Kehrt, marsch!

15 12 2009

„Momentchen noch, ich kriege eben die neuen Zahlen rein. Auweh… nein, so schlimm auch nicht. Es reicht halt nicht. Aber wir kriegen das in den Griff. Bestimmt. Ja, davon können Sie ausgehen. 2025 sollte sich etwas geändert haben, wenn nichts dazwischen kommt. Klar, das kann man nie wissen. Aber 2025 ist schon mal eine ganz gute Richtung. Länger wird die Merkel ja wohl nicht durchhalten.

Nein, das ist komplizierter, als wir glaubten. Wir haben ungefähr elf Prozent verloren, Die Linke und die Grünen davon die Hälfte gewonnen – bleiben fünfeinhalb. Piraten minus zwei, heißt also, dass wir immer noch dreieinhalb Prozent… Gut, die kann man jetzt auch als Fehlertoleranz rausrechnen, man sollte ja bei Fehlern auch mal tolerant sein. Ja, nicht wahr? Bei unseren eigenen sind wir immer tolerant, da haben Sie Recht. Auf jeden Fall sind also mal die Piraten Schuld, dass wir jetzt diese Regierung haben. Da beißt die Maus doch keinen Faden ab. Und wenn wir das beweisen können, werden wir es irgendwann auch. Klar.

Verschwörungstheorie? Ich bitte Sie, das meinen Sie doch nicht ernst! Natürlich waren es die Medien. Sie sehen es doch jetzt beim ZDF, dass die Unionsparteien ihren undemokratischen Einfluss auf die Massenmedien überall ausnutzen, um die Bevölkerung darüber hinwegzutäuschen, dass sie jetzt… Wahlkampf? welcher Wahlkampf? Ach so, bei der Bundestagswahl. Da werden sich unsere Experten erst ein Urteil erlauben können, wenn wir endgültige Ergebnisse haben. Vermutlich hat es etwas mit der Erderwärmung zu tun, dass an diesem Sonntag so viele Wähler zu Hause geblieben sind.

Warum wir das erst jetzt bemerkt haben? Es ist nämlich… sagen Sie’s nicht weiter, aber die SPD ist ja doch schon eine recht alte Partei, da dauert die Schrecksekunde eben etwas länger. Ja, das kann auch mal eine halbe Legislaturperiode sein. Oder eine ganze. Oder zwei, ja. Also bei der Agenda 2010 wollten wir ja noch warten. Schrittweise Absenken der Ignoranz, sagt der Parteivorstand. In drei Stufen, meinen die Berater. Sie wissen doch, jeder Arbeitsplatz hat ein Gesicht. Gut, bei Hartz würde ich es nicht direkt Gesicht nennen, aber…

Ausgeschlossen! Das ist mit uns nicht zu machen! Schon aus ethischen Gründen nicht! Wenn wir jetzt auch noch Lohndumping und Rente mit 67 als Fehler bezeichnen, dann treiben wir doch das Land in ein Stimmungstief, aus dem die Banken nie mehr… Die Industrie? Die sollen nicht jammern, für die Ein-Euro-Jobs hätten sie mehr Dankbarkeit zeigen sollen. Und wenn Sie erst mal begriffen haben, dass das, was für die Wirtschaft gut ist, auch sozial ist, dann werden Sie begreifen, dass es hier keinen Grund gibt, sich öffentlich zu entschuldigen. Ich höre es doch schon – am Ende würden Sie uns auch noch Heuchelei nachsagen! Unverschämtheit!

Allerdings, man kann das eine tun und braucht das andere dann nicht zu lassen. Deshalb ist das Wachstumsbeschleunigungsgesetz schlecht, obwohl die Abwrackprämie die Arbeitsplatzverluste in der Autoindustrie bestimmt verdoppeln wird. Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Das eine war eine Finanzspritze, die den Arbeitsmarkt aushöhlt, das andere… Nein, ist es nicht! Es macht die Länderfinanzen und die Bildung kaputt. Das ist ja wohl ein himmelweiter Unterschied!

Warum müssen wir denn für jede Kehrtwende eine Erklärung abliefern? Hören Sie mal, das war so nicht bestellt! Gucken Sie mal den Westerwelle an, heute so, morgen so, und damit wird der Mann noch Vize – ja, man muss doch flexibel sein heutzutage!

Lippenbekenntnisse? Sollen wir jetzt den Tauss zum Parteivorsitzenden machen? Nein, da braucht es sturmerprobte Kader. Alte Kämpen, verstehen Sie, die unsere Partei durch so manche Katastrophe gesteuert haben und auch vor der größten… Die Nahles? Klar, die macht’s. Aber erst mal verheizen wir den Gabriel, dann kommt Scholz dran und dann wollen wir mal sehen, ob der Schäfer-Gümbel noch in der Partei ist. Oder ob er noch lebt. In Hessen weiß man das ja nie so genau.

Gut, haben sie da eben einen Mindestlohn. Aber Polen ist eben nicht Deutschland. Als Opposition kennen wir eben auch nationale Verantwortung, wir können doch jetzt nicht die guten wirtschaftlichen Verflechtungen zu unseren EU-Nachbarn einfach so zerstören. Das wäre ja unverantwortlich.

Moment mal, das haben wir nicht gesagt! Das haben wir nie gesagt! Bleiben Sie bei der Wahrheit – wir sind gegen das Zugangserschwerungsgesetz, aber dass wir auch gegen Sperrung von anderen Inhalten wären, können Sie uns nicht unterstellen! Schließlich darf das kein rechtsfreier… Die Idee kam ja schließlich von uns, wir wollten sie damals… Sie sind wohl selbst ein Neonazi, was? Dann fragen Sie eben nicht so dumm. Na, einen Deckmantel braucht man eben, wenn man gegen die Verfassung… Ob wir in der Regierung wieder eine Internetzensur einführen? Sie glauben doch nicht, dass es noch ein Internet gibt, wenn die SPD je wieder an der Regierung ist! Opportunismus? Wo sehen Sie hier denn Opportunismus? Das machen wir wie die FDP. Die wahre Freiheitsstatue, der Hort der Bürgerrechtsbewegung, ist nämlich die Sozialdemokratie. Bis zur nächsten Wahl. Und dann sehen wir mal weiter.

Sie sollten das mal pragmatisch betrachten: Opposition ist zwar Mist, aber möchten Sie für Ihr Geld ständig arbeiten müssen?“





Schmutz und Trutz

4 08 2009

„Ja, wir werden uns sofort darum kümmern! Ja! Selbstverständlich!“ Timmsen nahm erschöpft die Sprechgarnitur ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „In einer Tour, sage ich Ihnen“, stöhnte er, „das hört einfach nicht auf. Die Leute sind wie bekloppt, als hätten sie darauf gewartet.“

Die Dienststelle hatte ihr Callcenter erst vor kurzer Zeit eingerichtet und nahm rund um die Uhr Anrufe besorgter Bürger entgegen, die sich über Schmutz im Internet beschwerten. „Wir sind hier für jeden Unsinn zuständig und müssen uns das alles auch noch ansehen. Und dann dafür sorgen, dass das Internet kein rechtsfreier Raum mehr ist.“

Schon wieder piepste es und ein neuer Anruf wartete auf Timmsen. „Ja hallo, was darf ich für Sie tun? Eine persönliche Verunglimpfung in einem Internet-Forum? Können Sie mir mal den Text diktieren?“ Angestrengt starrte er auf den Bildschirm. „Bill… Kaulitz… ist… eine… dumme… Schwuchtel… Schwuchtel, ja, ist so für Sie notiert. Wo haben Sie das her? Haben Sie gerade die Internetadresse parat?“ Er scrollte die ganze Forendiskussion hinunter und gab die inkriminierenden Daten in eine Suchmaske ein. „Die Kollegen vom BKA werden sich jetzt darum kümmern.“ Ich schaute ihn entgeistert an. „Und für solche Kinderlitzchen schickt man gleich das Bundeskriminalamt los? Was machen die denn?“ „Das hängt davon ab“, antwortete Timmsen, „bei leichteren Fällen wie solchen genügt das übliche Stoppschild. Dann ist die Domain eben weg vom Fenster und man hofft, dass sich die Leute nicht vorher schon genügend Ausdrucke gemacht haben. Aber die richtig happigen Fälle… na ja, ich dürfte Ihnen das eigentlich gar nicht so erzählen.“ Das machte mich natürlich neugierig. „Also wir haben da einen, der hat sich jetzt seit Wochen jeden Tag über bild.de beschwert. Da stünden lauter Lügen und bösartige politische Propaganda und so ein Zeugs, da mussten wir natürlich irgendwann mal einschreiten. Ging leider etwas in die Hose.“ „Wie meinen Sie das, es ging in die Hose?“ „Wir haben das BKA informiert“, berichtete Timmsen, „und die sind dann gleich mit dem SEK losgezogen, drei Hundertschaften … dann ist eben diese Panne passiert.“ Welche Panne? Timmsen druckste herum. „Sie wussten nicht, was sie tun sollten, da haben sie eben völlig überreagiert. Als sie gesehen haben, dass das alles schon ausgedruckt war und an allen Zeitungsständen erhältlich, sind mit ihnen die Pferde durchgegangen. Und dann hat sich Kai Diekmann in den Weg gestellt.“ „Kai Diekmann? Der Kai Diekmann?“ „Ja. Furchtbar. Fünf Beamte von vorne, sieben von hinten. Dauerfeuer. Schrecklich. Sie haben ihn nur am Haargel identifizieren können. Hallo, was darf ich für Sie tun?“

Hemmungslos mobbten, beleidigten und betrogen die Menschen einander. Hier war eine frustrierte Endzwanzigerin mit Figurproblemen auf der Suche nach Liebe einer Dating-Plattform beigetreten; nach anfangs Erfolg versprechenden Flirtversuchen stellte sich der überaus charmante BadPritt31, laut Profil angehender Chefarzt in der Charité, jedoch als geschiedener Berufskraftfahrer heraus, dem der Unterhalt für seine drei Kinder den größten Teil seiner Frührente nach 22 Arbeitsjahren wegfraß. Das böse Netz hatte sie gefangen und eingelullt, und so rächte sich die Leichtgläubige nun, indem sie den Schwindler verpetzte und ihm die Pest an den Hals schickte, worin sie sich nur graduell vom Gros der übrigen Anrufer unterschied. Ein falsch parkendes Auto war ihnen nicht mehr aufregend genug, doch konnten sie das Bild eines nicht ordnungsgemäß abgestellten Fahrzeugs im Web nachweisen, so deuteten sie es als Aufforderung zum Begehen von Ordnungswidrigkeiten und witterten Terrorismus. Die Republik litt nicht an Beschäftigungsmangel.

„Also eigentlich sollen wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet erhalten. Aber wie das im Familienministerium so ist, wenn Du Meinungsfreiheit durchsetzen willst, verbietest Du den Leuten den Mund. Und dafür sind wir da.“ „Sie sind eine Art Zensurbehörde?“ „So würde ich das nicht sehen. Wo die Würde eines anderen verletzt wird, endet die eigene Freiheit. Wir nehmen die Verletztheit der Bürger entgegen und beenden dann… Hallo?“

Ich blätterte das Phrasenhandbuch durch, das man den Telefonisten als Gesprächsleitfaden auf die Tische gelegt hatte. „Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten“, las ich – man muss demnach ein richtiges Maß finden, innerhalb dessen man die Grundrechte, die in der Verfassung uneingeschränkt zugebilligt werden, noch erhält, um dann alles außerhalb dieser Maßgabe abzuschaffen. Da begriff ich, was gespielt wurde. Und schlagartig wurde mir klar, wohin diese Reise gehen würde. Sicher nicht in die freiheitlich demokratische Grundordnung. Eher in den real existierenden Surrealismus. Bald würde man beim Telefonieren unterbrochen, wenn man unhöflich wäre – irgendwann müsste man nachsitzen, wenn man in seinen Liebesbriefen falsche Kommata setzt.

„Oh Gott… ach du Scheiße!“ Timmsen zitterte. Seine Lippen bewegten sich tonlos. Mit fahrigen Fingern wischte er über die Tastatur. „Jetzt muss ich das BKA aber echt losschicken. Volksverhetzung! Und das wird eine Bombe!“ „Und“, fragte ich, „hat wieder jemand etwas über Tokio Hotel gepostet?“ „Ach was“, stammelte Timmsen, „die Seite des Bundesfamilienministeriums.“





Streng geheim

3 08 2009

Nein! Und nochmals: nein! Sie blieb dabei. Ursula von der Leyen weigerte sich standhaft, den Datenschutz der ihr anvertrauten Bediensteten zu verletzen. Einblick in die Fahrtenbücher ihrer zwei Dienstwagen gebe es nicht. Basta!

Da Gefahr im Verzuge lag, erging aus Karlsruhe ein wegweisendes Urteil. Die Schutzbedürftigkeit von vielerlei Informationen lag nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts schon lange im Argen, was das Innenministerium maßgeblich verursacht hatte; ein verfassungskonformes Umdenken sei nun vonnöten, der Datenschutz sei als Staatsziel keine hohle Phrase, sondern gehöre zu den vordringlichen Pflichten aller gesellschaftlichen Kräfte. Vieles, was einfach in die weite Welt hinausposaunt worden war, gehöre eigentlich unter hohe Geheimhaltung.

Die Regierung begriff und setzte das Urteil schnellstmöglich um. Noch vor dem 27. September, so ging der Ruf durch alle Fraktionen, müsse man ein Gesetz zur Geheimhaltung von nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen durch den Bundestag peitschen, in welcher Form auch immer. Alle beteiligten sich, wie es ja auch sonst üblich war, wenn die Parlamentarier mit stolz geschwellter Brust zusammentraten, dem hehren Ziel der freiheitlich demokratischen Grundordnung dienen zu dürfen; geschlossen und vollzählig traten die Volksvertreter an, um ohne Ansehen der Sache den abgenickten Entwurf durchzuwinken – mancher Fraktionsvorsitzende ließ es sich nicht nehmen, persönlich Badestrände, Bars und Bordelle nach den Abgeordneten zu durchsuchen und säumige Hinterbänkler in Reih und Glied zu bringen – und so wurde Abend und aus Fakten wurde Gesetz, und es war gut so. Befreit atmete der Spreebogen auf.

Zunächst verbaten sich die Politiker, nach Nebeneinkünften gefragt zu werden, da dies der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit widerspräche. Auch abgeordnetenwatch.de wurde nicht hinter Stoppschildern verschanzt, sondern schleunigst abgeklemmt, nachdem das BKA zufällig entdeckt hatte, wie das funktioniert. Die Staatsmannen seien nur ihrem Gewissen verpflichtet, so hieß es, und öffentliche Gewissensforschung sei nicht zumutbar.

Von der Leyen hatte zwar aus steuerrechtlichen Gründen noch ein kleines Scharmützel mit dem Datenschutzbeauftragten zu erwarten, doch half ihr das Geheimhaltungsstufengesetz. Es hatte sich um Kraftwagen samt Fahrern gehandelt, nicht um den ICE, der ja ein öffentliches Verkehrsmittel ist; die Mobilitätshilfe der Ministerin sei jedoch in die Klasse Nur für den Dienstgebrauch eingestuft, somit gehöre das Fahrtenbuch nicht in die Hände naseweiser Behörden.

Doch die Kritik gab keine Ruhe. Hatten etwa die Abgeordneten dies Gesetz, das so geheim war, dass sie es selbst vor der Verabschiedung nicht hatten lesen dürfen – sogar dies wurde nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekannt – mit überzogenen Inhalten gefüllt? War die Richtlinie nicht mehr verhältnismäßig? Hatte man am Ende die Politik von den Bürgerrechten getrennt, mit zweierlei Maß gemessen? Von der Leyen verteidigte die Parlamentskollegen. „Es reicht nicht, die rechtliche Lage zu kennen“, klärte sie die Journalisten auf, „von Politik wird zu Recht verlangt, Vorbild und Maßstab zu sein.“

Dennoch sickerten immer wieder staatstragend Verschwiegenes an die interessierte Öffentlichkeit. Der Urlaubsort der Kanzlerin wurde publik. Man hatte herausgefunden, mit welcher Begründung Wolfgang Schäuble denn diesmal die Bundeswehr im Innern einsetzen wollte. Umgehend dementierte der Verfassungsschutz, V-Männer in die CDU eingeschleust zu haben. Man könne nicht jeden Verein überwachen. In der Bundesoberbehörde laufe man ohnehin schon permanent mit dem Grundgesetz unter dem Arm herum, nachdem das Bundesministerium des Innern seine sämtlichen Exemplare entsorgt hatte; man könne da nicht auch noch mit dem Kopf unter dem Arm kommen.

Nicht einmal Werner Mauss wusste, was hier gespielt wurde. Dafür wusste keiner, wo Mauss war.

Steinmeier versprach in seinem Deutschland-Plan vier Millionen neue Arbeitsplätze in der Republik. Die FDP beharrte energisch auf Steuersenkungen für Großkonzerne und Banken. Ob, wann und wie das alles zu erreichen sei, lag jedoch wohlverwahrt im Verborgenen, und bis zur Bundestagswahl, so beschlossen Regierung und Opposition einhellig, läge es da wohl auch gut.

Rechtsphilosophen philosophierten indes recht angestrengt, wie man denn das Grundgesetz nun kategorisieren solle. War es streng geheim? gar eine Kommandosache? Letzteres missfiel manchen, die den appellativen Sonntagscharakter der Verfassung nicht recht gewürdigt sahen, und so einigte man sich auf den Terminus Verschlusssache, der auch bei Schäuble Wohlwollen weckte. Denn was man abschließen kann, gerät nicht so schnell in Unordnung.

Unterdessen weigerte sich das BKA beharrlich, Einzelheiten zu Ulla Schmidts Dienstwagen zu nennen. Sie hätten alles aufklären können, da das Auto mit einem Ortungsgerät ausgestattet ist und der Standort den Kriminalern jederzeit bekannt gewesen war. Doch sie mauerten. „Dem Ansehen von Politik schaden solche Diskussionen wie jetzt um Frau Schmidt immer“, ließ sich die Familienministerin auf dem Boulevard vernehmen.

Die Geheimniscrème musste nun nicht mehr hinter hohen Hecken hecken, ganz offen besprach man die anstehenden Fragen, um eine neue soziale Marktwirtschaft auf den Hinterlassenschaften der Krise zu installieren. Kürzung der Regelsätze, eine verschärfte Verfolgungsbetreuung, deutlich höhere Bankerboni, alles wurde bei Rieslingsekt und Hummerhäppchen festgezurrt, ohne ministerielle Mysterien. Da die Presse nun die Freiheit besaß, nicht mehr darüber berichten zu dürfen, schwand der Druck auf die Entscheider.

Die zufällige Hausdurchsuchung bei einem Leserreporter förderte Erschreckendes zu Tage; wie selbstverständlich hatte er einen Schnappschuss angeboten, der die Bundesmutti beim Gemüsekauf in einem Discounter zeigte. Die Beamten druckten die Bilder umgehend aus und zerschnipselten sie zur Unerkenntlichkeit. Das Ansehen der Ministerin schien gerade noch einmal gerettet – Ursula von der Leyen im Selbstbedienungsladen, das hätten BILD-Leser kaum je verkraftet. Der BND atmete hörbar auf. Auch Dieter Althaus ließ sich wieder blicken.

So blieb es auch weitgehend ungehört, als ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter Bedenken am Zugangserschwerungsgesetz anmeldete. Der Bund habe ein Gesetz erlassen, für das er gar keine Gesetzgebungskompetenz habe; diese liege, im Falle der Straftatverhütung wie bei der Einwirkung auf die Inhalte von Medienangeboten, bei den Ländern. Doch das griff die Politiker bei der Ausweitung der Symbolgesetzgebung nicht weiter an; welche Arten von Internet-Inhalten betroffen sein würden, wurde allerdings aus Rücksicht auf die Geheimhaltungsstufe des Projekts nicht bekannt.





Schweinkram

4 06 2009

„Alles in Butter!“ Der Techniker versetzte dem Gehäuse einen kleinen Klaps. „Daten gesichert, neues Netzteil, Betriebssystem neu installiert, die Kiste läuft wieder.“ Erleichtert unterschrieb ich die Empfangsbestätigung. Drei Tage zwischen Hoffen und Bangen, nur weil die Stromversorgung einen Aussetzer hat. Jetzt würde ich endlich wieder in Ruhe arbeiten können.

In der Zwischenzeit waren lange Papierfahnen aus dem Faxgerät gequollen. Der Anrufbeantworter blinkte beständig. Wo denn das Rundfunk-Feature über die Erforschung des Amazonas bleibe. Ob ich nicht endlich das vom Landwirtschaftsministerium angemahnte Loblied auf die deutsche Zuchtsau abliefern könne. Rasch brühte ich eine große Kanne Kaffee und stürzte mich sogleich ins Geschehen. Ich begann mit einer Recherche über den großen südamerikanischen Fluss und tippte etwas in die Suchmaschine. Doch kaum hatte ich die Anfrage abgeschickt, poppte ein großes rotes Schild auf dem Bildschirm auf. STOP verkündete mir der Rechner. Und da meldete sich auch schon die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher. „Wollen Sie diese Suche wirklich ausführen?“ Ich klickte auf die Schaltfläche zur Bestätigung. „Geben Sie Ihre persönlichen Daten zur Altersverifikation ein. Sie sind im Begriff, Inhalte zu suchen, die den Moralvorstellungen des Landes, in dem Sie sich aufhalten, derzeit nicht mehr entsprechen.“

Was wollte dieser bescheuerte Kasten von mir? Ich klickte wild auf diversen Schaltflächen herum, doch nichts tat sich. Schließlich beendete sich das Programm. Ich griff zum Telefon und ließ mich umgehend mit dem Techniker verbinden. Er war im Bilde. „Warten Sie mal, welches Betriebssystem hatten Sie noch mal? Virus 2000 oder Sinnlos XY? Dann kann es sein, dass wir Ihnen aus Versehen ein Update der Datensicherheitsrichtlinie aufgespielt haben.“ Datensicherheitsrichtlinie? „Wussten Sie das nicht? Ach ja, Sie hatten ja drei Tage lang kein Internet. Eilgesetzgebung aus Berlin. Was hatten Sie denn eingegeben?“ Wahrheitsgemäß nannte ich ihm den Grund meiner Suchanfrage. „Ja, da haben wir’s doch schon“, antwortete der Spezialist, „ein obszönes Wort: Amazonasexpedition.“ Was ist daran denn unanständig? Vielleicht, dass in der Region ein paar Millionen Menschen am Rande einer kilometerbreiten Dreckbrühe vegetieren und sich von Abfällen ernähren müssen, während die Industrie für Billigsteaks in den USA den Regenwald umklappt.

„Schauen Sie doch mal genau hin, was da steht: AmazonaSEXpedition! Der Sperrfilter reagiert auf Wortbestandteile. Ganz neue Programmiertechnik. Unintelligentes Design. Fuzzy Unlogic.“ „Wie kriegt man das wieder weg?“ Er druckste ein bisschen herum. „Gar nicht. Das ist ein Nachteil an diesem Sperrfilter. Was einmal installiert ist, das kann man nicht mehr rückgängig machen. Dazu kommt natürlich der zentrale Filterkern.“ Der was? „Der zentrale Filterkern. Die Sperrregeln sind nicht auf Ihrem Computer gespeichert, sondern in einer zentralen Datenbank. Was da drin ist, weiß allerdings kein Mensch. Man munkelt, die Programmierer wüssten es selbst nicht ganz genau.“

Ich tippte erneut. „Sie sind im Begriff, Inhalte zu suchen…“ Wie gehabt. „Sie können das Ding aber überlisten“, kicherte der Computermensch, „geben Sie einfach ‚Amazonas‘ und ‚Expedition‘ getrennt ein. Das überfordert das System.“ Ein paar nervige Tastendrücke später – ich musste noch kurz auf die Verfassung schwören, einige willkürlich ausgewählte Fragen aus dem Einbürgerungstest für hessische Untertanen beantworten und mich für ein Quiz registrieren, bei dem ich dreimal am Tag eine Risikobewertung meiner E-Mail-Kommunikation gewinnen konnte – befand ich mich in den Tropen. Herrlich. Die majestätische Stille wurde nicht länger durch das klöterige Organ der Netnanny zerfetzt. Auch das Amazonasbecken ließ sich nun leicht erkunden. Beim ersten Testlauf kündigte mir Miss Blockwart noch an, das Becken sei per se ein unstatthafter Körperteil, erst ab 18 freigegeben und selbst dann ausschließlich in Begleitung von Erziehungsberechtigen zu betreten – offenbar hatte die Warneule ihre anale Phase ohne erfolgreichen Abschluss verlassen – der zweite Durchlauf gab mir einen umfassenden Überblick von Peru bis zu den Gestaden des Atlantik. Ich war’s zufrieden und söhnte mich aus mit der besten Regierung, die man für Geld bekommen könnte.

Jetzt noch schnell die Sau rauslassen, dann war der Tag erledigt. Wie zuvor gab ich alles fein säuberlich getrennt ein und landete manch schönen Treffer, unbemerkt vom fest installierten Zuchwart, der fein die Schnauze hielt. STOP verkündete das Schild plötzlich. „Sie pädophile Drecksau!“ Unentwegt ätzte die Stimme. „Sie sind ein Pädokrimineller! Das wird Konsequenzen für Sie haben!“ Der Bildschirm war gefroren, die Kiste reagierte nicht mehr. Hektisch hackte ich auf der Tastatur herum. Noch immer fistelte mich der Lautsprecher an. In höchsten Tönen überschlug sich das Unterleibsfalsett. Ich zog den Netzstecker.

„Gut gemacht“, bestätigte der Profi am anderen Ende der Leitung, „wenn Sie ausschalten, können die Ihre Verbindung nicht mehr kappen und in die Datenbank eintragen. Aber sagen Sie mal, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?“ Verwirrt fragte ich, was ich denn falsch gemacht hätte. War ich am Ende zoophil und wusste es nur noch nicht? „Ich bitte Sie, wer gibt das in eine Suchmaschine ein? Sind Sie etwa lebensmüde? Schweine Bilder?“





Hexenjagd

23 04 2009

Die ersten Verhaftungen waren nahezu unbemerkt geschehen, da sie keiner erwartet hatte. Insgesamt verlief die Sache eher ruhig. Scheiterhaufen waren diesmal unnötig gewesen, der Verwaltungsapparat erledigte es verschwiegen, präzise und ohne nach den Gründen zu fragen. Nach dem Hintergrund schon gar nicht.

Der erste Index enthielt neben den Schriften von Kurt Tucholsky und Karl Marx auch Heinrich Heine, wobei sich das Ministerium nicht zu eng an die Aktion wider den undeutschen Geist anzulehnen bemüht war. Allein um manche Autoren entbrannte ein erbitterter Streit, persönliche Abneigungen und fundiertes Nichtwissen gingen Hand in Hand. So gelangte Erich Kästner trotz heftiger Gegenrede des PEN-Zentrums doch in das Verzeichnis; gerade von seiner vor dem Kriege entstandenen Erzählprosa gehe eine enorme jugendgefährdende Wirkung aus, teilte die Ministerin mit.

Zunächst waren nur der unmittelbare Besitz von Büchern unter Strafe gestellt oder die Lektüre derselben. Der Beamtenapparat hatte alle Hände voll zu tun, um die Verordnungen durchzusetzen. Aufwändige Schulungsmaßnahmen gingen dem Einsatz voran, denn die Ordnungshüter mussten mit dem Material vertraut gemacht werden. So saßen Tausende in ihren Behörden und wühlten sich durch Berge von Schmutz und Schund.

Eine Welle von Festnahmen überrollte das Land, als eine Kopie der aktuellen Büchersperrliste in die Öffentlichkeit gelangt war. Auf ihr befanden sich unter anderem eine Publikation Joseph Ratzingers, die aus Versehen verzeichnet worden war. Doch es kam nicht auf den Inhalt an. Die Liste zu besitzen stellte bereits einen hinreichenden Grund für eine empfindliche Strafe dar.

Natürlich reichte das alles nicht aus. Bücher, die sie einmal gelesen hatten, gingen den Menschen nicht mehr aus den Köpfen. Zudem erkannten die zuständigen Stellen, dass Bücher, wiewohl sie dem Urheberrechtsschutz unterliegen, von mehr als einem gelesen werden, ganze Lesezirkel existierten, ja sogar nicht abschließbare Bücherschränke. Man einigte sich darauf, bereits beim Verdacht zuzuschlagen, ein indiziertes Buch gelesen oder es, gelesen oder nicht gelesen, weitergegeben oder die Weitergabe nicht verhindert zu haben.

Das Ministerium war zufrieden. Die Zahlen stiegen explosionsartig an, allein die Vertreibung der Autoren hatte sich verdoppelt.

Die Gegenöffentlichkeit war bereits organisiert, bevor die Folgen der Zensur trafen. Bookcrossing wurde ein subversives System, verbotene Schriften weiter zirkulieren zu lassen. Man ließ einfach ein inkriminiertes Buch im Schutzumschlag liegen, im Straßencafé oder auf einer Parkbank. Die Methode, ausgediente Aktentaschen neben Papiercontainern zu deponieren, etablierte sich innerhalb weniger Wochen. Schaute ein Ordnungshüter etwa einem Verdächtigen über die Schulter, konnte der immer noch angeben, er habe die untersagten Druckwerke just in diesem Moment gesetzeskonform entsorgen wollen. Manche Idee entwickelte sich in der Szene hinter den Hauptbahnhöfen, wo Jugendliche ihre erste Berührung mit nobelpreisgekrönter Prosa und dem Gesamtwerk Sigmund Freuds machten. Die Druckindustrie boomte. Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit erschien in den Innenbögen einer Anleitung zum Nassrasieren, wo es nicht weiter auffiel. Mein Kampf erfreute sich großer Beliebtheit und lagerte in so manchem Schreib- oder Nachttisch. Je nach Wahl enthielt die braune Schwarte Döblin, Kochrezepte oder Pornografie.

Selbstverständlich wurden dabei öffentliche Bibliotheken verschont. Das Ministerium verwahrte sich dagegen, eine Bevormundung der Büchereien anordnen zu wollen. Auch Hochschulbibliotheken waren nicht betroffen. Die Zensurbehörde forderte vom deutschen Studenten Wille und Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis und Entscheidung.

Internationale Besserungen stellten sich ein. Nicht nur die diplomatischen Kontakte zum Iran und zu Nordkorea entspannten sich, auch innerhalb der EU wuchs die Zustimmung. Die Kommission zeigte sich zuversichtlich, auf der Grundlage der existierenden Gesetze ein komplettes Verbot von Papierwaren erwirken zu können, welche Konsequenzen das auch immer haben möge.

Dennoch bleib der Buchhandel unbehelligt. Da weder Druck noch Verlagswesen von der Zensur gegängelt wurden – man musste ja auch an die wirtschaftlichen Interessen von Drittstaaten denken – erschienen unvermindert viele Bücher, lagen bei den Sortimentern aus, durften verkauft, rezensiert und im Leihverkehr besorgt werden. Es handele sich, so das Ministerium, nicht um ein generelles Buchverbot. Unterdessen rief ein anderes Referat des Ministeriums nach wie vor zum Lesen auf und propagierte – sicher nicht aus Berechnung, eher aus Dilettantismus – die verbotenen Bücher. Sie waren ja auch leicht zu erhalten, wenigstens auszugsweise. Der Nachdruck in Schulbüchern hielt nach wie vor an. Manche Pädagogen kritisierten die Haltung der Ministerin. Sie gab jedoch zu verstehen, man habe Wichtigeres zu tun, als sich um Kinder und Jugendliche zu kümmern, hier handele es sich um Fragen der nationalen Sicherheit.

Als eifrige Buchprüfer die Bibel auf den Index setzen wollten, da sie die Anarchie im Lande zu befördern geeignet schien, merkten sie, dass diese Schrift längst nicht mehr hergestellt wurde. Billige Massenauflagen im Dünndruck hatten das Land überschwemmt.