüder mit Herrn Williamson, der sich die Freiheit nimmt, die Gaskammern zu leugnen. Und dieser scharfe Zacken hier? Der unzurechnungsfähige Ösi, den Ihr Herr Chef partout zum Weihbischof machen musste. Und das hier…“ Der Priester begriff zuerst nicht. „Sie wollen damit andeuten, dass… Nein, unmöglich!“ „Wir werden dafür bezahlt, Ihre Managementfehler auszubügeln – schlimm genug. Was bleibt uns denn anderes übrig, als den Kurs anzukurbeln?“ Der PR-Berater hatte sich nun selbst in Rage geredet. „Wie soll man ein Unternehmen von der Größe ohne Controlling kontrollieren? Himmelherrgott, wie sollen wir den Laden konsolidieren, wenn wir vom Aufsichtsrat ständig torpediert werden? Wozu kriegen Sie Ihr tägliches Memo, wenn das Zeug sowieso im Kamin landet?“ Er packte den Sekretär am Kollar. „Kruzifix, warum haben Sie damals nicht den Lehmann gewählt? Muss man denn hier alles selbst machen?“ Das Diagramm zuckte kurz auf. „Na sehen Sie“, frohlockte er, „der Kurs steigt. Erste Notverkäufe. Scientology bröckelt. Sonntag sind wir wieder da.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, seine Stimme wurde scharf. „Und wenn wir die Evangelikalen von der Bildfläche gefegt haben, kommen Sie bloß nicht auf die Idee, das als Ihre Leistung zu verkaufen. Ich warne Sie.“

Unterdessen feierte das Volk den Oberhirten. Während in Lateinamerika die Patres selbst die Gläubigen in langen Prozessionen mit Papa-Ratzi-Bildern zu enthemmten Sambarhythmen durch die Straßen führten, organisierten in Köln Schwule und Lesben die Demonstration. Binnen Stunden zogen Katholiken durch Deutschlands Innenstädte. Sie skandierten leidenschaftlich Wir sind wieder Papst und Ratze, gib Gummi. Joachim Meisner schäumte. Ob man da nicht etwas machen könnte. Man teilte ihm mit, man kann da nichts machen. Als der Amtsrichter den Kardinal sarkastisch fragte, ob der an Gummi-Geschosse gedacht habe, verließ Meisner zornig den Raum.

Der Werbespot für Benny Boy, das kardinalsrote Kondom (Geschmacksrichtungen Messwein und Milch mit Honig), wurde noch am gleichen Tag im Vorabendprogramm ausgestrahlt. Hella von Sinnen hatte spontan zugesagt.

„Hürlimann, haben Sie noch die Adresse von diesem Chilenen, ja? Gut. Dann bringen Sie mir den her. Und schnell, bitte.“ „Wäre es nicht besser, wenn wir… also ich meine… gewissermaßen für die Öffentlichkeit, Sie verstehen?“ Der Gardist vollführte eine ruckartige Handbewegung. „Ah, verstehe. Hm. Gut. Ist schon dreißig Jahre her, aber vielleicht klappt’s ein zweites Mal. Versuchen wir es.“ Und er faltete ergeben die Hände. „Im Namen Gottes.“