Der Schein heiligt die Mittel

16 01 2011

Man sagt, Münchhausen habe sehr gelogen.
Er packte sich niemals am eignen Zopf
und hat sich nie aus einem Sumpf gezogen.
Und doch bleibt uns dies Bild allein im Kopf.

Wenn man uns heute Zahlenwerk vorgaukelt,
so stimmt dies minutiös und ist nie schlecht,
auch wenn man damit nur das Volk verschaukelt.
Sag selbst, Münchhausen: wird man Dir gerecht?

Man kann im Lügen wahr sein, wahrhaft lügend,
dem Vorwurf ausgesetzt sieht man sich schwerlich,
das Ausgedachte ineinander fügend.
Das Zahlenwerk mag wahr sein, doch nie ehrlich.





Haus der Lüge

14 10 2010

„Schauen Sie sich in aller Ruhe um.“ Doktor Evelinde Rasmussen tippte mit dem Finger auf die Tafel an der Wand. „Hier und da sind die Fahrstühle, dort ist der Reden-Saal, und hier gleich links ist die Garderobe. Legen Sie doch ab.“ Es war etwas nasskalt, so war ich im Mantel gekommen. Rasmussens Vorbereitungsinstitut lag aber auch zu schön in den Weinbergen versteckt, ein schnuckelig kleines Schlösschen mit rosaroter Fassade und vier putzigen Türmchen. Niemand ahnte, dass hier die künftige Elite aus Politik, Wirtschaft und Medien ihre Ausbildung zielsicher genoss. „Die fachexterne Kommunikation – also die Botschaft, die aus der Politik an Nichtpolitiker gerichtet wird – sie krankt zunehmend daran, dass wir keine verlässlichen Strukturen vorfinden.“ Rasmussen zog eine Mappe aus dem Schreibtisch. „Sehen Sie sich nur die Berichterstattung zu diesem Bahnhof an. Oder den CSU-Vorsitzenden. Oder die Sozialgesetzgebung. Lauter mangelhafte Versuche. Das sollte besser klappen. Und das wird besser klappen.“ „Sie haben hier also eine Fachschule für Rhetorik, richtig?“ Sie lächelte. „Nicht ganz. Aber kommen Sie mit in den Kurs. Sie sehen es schon.“

Zwei Dutzend Studierende saßen kerzengerade auf den Stuhlkanten, als wir den Saal betraten. Ein junger, schneidiger Offizierstyp fuchtelte mit dem Zeigestock vor der Tafel herum. „Da die Löhne zu hoch sind, müssen wir sie senken.“ Eine junge Elevin schnickste mit dem Finger und stand auf, um zu antworten. „Da die Vorgängerregierung die Löhne nicht genügend gesenkt hat, sind sie immer noch zu hoch und müssen gesenkt werden.“ Der Magister nickte. „Richtig“, lobte er, „die anderen haben Schuld. Und wenn sie schon einmal etwas richtig gemacht haben, dann war es entweder zu viel oder zu wenig. – Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun.“ Jetzt stieg ein unauffälliger, graumäusiger Schüler aus der letzten Bank schier in die Luft. „Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.“ Der Pädagoge nickte. „So ist’s recht: eine Befindlichkeit, die an sich Folge ist, wie eine Ursache behandeln und ohne Rücksicht auf mögliche Korrelationen sofort Maßnahmen fordern.“ Der Studiosus lief zur Hochform auf. „Und dann die Opfer der Ausgrenzung“, sagte er mit roten Ohren auf, „zu den Tätern der Integration machen.“ Der Lehrer zückte schon seinen Notenkalender; bevor er den Einser eintrug, machte er noch einmal die Probe aufs Exempel. „Und warum nehmen diese Opfer nicht an einer Debatte über Integration teil?“ Die Antwort kam prompt. „Sie nehmen nicht teil und sind deshalb nicht diskursfähig, weil die Deutschen die Debatte ja gar nicht führen wollen.“ „Sie sehen“, sagte Rasmussen nicht ohne einen Anflug von Stolz, „wir bereiten den Nachwuchs praxisnah auf seine Aufgaben vor. Sie werden hervorragende Fachkräfte.“

Der Reden-Saal, ein kleines Auditorium, war angenehm gefüllt. Ein Student übte sich in Großraumrhetorik. „Deutschland ist auf einem guten Weg“, deklamierte er. „Niemals zuvor gab es dank der großen Wirtschaftsleistung eine so sichere und verlässliche Lohn- und Sozialpolitik. Zugleich schickt sich die Bundesrepublik an, in den Punkten Bildung und erneuerbare Energie zum Spitzenreiter in Europa zu werden – allein durch den Ausbau der regenerativen Energien werden wir eine solche Menge an neuen Arbeitsplätzen schaffen, dass wir durch die steigenden Steuereinnahmen…“ „Sagen Sie mal“, fragte ich die Institutsleiterin, „was nehmen denn die? Und was soll das sein? kreative Volksverdummung?“ „Nein, hören Sie doch hin.“ Doktor Rasmussen zog eine Augenbraue mokant in die Höhe. „Sie lügen.“ Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. „Sie lügen? Was habe ich mir darunter vorzustellen?“ „Dass sie die Unwahrheit sagen.“ Ihr Wort klang wie ein Säbelhieb. „Sie üben sich in der Lüge, die man für das politische Geschäft braucht.“

Unterdessen hatten sich mehrere Studentinnen zu uns gesetzt. „Wir lernen hier, ein neues Weltbild zu erschaffen, indem wir die Fantasievorstellungen der Menschen zu einem gemeinsam denkfähigen Gebilde fügen.“ Offenbar glaubte sie schon selbst, was sie mir da erklärte. „Wir üben uns ein in dem flexiblen Umgang mit gefühlten Wahrheiten, mutmaßlichen Statistiken, für wahr genommenen Klischees – wir sagen Ihnen, was Sie hören wollen.“ Ich wies das von mir; die Wahrheit wollte ich hören, auch dann, wenn sie schmerzte, aber nicht vorsätzlich angelogen werden. „Aber ja doch, Sie wollen beschissen werden! Und Sie wissen das auch. Glauben Sie etwa den Wahlversprechen eines Politikers? etwa auch dessen, den Sie hinterher doch wählen?“

Rasmussen zeigte sich gänzlich unbeeindruckt von meiner Ablehnung. „Natürlich kann das nur so funktionieren. Und Sie wissen selbst, dass die Gesellschaft aus Lügen besteht, größtenteils aus plumpen und unverschämten Lügen. Es ist ein Konglomerat aus immer wieder neu formierten Halb- und Unwahrheiten. Wir bringen den jungen Leuten bei, sich darin zurechtzufinden. Man muss die Lüge systematisieren, dann wird sie zur Wahrheit. Und zur Wirklichkeit.“ „Gut“, wandte ich ein, „die Wirtschaft scheint ein Paralleluniversum aufgebraut zu haben. Das leuchtet mir ein. Aber wozu muss man da so ausgefeilt lügen lernen?“ Sie lächelte wieder. „Denken Sie an das Rechtswesen. Das fußt auch auf einer eigenen Anschauung, die mit der Realität nichts mehr zu tun hat. Und was meinen Sie, was man braucht, um in die Politik zu gehen oder in die Diplomatie, wo Lüge und Wahrheit schon nicht mehr zu unterscheiden sind?“ Da fiel es mir auf, dass sie Recht hatte. „Sagen Sie jedem seine eigene Lüge. Und hüten Sie sich, alle gemeinsam belügen zu wollen. Denn dann haben Sie schnell eine Einheit gegen sich.“

Kaum war es Mittag, da fing es wieder an zu nieseln. Ich schlüpfte in den Mantel. Doktor Rasmussen reichte mir die Hand. „Haben Sie vielen Dank für Ihren Besuch“, sagte sie. „Sie sollten bald einmal wiederkommen.“ Ich schritt über den feucht knirschenden Kiesweg. Plötzlich hielt ich an. Wie hatte sie das gemeint?





Schüttelfrust

7 06 2010

„Das passt jetzt.“ Schnöfler pfriemelte noch etwas an dem Knopf in meinem Ohr herum. „Wenn das Ding drückt, haben Sie ja immer noch den Vibrator für die Jacke.“ Damit reichte er mir das Kästchen, schmal wie eine Zigarettenschachtel. „Es dürfte drei bis vier Tage reichen mit der Batterie. Und ich habe Sie gewarnt: bringen Sie sich nicht in Gefahr!“ Ich verstaute das Gerät in meiner Anzugtasche.

Bei Trends & Friends herrschte gerade Hochbetrieb. Minnichkeit begrüßte mich flüchtig. „Sie sind wegen dieser Radiosache hier? Dann müsste Frau Schwidarski Bescheid wissen, sie kommt bestimmt gleich herunter.“ Ein paar Marktforscher rannten einige Unternehmensberater über den Haufen. Irgendwo piepste ein mobiles Endgerät. „Bedaure“, sagte Minnichkeit, „die Chefin ist momentan leider nicht im Hause.“ In meiner Jackentasche surrte es. So war das also. Die kleinste Abweichung von der Wahrheit, und schon vibrierte der Ehrlichkeitsseismograf. Bei dieser Erschütterung schien es sich aber um eine Notlüge zu handeln. „Das ist für uns gar kein Problem.“ Der pulsierende Lärm wurde zusehends aufdringlicher. „Nein, im Gegenteil – wir freuen uns darauf!“ Das Ding ratterte. Minnichkeit log gerade wie gedruckt.

„Hi there!“ Maxim, der Reiseleiter, tänzelte um die Ecke. Wie stets trug er einen weißen Anzug, die vergoldete Sonnenbrille lässig ins blondierte Haar geschoben, die Füße in kostbarem italienischem Schuhwerk. „Man kann ja dieses Jahr nur nach Ligurien“, schwafelte er fast empört, „das ist fast so vulgär wie die ganzen Studienräte in der Toskana.“ Ich war verwirrt. „Aber wenn Ligurien nicht mehr angesagt ist, warum fahren Sie dann hin?“ Er winkte ab. „Ach nein, ich meine natürlich Apulien. Das geht ja gar nicht mehr. Völlig überzogen, das wird vielleicht 2015 wieder aktuell. Fahre diesen Sommer nach Brindisi.“ „Das ist doch in Apulien“, korrigierte ich. Maxim nickte. „Natürlich ist das in Apulien. Deshalb fahre ich da doch auch hin. Weil, wenn das 2015 wieder hip wird, kann man da wieder hinfahren, und wenn ich schon hinfahre, wenn es noch nicht wieder hip ist, dann kennen sie mich da schon, wenn ich da hinfahre. Also, wenn es dann wieder hip ist. Verstehen Sie?“ Ich verstand, und ich musste einen Augenblick zu lange auf seine Schuhe geblickt haben. „Hübsch, nicht wahr? Ein Modell von Gianfranco Rinaldini.“ Es sirrte leise. „Die kriegen Sie nur im Store in Mailand.“ Es summte lauter. „Natürlich müssen Sie für so eine limitierte Serie aus feinstem Kalbsleder… sagen Sie mal, haben Sie einen Schlagbohrer in der Tasche?“

Im Fahrstuhl traf ich auf Ernst Pröppelhusen, den inzwischen beförderten Programmdirektor. Sieben neue Folgen für seine preisgekrönte Sendereihe Kochen wie die Azteken hatte ich ihm vor einigen Wochen zukommen lassen. „Großartig“, schwärmte Pröppelhusen, „ich bin ja vollkommen begeistert von Ihrer Schreibe!“ Es schnurrte sich bereits warm unter meinem Anzug. „Natürlich habe ich das Manuskript gleich studiert und äh… was ist denn das für ein Lärm? Egal. Also alles gleich ganz genau gelesen … sagen Sie mal, können Sie das nicht abstellen?“ Ich war irritiert. Umso mehr, als dass der Mechanismus heftig zu flimmern einsetzte, als Pröppelhusen mir versicherte, er wolle mir künftig noch viel häufiger Aufträge für Fernsehserien zukommen lassen. Was sollte ich denn jetzt glauben? Diese Maschine erzeugte bei mir einen Anfall von Schüttelfrust.

Immerhin lotste mich der Apparat sicher durch die Versuchungen der Stadt. Bei der Versicherung des Gemüsehändlers, es handele sich auch ganz bestimmt um hiesigen Spargel, knurrte der Kasten leise. Die Ausführungen des Geflügelzüchters wurden von penetrantem Moskito-Sound untermalt, der um so bedrohlicher anschwoll, je näher der Hühnermann den Freilandeiern kam. Am Bioobst musste ich sogar nur in zehn Meter Abstand vorbeilaufen, damit der Apparillo sein sonores Geräusch in meinem Jackett verbreitete. Erst an der Bratwurstbude hatte der Spuk vorübergehend ein Ende. Fröhlich winkte der dicke Mann mit der herüber und wendete brutzelnde Schinkengriller auf dem Rost. Wahrscheinlich wusste jeder längst, was Sache war.

Hildegard war nur wenige Minuten vor mir nach Hause gekommen. Sie sah erschöpft aus. „Ein furchtbarer Tag“, jammerte sie. „Gut, dass ich zu Hause bin. Heute werde ich unter Garantie keinen Handschlag mehr tun!“ Ich stellte die Einkäufe auf den Küchentisch und setzte Teewasser auf, bevor ich das Fenster öffnete; mild strömte die warme Luft eines Frühsommerabends hinein. Als ich das Wohnzimmer betrat, fiel mir auf, dass Schnöflers Detektor sich immer noch in meiner Jackentasche befand. Ich zog ihn hervor. Intensiv betrachtete ich das kleine, schwarze Kästchen mit der kleinen Vertiefung auf der Unterseite, das fast aussah wie die Fernbedienung des Fernseher, die auf dem Couchtisch lag, denn Hildegard legt sie nach dem Einschalten meist dorthin. Die Kanzlerin schritt ins Bild, ließ ihre Mundwinkel sinken und begann: „Liebe Bundesbürgerinnen, liebe Bundesbürger.“

Doktor Klengel betrachtete sorgfältig den Verband um meinen Kopf und schloss sein Erste-Hilfe-Köfferchen. „Die Schmerztabletten sollten gleich wirken“, teilte der Hausarzt Hildegard mit. „Einmal pro Stunde den Eisbeutel neu füllen. Und natürlich Ruhe, strengste Ruhe! Er hatte ja wirklich Glück, dass er aufs Sofa geflogen ist und nicht ins Bücherregal – schauen Sie, er zittert ja noch am ganzen Körper!“





Schwindelfreiheit

18 07 2009

Es log ein Mann. Er log und log.
Er log, dass sich der Balken bog,
der ihm im Auge steckte.
Er täuschte, schwindelte und leimte,
was noch an Wahrheit in ihm keimte.
Das war’s, was er bezweckte.

Und wie er Unschuld heuchelte
und jede Wahrheit meuchelte,
so fand er Freiheit endlich,
weil er vorm Wahren war gefeit –
er hat sich davon ganz befreit
und log den Rest unkenntlich.

Doch war er frei? Das war mit Fug
und Recht nur Lug und Selbstbetrug.
Er hat sich selbst betrogen
um einen doch zu hohen Preis.
Es lügt nur, wer die Wahrheit weiß.
Und das ist nicht gelogen.





In vitro veritas

20 03 2009

Pappeln säumten den Weg. Die Sonne strahlte in den blauen Frühlingshimmel. Die endlose Chaussee entlang fuhr ich zwischen Korn- und Rapsfeldern, lange schon lag Bicklingen hinter mir, der Boden wurde lehmig, da erblickte ich das Gut Sophienhof. Majestätisch hob sich der Schlossbau in die ebene Landschaft. Kies knirschte unter den Rädern, als ich in den von Rosen bestandenen Hof rollte. Monsieur Dupont, der Schlossherr, erwartete mich bereits auf der Freitreppe. Er öffnete mir den Schlag.

„Wie ich mich freue, Sie zu sehen! Wunderbares Wetter haben Sie heute mitgebracht! Und ich verspreche Ihnen, es wird ein sehr interessanter Tag werden!“ Sein Diener Jean nahm mir den Mantel ab. Dupont zischte ihm zu: „Ah! C’con me tape sur les couilles!“ Aber es gibt eben Sonntage, an denen ich so gut wie kein Französisch verstehe.

Nach einem Gang durch den Garten – dort sah ich die Reiterstandbilder Eberhards des Prächtigen und Ludwigs des Begriffsstutzigen – führte mich Dupont in den Spiegelsaal. Jean kredenzte einige Häppchen. Durch die Fenster blickte ich auf den Gemüsegarten. Ich äußerte den Wunsch, mir zuerst einen Überblick über die Weinberge zu verschaffen. Ein mühsam unterdrücktes Prusten von Jean kam dem milden Lächeln des Hausherrn zuvor. „Lieber Freund“, antwortete er mir, „hat man Ihnen denn so gar nichts von meinem Weingut erzählt?“ Ich bedauerte. So begann ein wirklich interessanter Tag.

„Wein“, sagte Dupont, während er mir in den Schutzkittel half und Jean die Plastikhaube für den Kopf anreichte, „ist chemisch nicht sehr viel mehr als Wasser, Alkohol sowie eine wechselnde Anzahl von bestimmten Geschmacks- und Geruchsstoffen. Warum sollten wir uns die Mühe machen, das ganze Zeug aus Trauben herzustellen? Noch dazu mit einer solchen Unsicherheit, weil wir vom Wetter und ähnlichen Dingen abhängig sind?“ Ich begriff erst nicht. Dupont sprach es aus. „Wir stellen den Wein komplett synthetisch her. Bessere Qualität werden Sie auf dem ganzen Markt nicht finden.“

Das halbe Kellergeschoss nahm der Abscheider ein. Eine schäumende Flüssigkeit lief in langen Schläuchen an der Decke entlang. „Wir verwenden nur höchste Qualität. Billiges Bier können wir uns nicht leisten.“ Bier? „Natürlich Bier. Irgendwo muss der Alkohol herkommen. Diese Anlage trennt den Rohstoff in alkoholfreies Bier“ – hier zeigte er auf ein gewaltiges Fallrohr, das im Boden verschwand – „und bierfreien Alkohol.“

Die Räume im ersten Stock beherbergten eine ansehnliche Anzahl von Laboren. „Hier sehen Sie die Produktion von Shikimisäure. Dort drüben ist unsere Polyphenol-Abteilung. Und direkt vor Ihnen ist das Forschungslabor. Wir arbeiten gerade an gewissen Oxidationen, um Alkansäuren zu verestern. Das ist der letzte Pfiff, der den Weingeschmack wirklichkeitsgetreu macht.“ Ob das denn tatsächlich nach Wein schmecke? Dupont öffnete einen der in der Wand eingelassenen Zapfhähne und ließ die goldgelbe Flüssigkeit in ein Glas rinnen. „Zum Wohle! Sie verkosten gerade einen frischen Gewürztraminer, Herstellungsdatum: heute Vormittag.“ Es roch nach Mandel und bitterer Orange, Nelken und Anis. Ein köstlicher Tropfen.

„Bisher haben wir nur Weißweine hergestellt. Sie sind verhältnismäßig einfach. Gut drei Dutzend Aromen werden im Gaschromatographen analysiert und in der richtigen Menge zusammengesetzt. Aber wir experimentieren bereits an den ersten Rotweinen. Die sind chemisch viel komplizierter. Und sie schmecken auch noch ein bisschen kantig.“ Ich nahm ein zweites Glas, um mit meinem Gastgeber anzustoßen, doch er wehrte entschieden ab. „Wissen Sie, ich trinke keinen Alkohol. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht die leiseste Ahnung von Wein. Aber müsste ich das auch?“ Pikiert fragte ich ihn, warum er als Chemiker sich nie mit Weinen beschäftigt habe. Wie überrascht war ich, als Dupont hell auflachte. „Ah non! Sie verkennen mich! Ich bin Philosoph. Gerade sitze ich an einem Werk zur Rezeption von Blaise Pascal. Ein Kapitel über Nietzsche ist fertig. Ich zeige es Ihnen gerne.“

Ob ich wollte oder nicht, es beschäftigte mich doch. „Monsieur“, fragte ich ihn, „halten Sie es als Philosoph für ethisch vertretbar, unreinen Wein einzuschenken?“ Er lächelte. „Wenn Sie mir erlauben, Moses Saphir zu zitieren: ‚Der Wein und die Wahrheit sind sich nur insofern ähnlich, als man mit beiden anstößt.‘ In Amerika sind künstliche Weine längst Normalität. Man panscht Chemikalien zu neuen Sorten zusammen oder kontrolliert den Output – keine charakteristischen Jahrgänge, dafür ein stereotyper Einheitsgeschmack, den dieses Volk so schätzt. Auch australische und neuseeländische Weine solcher Machart werden hier gehandelt, die EU hat nichts dagegen einzuwenden. Nur in Ihrem schönen Land werden die Weine noch nach natürlicher Methode hergestellt.“ „Dennoch verstehe ich den Aufwand nicht“, hakte ich nach, „dies Verfahren ist umständlicher und teurer, als Spitzenweine auf die übliche Art zu erzeugen.“ Dupont gab mir Recht. „Es kann also nur Ihr Ziel sein, dekadenten Weinnasen einen überteuerten Chemiecocktail zu verkaufen.“ „Ich sehe“, gab er zur Antwort, „Sie haben es verstanden. In der Tat, ein philosophisches Experiment. Ich bitte um Pardon, wenn ich mich vorhin etwas degoutant ausgedrückt haben sollte. Man ist so oft mit der Dummheit des Pöbels gestraft, der einfach nicht begreifen will, was er doch sieht.“

Jean begleitete uns ins Arbeitszimmer, wo ein Tischchen mit Räucherfisch und Salaten nebst frischem Weißbrot uns erwartete. Das Porträt des Schlossherrn hing über dem Kamin. Unter dem Fenster stand ein geräumiger Käfig, in dem zwei Wiesel sich um ein Stück Hühnerfleisch balgten. Monsieur Dupont öffnete eine Flasche Sophienbräu. „Ich erlaube mir? Meine Hausmarke. Sie müssen schließlich noch fahren.“