9. November

8 11 2009

Es war der Tag, an dem die Mauern fielen,
als Freiheit war und Aufbruch für die Erben.
Es war der Tag, als Deutschland lag in Scherben
nach Krieg und Tod, nach falsch berannten Zielen.

Es ist der Tag, nicht einer unter vielen,
da sich im Jahrkreis rot und golden färben
die Kränze, die sich schwärzen im Verderben –
nimm an Dein Los, sonst wirst Du es verspielen.

Dies war der Tag, als Synagogen brannten,
als hilflos Menschen um ihr Leben rannten.
Erkenn: es ist ein Tag von Glück und Schande.

Sieh, was Du bist. Geh aufrecht. Doch gedenke,
dass nichts sich ganz in Dunkelheit mehr senke.
So bist Du einig, recht und frei im Lande.





Die kritische Masse

7 07 2009

Die letzten beiden Tage waren in gespannter Ruhe verlaufen. Noch am Abend des 6. Oktober verkündete die Aktuelle Kamera, die Freie Deutsche Jugend bereite tatkräftig die Feier zum 60. Jahrestag der Staatsgründung vor. Mit weicher Stimme kommentierte die alternde Angelika Unterlauf die Bilder der begeisterten Pioniere, die die Strecke zwischen Brandenburger Tor und Marx-Engels-Platz für den Fackelzug von Papierresten und spärlichem Laub befreiten. Ein Einspieler zeigte das Grußwort Karl-Eduard von Schnitzlers; der schwarze Kanalarbeiter war dement, er berichtete vom Frühstück mit seinem Zimmernachbarn Lenin, doch das fiel nicht weiter auf. Man war gewohnt, dass die Fernsehsendungen inzwischen komplett synchronisiert wurden.

Jubelnde Menschenmassen säumten die Straßen der Hauptstadt, als Sahra Wagenknecht die Militärparade abnahm. Die Staatsratsvorsitzende winkte neben dem Ehrengast Kim Jong-il den Resten der Nationalen Volksarmee zu, die die Allee hinunterrasselten. Einige Dutzend Panzer und Raketenwerfer, größtenteils Dauerleihgaben der Demokratischen Volksrepublik Korea, fuhren im Kreis um das Staatsratsgebäude, um für die Abendnachrichten eine nicht endende Kette an Waffenfahrzeugen zu simulieren. Starr blickten die Offiziere des MfS in der zweiten Reihe; es gab keine Verschnaufpause, das Volk musste jauchzen und strahlen.

Aber das Volk strahlte nicht. Es gab in diesem Jahr wieder Kartoffeln und die Lieferzeit für den Trabant 613 betrug im Durchschnitt nur noch 37 Jahre. In den Seitenstraßen braute sich etwas zusammen. Wer an diesem Montag Westfernsehen empfing, der sah, wie eine Magazinsendung die im Internet kursierenden Videos kommentierte. Hacker hatten den Server des MfS geknackt. Alles war auf einmal verfügbar. Allerdings nicht für die DDR. Netzanschlüsse gab es ebenso wenig wie Mobilfunk oder Computer.

Schon nachmittags kamen die ersten Menschen zusammen. Während die Elite sich nach Wandlitz zurückgezogen hatte und bei Wachtelbrüstchen an Blattgoldrisotto die Diktatur des Proletariats hochleben ließ, marschierten sie durch die Innenstädte. Die Volkspolizei stellte keinen ernsthaften Widerstand dar. Munition gab es schon seit Monaten nicht mehr.

Bundeskanzler Wolfgang Schäuble hatte die Nachricht als erster bekommen. Das Kabinett trat eilig zusammen und beratschlagte. Man wollte abwarten, wie sich die Situation entwickeln würde. Immerhin hatten die östlichen EU-Nachbarn Polen und Tschechien ihre Zusammenarbeit auf allen Gebieten zugesagt. Man war bereit, auch in einer heiklen Situation schnell zu handeln. Die ersten Bundeswehrverbände wurden unauffällig an der innerdeutschen Grenze zusammengezogen. Für die nächsten Stunden herrschte wachsame Stille.

Dann zerstreuten sich die Kundgebungen. Das Politbüro atmete auf. Wagenknecht haspelte einige ihrer alten Sprüche im Staatsfernsehen ab – „Den Stalinismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“ – und bereitete sich auf die Prunksitzung der Volkskammer vor. Reden wollten geschwungen, Phrasen gedroschen werden. Das Volk würde die seit Monaten versprochene Ketwurst essen. Danach wäre Ruhe. Doch sie hatten sich alle getäuscht.

Immer mehr geheime Bilder tauchten auf. Die Sekretärin für Agitation und Propaganda der FDJ Angela Merkel versuchte, die Proteste abzuwiegeln; sie bezeichnete die Videos als systemkapitalistische Hypnoseversuche, die von Konterrevolutionären ins Weltnetz eingespeist worden waren. Sie mahnte zur Geschlossenheit. Allein ihr Appell fruchtete nicht, denn keiner hatte mehr als Bruchstücke gesehen. Sie wollten die ganze Wahrheit. Sie hatten genug von den Lügen und der Maskerade.

Hunderttausende kamen, Millionen. Über Buch und Schmöckwitz betraten sie die Stadt, vom Dom und vom Spittelmarkt brachen sie herein, die Massen vom Alexanderplatz drängten zur Mauer. Der Kanzler war konfus. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die kritische Masse sich so rasch hatte bilden können. In fieberhafter Eile spielten sie die Szenarien durch: Zerstörung des Schutzwalls, Evakuierung der Bundeshauptstadt, Einrichten eines Kriegsgefangenenlagers für die alte DDR-Regierung. Wie sollte man den Ostdeutschen begegnen? Was wollten sie? Brot oder die CDU? Es gab viele Fragen und keine Antworten.

Bundesjustizminister Wiefelspütz kam eilends aus dem Ministerium. In einem Vieraugengespräch gab er dem Regierungschef die erlösende Auskunft. Eine Tötung würde nicht als Verletzung des entsprechenden Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht würde, die unbedingt erforderlich sei, um einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen. Die Verfassung der EU gab also grünes Licht, um die SED-Bonzen legal aus dem Weg zu räumen – oder wen auch immer. Nun konnte man die Menge schon vom Großen Stern aus hören. Die Stimmen schwollen zu einem machtvollen Chor, der rhythmisch die Losung des Volksaufstandes skandierte: „Wir wollen freies Internet, wir wollen Bürgerrechte!“ Die Mauer bröckelte. Die ersten Plattenteile wankten, ein Segment nach dem anderen begann zu kippen.

Der Kanzler gab Schießbefehl.

Unterdessen war Kim Jong-il leicht verärgert, dass er keine Wachtelbrüstchen mehr bekam. Um diplomatische Verwicklungen zu vermeiden, ging man zu den sautierten Jakobsmuscheln in getrüffeltem Rieslingschaum über.





Bananenrepublik Deutschland

25 02 2009

Ob nun Steinmeier oder Merkel auf die Idee gekommen war, wusste hinterher keiner mehr so richtig, fest stand jedoch: die Bundesregierung beschloss eine Wiedervereinigung. Mit Panama.

Denn was macht man, wenn die Außenpolitik auf der Stelle tritt und die Wirtschaft so richtig in den Abgrund taumelt. Wenn die Minister Mist bauen und das Volk wahlmüde, politikverdrossen und autoritätsunhörig wird. Da haut man mal eben fix so eine ordentliche Wiedervereinigung raus. Das hebt die Stimmung. Das ist besser als eine Fußball-WM im eigenen Land, Weihnachten und Sex. Auch für Katholiken, die nur zu Weihnachten Fußball sehen und nicht wissen, was Sex genau ist.

Die Bananen Republik Deutschland stand auf der Agenda. Weil es sich um Panama handelte. Denn damit legte die Bundesregierung ein Überraschungsei ins geopolitische Nest, wie es noch keins je gegeben hatte. Kolonien wurde im Zeitalter der Globalisierung wieder hoffähig – die Salutschüsse der Industrienationen ordneten die Geschichte der Plattentektonik neu. Dann wurde Deutschland zum ersten Mal in der neueren Wirtschaftsgeschichte autark und musste für seine Ölvorkommen keine langwierigen Angriffskriege mehr vorbereiten. Und es erfüllte sich der Traum aller wirklichen Patrioten. Es gab Hoffnung auf Bananen. Deutsche Bananen.

Die Christdemokraten stritten noch um Zusammen- oder Getrenntschreibung; Bundespräsident Köhler entschied, da es sich ja um eine Wiedervereinigung handelte, für den Völker verbindenden Trennstrich.

Natürlich feierte der Einzelhandel ein neues Zeitalter, und natürlich meinten die multinationalen Fruchtkonzerne, die Verantwortliche in die Zange nehmen zu müssen. Ein Stück Krummobst weniger im Monopol, und Merkel würde zermatscht wie eine Kiste überreifer Importware. Die eiserne Kanzlerin blieb, wie sie war: kompromisslos.

Natürlich hatte die Regierung sich mit der Opposition in den Haaren. Natürlich forderte die Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen in einer Resolution, dass ausschließlich Bananen aus ökologischem Anbau ins Stammland verschifft würden – von Warnstreiks mal ganz abgesehen. Schon stiftete der Berufsverband Deutscher Südfruchterzeuger massiven Unfrieden, um sich gegen die Knebelverträge von Bahn und Post durchzusetzen, die mit ihrer neu gegründeten Transportgesellschaft ein hübsches Milliardenloch erzeugten. Der Bundestag segnete das als nationale Anstrengung natürlich ab und beschloss eine Abwrackprämie für mittelständische Unternehmen. Die Kanzlerin versprach ihrem Volk blühende Bananenfelder. Jubel scholl durch deutsche Gaue. Von Hessen bis Herrera.

Die Front Deutscher Äpfel ließ es sich nicht nehmen, auf einer Großkundgebung in Leipzig ihre entschiedene Ablehnung gegenüber dem Fremdobst zu unterstreichen. Bananen, so die Damen und Herren in frisch-fruchtigem Schwarz, seien auch in deutscher Produktion nicht für das deutsche Volk geeignet. Dem Gravensteiner vom deutschen Baum auf deutscher Scholle sei das Multikulti-Tuttifrutti nicht gewachsen. Panama ja – aber nicht die gelbe Gefahr! Und das wirkte. Von der NPD sprach keine Sau mehr. Mit ihr schon gleich gar nicht. Das allein war schon Gewinn für das Volk der Deutschen.

In den Beitrittsgebieten der ersten Wiedervereinigung tat sich nicht viel. Zwischen Rügen und Zwickau hatte sich das neudeutsche Volk einfach nie an die Schlauchbeeren gewöhnt. Erst tat der real existierende Sozialismus seins, um die flächendeckende Ausbreitung der Zonengurke scheitern zu lassen, dann verhinderte der Aufschwung die Kalzium-Überversorgung ganzer Landstriche.

Die Importeure ließen nicht locker. In den Fußgängerzonen verteilten sie Aufkleber und Anstecker mit dem Slogan Keine Macht dem Bogen. Rhabarber und Porree wurden zum neuen Nationalsymbol, die deutsche Geradlinigkeit ins Metaphysische zu heben. Der neue Wirtschaftsminister war verzweifelt. Merkel und Müntefering, Steinbrück und Seehofers Bauern machten ihm zu schaffen. Vier gegen Willi. Würde er mit der Banane die Biege machen müssen?

Nur die FDP nutzte die Gunst der Stunde. Sie machte den Bananen-Split in Gelb und Braun, mit neoliberalem und neokonservativem Flügel, dazwischen kein Rumpf für Höhenflüge. Sie wirkte trotzdem leicht abgehoben.

Mitten in der Diskussion meldete sich Panama. Man hatte doch glatt vergessen, seine mittelamerikanischen Bündnispartner zu fragen, ob ein Anschluss derzeit auf die innenpolitische Tagesordnung passe.

Die Nation spaltete sich selbsttätig. Hoffnung und Desolation breiteten sich aus. Den einen gefiel es, Hartz-IV-Empfänger als Bananenpflücker zur Zwangsarbeit in die Plantagen zu jagen, die anderen mokierten sich, dass man den Sozialschmarotzern, die schließlich auf Kosten der Allgemeinheit um die halbe Welt reisen dürften, noch Essensgutscheine gäbe. Schließlich stünden sie täglich achtzehn Stunden im Paradies, die Futteralfrucht in vollem Wuchs vor Augen.

Die Nation spaltete sich. Es war nun kein Bürgerkrieg, aber das Volk hatte sich in den Haaren. Lager drosch auf Lager ein. Eine vernünftige Debatte war schon lange nicht mehr zu führen.

Es war eine Wiedervereinigung, wie sie im Buche steht.