„Wir nehmen den da. Nein, nicht den. Den da hinten. Genau den.“ Der Händler griff ein bisschen missmutig in die Schar der Weihnachtsbäume, als hätte Hildegard gerade versucht, ihm den Star des Sortiments, die einzige nicht verkäufliche Tanne zu entreißen. Sie war groß, sogar für die ansonsten doch eher schlank und dafür kurz bis mickerig und irgendwie gedrungen und eher klein gewachsenen Bäumchen, insgesamt zwei bis drei Köpfe größer als die anderen. „Wir stellen das Ding dies Jahr auch nicht aufs Podest“, befand die Gefährtin, „das haben wir ja bei Breschkes gesehen. Am besten ist immer noch die Natur, vollkommen unberührt. Also naturbelassene Schönheit.“
Das Manöver mit dem Netzschlauch hatte das Feiertagsgehölz halbwegs unbeschadet überstanden, doch schon das Verlasten auf den Dachgepäckträger brachte Hildegard in Rage. „Hier sollten Schlaufen sein“, nörgelte sie. „Warum sind denn hier keine Schlaufen?“ Meinen Vorschlag, nächstes Jahr einen Baum mit Schlaufen im Stadtwald zu suchen, an Ort und Stelle selbst zu schlagen und dann nach Hause zu transportieren, ignorierte sie schlicht. Den Hinweis, dass es sich bei diesem Gepäckträger um den eigenen handelte, der zufällig auf ihrem Wagen angebracht war, nahm sie auch nicht zur Kenntnis. Sie ließ mich nur wissen, dass sie nun schnellstens nach Hause wollte.
Eine Viertelstunde später standen wir vor dem Haus, das mir seltsam bekannt vorkam. Richtig, schoss es mir durch den Kopf, hier wohnte ja ich. „Ein bisschen schneller“, befahl Hildegard, „ich will heute noch fertig werden mit dem Baum.“ Ich seufzte. Warum musste ich auch ins Dachgeschoss ziehen, wenn sie einen Tannenbaum dorthin haben wollte. Einen großen Tannenbaum. Einen großen, stark pieksenden Tannenbaum, der aus reiner Bosheit schon jetzt zu nadeln begann.
„Etwas weiter rechts“, kommandierte sie. „Nein, so viel nicht – nur etwas.“ Das Gewächs ragte mir ins Gesicht. Hildegard stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. „Jetzt stell Dich doch nicht so an!“ Gut, dass ich den Baum sah und nicht sie. „Du musst ihn auf der Treppe ein bisschen drehen.“ „Also die Spitze nach unten“, knurrte ich. Sie verstand es nicht. „Natürlich nicht, wozu kaufe ich eine schlanke, gerade gewachsene Tanne – um ihr dann diese harmonisch gewachsene Spitze abzukneifen?“ Ich hätte wetten mögen, dass dieser Frage ein rhetorischer Unterton innewohnte.
Noch vor Einbruch der Dunkelheit hatten wir das Dachgeschoss erreicht. Der Baum stand vor der Tür und ich vor dem Baum. „Ins Wohnzimmer“, überlegte Hildegard, „oder stellen wir ihn erstmal ins Arbeitszimmer?“ Meine Idee, ihn vom Balkon wieder in den Innenhof zu befördern, weil er sich an der nächtlichen Winterluft länger frisch halten würde, perlte an ihr ab. Oder ich hatte es eine Spur zu leise gesagt. Immerhin durfte ich meine eigene Wohnung aufschließen, was nicht so ganz einfach war. Ich stand ja, wie gesagt, hinter dem Baum.
Der Fuß, frisch abgesägt oder eben auch nicht, hatte auf dem Treppenabsatz einen kleinen Flecken hinterlassen. „Das kriegt man ganz einfach mit – Vorsicht!“ Instinktiv riss ich die Tanne an mich. Hildegard schüttelte sich, die Tanne auch. Doch nur sie verlor dabei eine Menge Nadeln. „Du wärest fast an die Lampe gestoßen“, sagte sie voller Sorge. Scherben im Flur, das hatte mir noch gefehlt. Allein ich musste sie falsch verstanden haben. „Die Spitze“, flehte Hildegard, „pass auf die Spitze auf!“ Ich hielt den Baum schräg. Wie mit einer Rakete, vielmehr: einem festlich begrünten Rammbock voraus stapfte ich ins Wohnzimmer. An der Tür hielt ich an. „Es passt nicht“, stellte ich fest. Der Baum war zu hoch, genauer: er war sehr viel zu hoch. Immer vorausgesetzt, Hildegard hatte sich nicht längst für Schräglagerung entschieden.
Wer sie kennt, hätte es nicht befremdlich gefunden, dass sie mir das Ding energisch aus den Armen wand und damit resolut ins Zimmer ging. „Pass auf“, warnte ich, denn schon hinterließ das Bäumchen eine beträchtliche Nadelspur auf dem Teppich. Eine abrupte Drehung, Hildegard in zentraler Position, der Baum als Ausleger, ein Mittelast in zentrifugaler Stellung, und das Nadelbett ergänzten zartblaue Splitter. „Das Murano-Schälchen“, heulte ich auf. Zwei hatte sie schon zerstört, beide auf ihre Art unwiederbringlich und ein geliebtes Souvenir aus der Lagunenstadt. „Was lässt Du das auch auf dem Flügel stehen“, gab sie indigniert zurück. „Außerdem war das nicht ich, sondern der Baum.“
Genau einen Quadratmeter hatte ich frei für den Weihnachtsbaum. Sie nahm Maß. Traute ihren Augen nicht. Lief rot an vor unbändigem Zorn. „Die Spitze!“ „Wir können ihn natürlich auch unten ein bisschen kürzen“, tröstete ich sie. „Den halben Meter sieht man nicht.“ Wobei das Ding parterre bereits derart genadelt hatte, dass man ein weiteres Tiefgeschoss nach dem Sägen würde entfernen müssen, und noch eins, und noch eins, und noch eins. Bei Breschkes sah so ein kleines, preiswertes Bäumlein preziös aus. Breschkes besaßen allerdings ein schmuckes Podest. „Man könnte“, überlegte ich, „die Spitze eine kleine Idee kappen.“
Der Transport ging relativ schnell. Hildegard zog die Balkontür mit einem Ruck wieder zu. Der Baum stand wieder im Grünen. Kein Wunder, beim Aufprall hatte er sich auch einer größeren Menge an Nadeln entledigt. Nur noch edler, schlanker Wuchs blieb dem Weihnachtsschmuck. Wenn man ihn so von oben sah, er war wirklich eine naturbelassene Schönheit.
Satzspiegel