Schnee von gestern

11 12 2012

„… bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Zwar seien keine Niederschläge zu erwarten, man müsse jedoch vorsichtig…“

„… verzögere sich der Fernverkehr der Deutschen Bahn AG, da die Klimaanlagen mental nicht für so niedrige Temperaturen…“

„… reagiere die Frankfurter Börse auf die möglicherweise auftretenden Kursschwankungen, die die Börsenkurse unmittelbar beeinflussten und für starke…“

„… noch keine nationale Streusalzreserve eingerichtet habe. Ramsauer sei zwar informiert worden, dass die Initiative aus seinem eigenen Ministerium stamme, er habe aber nicht bedacht, dass der Wintereinbruch nicht einmal am Anfang des Umfragetiefs, sondern jährlich…“

„… suche das JobCenter dreißig kräftige Männer als kurzfristige Aushilfen im Winterdienst. Die Bewerber sollten neben einer kaufmännischen Ausbildung, eines abgeschlossenen Hochschulstudiums in einer geistes- oder naturwissenschaftlichen Disziplin zehn Jahre Auslandserfahrung und Fremdsprachenkenntnisse (Wirtschaftskoreanisch, Swahili, Hessisch) gute…“

„… wolle die Berliner S-Bahn ihre Ausfälle vorerst nur im innerstädtischen Bereich…“

„… sei noch kein Grund für die gestrigen Kursstürze ausfindig gemacht worden. Als erwiesen gelte, dass die heutigen Kursschwankungen wesentlich auf die vorangegangen…“

„… die Kosten für Streumaterialien, die der Steuerzahler zwar ohnehin trage, die jedoch von privaten Räumdiensten vorgestreckt würden, durch eine neue Streumittelsteuer…“

„… der Discounter seine Filialen zur Vorsicht schließe, da durch den drohenden Schneefall keine ausreichende Belieferung mit…“

„… vereinzelt Personenkraftwagen gesichtet, die ganz normal auf deutschen Bundesstraßen gefahren seien. Die aus Skandinavien und Polen stammenden Insassen seien verwarnt worden, sich an die deutschen Straßenverkehrsbräuche zu halten und nur noch im Schritttempo…“

„… analog zum Niederschlagsrisiko nun die Bahnpreise mit einer 1%-igen Preissteigerung pro Woche…“

„… sich die Spediteure wegen einer drohenden Schneekatastrophe weigerten, weiterhin mit der Auslieferung von Streusalz…“

„… müsse man mit einer erheblichen Verteuerung des Flughafens rechnen. Man habe bei BER keine Witterungsbedingungen einkalkuliert, sondern sich auf die Empfehlung der SPD…“

„… nicht zu ermitteln, ob die ersten Schneefälle noch in dieser Woche oder doch erst später zu erwarten seien. Merkel kündigte an, man werde eine gemeinsame Lösung…“

„… würde eine Preisanhebung nicht zu weniger Kraftstoffverbrauch führen. Trotzdem empfehle die Arbeitsgruppe im Bundeswirtschaftsministerium, den Benzinpreis vorsorglich…“

„… drohe sich eine dünne Eisschicht auf den stehenden Gewässern im Saarland zu bilden. Nach Ansicht der Innenministerkonferenz könne diese drohende Vereisung der europäischen Landmasse ausschließlich durch flächendeckende Speicherung aller Telekommunikationsinhalte sowie den…“

„… fordere der Kanzlerkandidat mehr Gerechtigkeit. Steinbrück wolle, dass die Verspätung auch bei den Geringverdienern ankomme, beispielsweise durch Lohnverzicht und eine nachhaltige…“

„… prognostiziere nicht mehr den Anstieg der Schneedecke um sechs, sondern um sieben Zentimeter. Zwar sei noch nicht geklärt, ob der Schnee in Deutschland falle, es sei jedoch sicher, dass er nur hier katastrophale…“

„… nach Ansicht der Wirtschaftsweisen nur die komplette Privatisierung der Streudienste…“

„… könne der Deutsche Wetterdienst derzeit noch keine konkreten Angaben machen, ob in den nächsten Tagen mit Schneefällen zu rechnen…“

„… sei Rösler immer der Meinung gewesen, der Strompreis sei an den Gaspreis gekoppelt. Werde durch gestiegene Benzinkosten mehr Gas gegeben, so müsse man spätestens jetzt die Kosten der Energieerzeuger von steuerlichen Nachteilen…“

„… der Euro-Kurs nur zufällig um mehr als…“

„… werde die durchschnittliche Verspätung in den Printmedien mit sechs, im Privatfernsehen inzwischen mit fast neun Stunden angegeben. Bahn-Chef Grube fordere in diesem Zusammenhang Geschlossenheit, um im internationalen Wettbewerb mehr…“

„… weiterhin unsicher. Zwar seien Schnee und Schneeregen zu dieser Jahreszeit verhältnismäßig häufig anzutreffen (diese Erkenntnis sei durch jahrelange Aufzeichnungen statistisch bereits so gut wie erwiesen), doch gebe es für eine Prognose noch keine ausreichenden…“

„… dass Luxuslimousinen und Kleinkrafträder gemeinsam in einem Stau ständen. Westerwelle bezeichne die möglichen Auswirkungen des Wetters als puren Sozialismus, er wolle als FDP die…“

„… erwarte das Bundesumweltamt den ersten Schnee frühestens in zwei Wochen. Eine Evaluation werde bereits 2015…“

„… der angetrunkene Fahrer den Reisebus in den Straßengraben gefahren habe. Die Polizei fordere daher ein Verbot von Alkohol in U-Bahnen und habe vorsorglich in allen Weinbauregionen Frostschutzmittel konfisziert, das im Verdacht…“

„… da sich durch ein Azorenhoch die Schneefallgrenze verschiebe. Es sei nicht sicher, ob in diesem Jahr überhaupt noch Niederschläge…“





Eis? Ätsch!

8 02 2010

Die politische Großwetterlage, befanden Experten, sei gerade etwas unterkühlt. Die Binnenkonjunktur fröstele, die Stimmung im Gesundheitswesen sei geradezu eisig, und sollten die Verfassungsrichter Hartz-IV-Sätzen für Kinder ein Hoch bescheren, so begebe sich ganz Deutschland aufs Glatteis. Das Land, diagnostizierten die Fachleute, friere am Boden fest. Handeln sei jetzt dringend nötig. Darum beließ es der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bei Absichtserklärungen und fand vor dem Hintergrund kommender Landtagswahlen den Schuldigen: Peter Ramsauer machte den anhaltenden Winter verantwortlich für die Umfragewerte, die der Regierung miserable Arbeit bescheinigten. Da nun der Zusammenhang auf der Hand liege, müsse man schnell reagieren.

In der CSU-Parteizentrale bildeten sich alsbald drei Gruppen. Einige hatten die Wechselbeziehung von Winterwetter und Volksbefindlichkeit nicht recht kapiert und machten weiter, als sei nichts passiert; andere nannten die jähe Erkenntnis des Bayern-Kuriers grundsätzlich richtig, übten aber scharfe Kritik, dass man der FDP die geheimen Erkenntnisse koalitionären Regierens einfach so in die Hände spielen würde; die dritte, die größte Fraktion schließlich, hatte nichts mitbekommen, fand es vollkommen richtig und verbat sich jegliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Christsozialen. Man war voll des Lobes; Edmund Stoiber hatte schon Stunden später einen Hauptsatz lebend überstanden, in dem er den analytischen Scharfsinn des Traunsteiners pries und stolz zum Ausdruck brachte, nur mit derartigem Sachverstand bringe man es zu Spitzenämtern in der Volkspartei. Auch außerhalb bayerischer Bierlokale nahm man sich des Politikers an. Schließlich wollte man sich die Chance nicht entgehen lassen, Ramsauer als den dastehen zu lassen, für den er im Bundesgebiet galt: ein Musterbeispiel dessen, was man von einem CSU-Minister intellektuell erwarten könne.

Die Debatte nahm an Fahrt auf, als man ihre inhaltlichen Bestandteile entdeckte. 16 Milliarden Tonnen Eis und Schnee seien eine große nationale Aufgabe, ließ sich Guido Westerwelle vernehmen. Man könne sie nur mit einer Kopfpauschale richtig in den Griff bekommen – wobei klar sei, dass die Leistungsträger dieser Republik gerne Verzicht zu üben bereit waren, ihre 200 Tonnen dürfe man auf die vaterlandstreuen Steuerzahler verteilen. Die SPD wies den Vorschlag glatt von sich. In einer flammenden Rede warf Parteichef Gabriel der Regierung soziale Kälte vor. Claudia Roth höhnte, bei Ramsauer habe der Nachtfrost eingeschlagen. Der deutsche Qualitätsjournalismus wähnte den Müllermeister in der politischen Tiefdruckzone gefangen. Nichts deutete auf außergewöhnliche Umstände hin.

Da platzte die Bombe wie ein Wasserrohr im Permafrost: hatte Ramsauer, als er die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie versagte, einen schweren meteorologischen Ausnahmefehler begangen? Waren die jahrelangen Kaltfronten aus dem Osten am Ende seine Schuld? Hatten sie vielleicht sogar die Linken wie eine Schneewehe aufgetürmt? So recht schien nichts mehr undenkbar. Es roch nach Entmachtung, der Winter übernahm das strenge Regiment; sogar die Behauptung, die Tigerenten machten ihre Politik für das ganze Volk, bekam nun einen gefährlichen Beiklang von Wahrheit.

Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten. Roland Koch schlug vor, Hartz-IV-Empfänger sollten sich durch Rundlutschen von Eiszapfen um die Wiedergesundung des Staates bemühen. In aller Eile erstellte Schneefiguren von Merkel, Westerwelle und Seehofer, die die Koalitionsspitzen mit jeweils heruntergelassener Hose zeigten, irritierten jedoch die Öffentlichkeit. Die Wetterfrösche in der Regierungsmannschaft schüttelten ein ums andere As aus dem Ärmel. Wirtschaftsminister Brüderle orakelte, wenn der FC Bayern München nicht das nächste Auswärtsspiel gewönne, fiele der DAX. Ursula von der Leyen brauchte mehrere Hähne, um durch Krähenlassen den todsicheren Wetterwechsel herbeizuhexen. Im Zorn riss sie den Mistkratzern meist vorher den Kopf ab, wie sie es auf den Voodoo-Abenden im FDP-Ortsverein kennen gelernt hatte.

Auch Ramsauer selbst begegnete dem kalten Grausen tatkräftig. Anlässlich des jährlichen Wasservogelsingens in Berchtesgaden hob der Hobbyklavierspieler hervor, die Bundesregierung habe sich ausländische Kompetenz ins Boot geholt, um der politischen Herausforderung zu begegnen. Die unter der Choreographie eines tungusischen Schamanen erarbeitete Wetterzauber-Performance des Wirtschaftsfachmanns hob die Laune der Betrachter flugs in frühlingshafte Hochstimmung. Es war auch zu putzig anzusehen, wie der Bayer zum Wohle des Souveräns in einem Baströckchen barfuß im Schneematsch herumhüpfte und kehlige Grunzlaute ausstieß. Mehrere westafrikanische Auslandskorrespondenten meldeten in ihre Heimatländer, in Europa hätten endgültig die Deppen die Macht übernommen.

Nur Angela Merkel konnte man es wieder nicht recht machen. Da hatte Kanzleramtsminister Pofalla bereits die Rede geschrieben, dass der fürchterliche Stimmverlust der christlich-liberalen Mitte an der ungebremsten Erderwärmung läge, und jetzt kam dieser Schneemensch ihr in Nordrhein-Westfalen dazwischen! Die Stimmung sank auf den Gefrierpunkt. Man befürchtete schon, sie wolle den Spitzenkandidaten der Schwesterpartei kaltstellen, doch die Regierungschefin bekam die Kuh vom Eis. Und Entschuldigungen für die Folgen des maroden Bahnverkehrs, das war auch ein angemessener Job für Peter Ramsauer.





Drei Männer im Schnee

12 01 2010

Der Wind pfiff, dass ich mich dagegen anstemmen musste. Mit der Linken drückte ich den Hut auf den Kopf – vielmehr sorgte ich dafür, dass nicht eine Bö ihn mir wegwehte – und die Rechte umklammerte den inzwischen leicht lädierten Blumenstrauß. Nun aber keine Müdigkeit vorgeschützt! Frau Breschke feierte Geburtstag, unter den Gratulanten wollte ich natürlich nicht fehlen. Auch wenn jeder normale Mensch bei dem Sturm zu Hause geblieben wäre.

Schon von weitem war Herr Breschke zu sehen. Emsig fuhrwerkte der pensionierte Finanzbeamte auf dem Gehweg herum, dick verpackt in schwere Stiefel, einen oberförstertauglichen Lodenmantel und Fäustlinge. Die Montur krönte eine wuchtige, graublaue Lammfellmütze nach Art gewisser sowjetischer Offiziere, die öfters dienstlich in Sibirien zu tun hatten und die puscheligen Ohrenschützer zu schätzen wussten, welche jedoch Herrn Breschke, der diese Klappen nach Art eines Kapotthütchens unter dem Kinn verschnürt trug, insgesamt das Aussehen eines zu groß geratenen Cockerspaniels verliehen. Er schaufelte Schnee, vielmehr: er hieb mit einem roten Besen auf die Betonplatten ein. „Es ist schlimm“, japste der alte Mann. „Kaum ist man an der einen Seite fertig, ist die andere Seite schon wieder zugeschneit.“ „Aber Sie müssen doch nun nicht den ganzen Tag lang fegen“, tröstete ich ihn, „das kann man doch nicht von Ihnen verlangen. Nicht einmal die Gemeindesatzung verlangt das.“ „Ja, ich weiß. Man muss nur dafür sorgen, dass die Wege begehbar sind. Und man hat auch eine Stunde Zeit, wenn es gerade schneit. Aber das ist es ja gar nicht.“ Aus geröteten Augen blickte er mich an. „Gabelstein?“ Breschke nickte resigniert. „Gabelstein.“

Wer die beiden kannte, der wusste, dass sie sich in der nunmehr fünfundzwanzigjährigen Geschichte ihrer Nachbarschaft nichts schuldig geblieben waren. Weder versprengte Federbälle noch Laub von einer Zierkirsche hatten je die Grenze zwischen ihren Grundstücken überquert, ohne für eine neue Emser Depesche zu gelten; sie hätten in der Zeit ein eigenes Amtsgericht in Lohn und Brot halten können, so oft, wie sie einander mit widersinnigen Nachbarschaftsklagen befehdeten. Am meisten wurmte die Streithähne, dass keins ihrer erbitterten Rechtsersuchen auch nur angenommen worden war.

„Dieser Lumpenhund“, keuchte Breschke und lehnte den Besen an den Jägerzaun, „er verfolgt mich seit Tagen. Das ist gemeingefährlich!“ „Sie werden wohl nicht unschuldig daran sein“, lächelte ich. Doch er ließ meinen Einwand nicht gelten. „Ich habe nichts gemacht. Diesmal nicht!“ Immerhin hatte er Gabelsteins Wohnzimmerfenster mit einer Ladung Kies zertrümmert, durch Funkenflug drei Wäscheleinen inklusive Behang in Brand gesetzt und unter tätiger Mithilfe Bismarcks – des dümmsten Dackels im weiten Umkreis, der sich dabei im Fußraum der Limousine aufhielt – die komplette Gabelstein’sche Gartenzwergsammlung in Grund und Boden gewalzt.

„Diesmal bin ich unschuldig!“ Er schien wirklich verzweifelt, denn es hatte den Anschein, als triebe sein Nachbar mit ihm ein perfides Spiel. Zunächst habe sich eine ältere Dame beschwert, der Gehweg vor Breschkes Anwesen sei die reinste Eisbahn. Das aber sei unmöglich, den Bürgersteig habe er höchstpersönlich eine Stunde zuvor gefegt, wie immer zahnbürstensauber; es müsse jemand eimerweise Wasser auf den Waschbetonplatten ausgegossen haben, wohlwissend, dass bei diesen strengen Minusgraden der Boden hartgefroren sei und sich sofort spiegelblankes Eis bilde. Zwei volle Stunden habe er gebraucht, um den Gehweg wieder vom Eise zu befreien. „Zwei Tage später habe ich gehört, wie hier eine Motorschneefräse die Straße entlang fuhr. Auf dem Radweg ist er gefahren, und er hat den ganzen Schnee auf meine Gehwegplatten geschleudert! Und dann ist er auch noch hin und her gerollt, um den Schnee festzufahren!“ Er kochte vor Zorn. „Und jedes Mal stand Gabelstein am Zaun und hat höhnisch gegrinst, wenn ich alles wieder auffegen musste. Das ist doch kein Zufall!“ Vor meinem geistigen Auge erschien ein Eisberg, auf den Sisyphos einen Schneeball hinaufrollen musste, um ihn zum Unterteil eines mächtigen Schneemannes zu machen – oben aber glitschte ihm die gefrorene Masse aus und zerstob am Fuße des Hügels wieder zu Pulverschnee. Mich fröstelte.

Frau Breschke dankte vielmals für die hübschen Blumen und brühte Tee; langsam entspannte sich die Stimmung, und nach einer halben Stunde begab sich der Hausherr an die Hausbar, um zur Feier des Tages den Weinbrand zu öffnen, den seine Tochter als günstige Gelegenheit bei der Auflösung einer usbekischen Supermarktkette geschossen hatte. Wir zuckten zusammen, als er schrie. „Kommen Sie! Der Lump macht’s wieder! Kommen Sie schnell!“ Und tatsächlich sah man vom Fenster aus, wie Gabelstein mit einem Spaten Schnee vom Radweg aufs Trottoir schaufelte und im Haus verschwand.

„Es gibt aber auch gemeine Menschen“, höhnte der Nachbar und steckte die Hände tief in die Hosentaschen, während Breschke wutentbrannt die Platten putzte. Ich hockte hinter der Ligusterhecke. Mit beiden Händen raffte ich Schnee zusammen und schlenzte ihn auf Gabelsteins Gehweg. Verwirrt drehte der sich um, besah die Bescherung und ging auf Breschke los. „Das wird Sie teuer zu stehen kommen“, kreischte er, „ins Gefängnis wird man Sie stecken, dafür sorge ich! Diesmal sind Sie zu weit gegangen!“ Wie aus dem Boden gewachsen stand ich hinter dem Wüterich. „Ganz vorsichtig, mein Gutester! Herr Breschke ist unschuldig, das kann ich bezeugen.“ Gabelstein schluckte. „Sie haben ihn zur Tatzeit ja selbst gesehen – wollen Sie jetzt etwa gegenüber Dritten behaupten, er hätte mit Schnee geschmissen? Na?“ Breschke blitzte ihn triumphierend an. „Verleumdung, jawohl! Das lassen wir uns nicht gefallen!“ „Ich bin davon überzeugt“, fügte ich sanft hinzu, „dass kein Richter hier eine Bewährungsstrafe verhängen würde.“

„Sie müssen noch ein Stückchen“, nötigte Frau Breschke mir vom Butterkuchen auf. Heftiges, rhythmisches Krachen deutete an, dass Gabelstein seine Schaufel auf dem Kiesweg zertrümmerte. Der alte Herr prostete mir zu. „Auf die Nachbarschaft!“





Schneegestöber

26 10 2009

03:19 – Schwere Träume vom Stalingrader Kessel, nächtlicher Harndrang sowie das Schnarchen seiner Gattin reißen den Rentner Karlheinz D. (85) aus dem Schlaf. Ein Blick aus dem Wohnzimmerfenster lässt ihn augenblicklich jede Müdigkeit vergessen. Eine weißliche Substanz flirrt im matten Licht der Straßenlaterne – der erste Schnee. Unverzüglich schlüpft D. in Hemd und Hose, um seinen Pflichten als Hauswart nachzukommen.

04:54 – Karlheinz D. hat inzwischen die komplette linke Seite des Kiebitzwegs zwischen Amselstraße und Drosselredder mit Rollsplitt abgestreut; der Gehsteig liegt mit geringen Schwankungen unter sieben Millimetern Brechsand, was D., bäuchlings an der Straßenkante liegend, unter Zuhilfenahme einer Halogenleuchte penibel kontrolliert.

04:56 – Erwin M. (88), wohnhaft auf der rechten Straßenseite des Kiebitzwegs, tritt den ersten Kontrollgang des jungen Oktobermorgens an. Aufgeschreckt durch die Mineralausbringung auf dem gegenüber liegenden Gehsteig betrachtet er intensiv die Fahrbahn, worauf ihm, der noch seine Lesebrille trägt, ein Styroporteilchen ins Auge fällt. Er handelt unverzüglich und ruft seinen Neffen Ernst P. (59) an.

05:01 – Trotz der frühen Stunde zeigt sich Ernst P. zum Handeln entschlossen. Die beiden von M. auf der Fahrbahn verstreuten Eimer Sand werden nicht die einzige Maßnahme gegen den verfrühten Wintereinbruch bleiben. P. verspricht, sich bei den Frühschichtkollegen der Straßenreinigung für einen flächendeckenden Einsatz von Räum- und Streufahrzeugen auszusprechen.

05:39 – Als der Sozialpädagoge Lutz G. (45) wie immer um diese Zeit das Haus verlässt, um beim Bäcker in der Amselstraße Frühstücksbrötchen zu holen, bemerkt er die Straßenverhältnisse. Minuten später holt er die Schneeketten aus dem Keller, um sein Auto an die saisonalen Verkehrsbedingungen anzupassen.

06:22 – Mild, ja frühlingshaft bescheint das Morgenlicht die Szenerie, in der dreiundvierzig mitten im Berufsleben stehende Bürger ihre Kraftwagen winterfest machen. Eifrig montieren sie Winterreifen, tragen rhythmisch Schutzpolitur auf und befüllen die Scheibenwaschanlagen mit Frostschutzmittel. Vereinzelte Feindseligkeiten schlagen der Verkäuferin Amelie K. (33) entgegen; die alleinerziehende Mutter erdreistet sich, ohne jegliche Vorsorgemaßnahmen in ihren Kleinwagen zu steigen und zur Arbeit zu fahren.

06:52 – Der Appell hatte gefruchtet. Unter der Oberleitung von Kolonnenführer Ernst P., der mit schwerem Räumfahrzeug die Geröllschicht um eine vertikal gemessene Handbreite an Schlacke ergänzt, schütten die folgenden Laster jeweils genug Sand und Streusalz aus, um den sibirischen Permafrost in Schneematsch zu verwandeln. Keiner bemerkt die heldenhafte Handlung; die vorbeugenden Familienväter befinden sich noch beim Frühstück oder entledigen sich schon der Schmierölreste.

07:11 – Trotz zahlreicher Versuche, die Fahrertür seiner Limousine zu öffnen, scheitert Lutz G. an der schieren Menge des Schleuderschutzes. Mit einem Wutanfall konstatiert er, dass das zwanghafte Schieben an der Türunterkante zu erheblichen Lackschäden geführt hat.

07:23 – Durch den herzhaften Einsatz einer Schneeschaufel befreit Gunnar Sch. (38) den Bodenbereich vor seinem Geländewagen. Das hochbeinige Gefährt ermöglicht dem passionierten Stadtverkehrsfahrer zunächst mühelos, auf die Sandschicht zu steigen, bevor das Sperrdifferenzial seine Mitarbeit verweigert. Während die Räder mit unmelodiösem Knirschen sich in den Splitt fressen, neigt sich der Offroader majestätisch zur Seite, um endlich seine Stabilität wiederzufinden. Ein letztes Aufheulen des Motors, dann ruht das robuste Auto auf der Fahrertür.

07:31 – Mit gehöriger Verspätung biegt der Auszubildende Kevin W. (17) auf seinem Mofa in den Kiebitzweg ein. Zwar bringt die Maschine nur die ordnungsgemäßen 30 Stundenkilometer auf den Tacho, doch erweist sich der plötzliche Wechsel des Bodenprofils als problematisch. Trotz gekonnter Lenkimpulstechnik neigt der Zweitakter hier und da stark zum Ausbrechen, namentlich in unmittelbarer Nähe des Luxuswagens, den Dr. Heiko F. (33) bereits mit Schneeketten ausgerüstet hatte, um den Weg in die Zahnarztpraxis anzutreten. Ein dumpfer Stoß, dann trifft die Wucht des Aufpralls den Außenspiegel, der seine Flugbahn bis in die Blumenrabatten des Vorgartens fortsetzt. W. entscheidet sich, nicht mehr als zweimal pro Woche zu spät in seinem Lehrbetrieb zu erscheinen.

07:32 – Wutentbrannt stürmt F. aus dem Haus. Zunächst glaubt er, der Knall sei eine Folge des Wiedereinparkens des auf der gegenüber liegenden Straßenseite stehenden asiatischen Kleinwagens, der den Spuren im Rollsplitt zufolge in die Mulde gesunken sein muss. In einem zweiten Schritt interpretiert er jedoch die schlingernden Abdrücke als Tatbeweis für eine stattgefunden Kollision mit seinem Wagen.

07:35 – Der Dentist bahnt sich seinen Weg über Sand und Schlacke, um den eilig aus dem Keller gewuchteten Vorschlaghammer zum Einsatz zu bringen; unter groben Hieben klirrt Scheibe um Scheibe splitternd auf, bis F. die Karosserie einer systematischen Materialkaltverformung unterzieht.

07:38 – Kleinwagenhalter Zbigniew D. (35), bei einer Körpergröße von 1,84 m mit dem Gewicht von 90 kg Muskelmasse ausgestattet, schaut dem destruktiven Treiben an seinem Eigentum für Sekundenbruchteile zu, bevor er auf die Straße stürzt. Der ehemalige polnische Meister im Hammerwerfen schlenzt das Instrument mit grazilem Schwung durch beide Seitenscheiben von F.s Nobelkarosse, bevor er den Zahnmediziner zur Rede stellt. Ein Wort gibt das andere. Später ist nicht mehr festzustellen, wann genau F. den etwas komplizierteren Kieferbruch erlitten hatte.

08:02 – Das markante Klopfen an seiner Haustür veranlasst Erwin M., die Pforte zu öffnen; erstaunt muss er sehen, dass sich drei Dutzend Mitglieder der Initiative BürgerInnen für Umwelt und Nachhaltigkeit versammelt haben, um dem unverantwortlichen Streusalzverbrauch mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung zu begegnen. M. ist nachhaltig irritiert.

08:19 – Die UmweltbürgerInnen entrollen Transparente mit den Aufschriften Hier wohnt ein Ökonazi und Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Gürtelgrasfink. Eine mitgeführte Trittleiter sowie ein batteriebetriebenes Megafon dienen Gundemarie-Anita G.-L. (46), ein mehrseitiges Manifest über politische Aspekte der Grundwasserneutralität zu verlesen. Sprechchöre unterbrechen sie mehrmals und deutlich jenseits der Lärmschutzverordnung.

08:30 – Schichtarbeiter Diether A. (55) weiß sich nicht anders zu helfen. Er reißt die Flügel seines Schlafzimmerfensters auf und fordert G.-L. mit den Worten „Schnauze, Ökomuschi!“ zum Überdenken ihrer konzeptuellen Herangehensweise auf.

08:34 – Völlig unbemerkt hat sich der Durchgangsverkehr aus Richtung Berseburg-Nord bereits sieben Kilometer lang aufgestaut. Die Berseburger Chaussee, obzwar sie der Durchfahrt durch die Siedlung Kiebitzweg nicht zwingend bedarf, ist ab Höhe Drosselredder dicht. Der Verkehrsfunk warnt vor Auffahrunfällen.

08:44 – Karlheinz D. entdeckt beim Betreten der Fahrbahn ein zusammengeknülltes Stück Papier. Vom optischen Eindruck der weißen Substanz angestachelt begibt er sich sofort in den Keller seines Hauses, um die Vorräte an Streusalz in Blecheimer zu verladen, mit denen er kurze Zeit später zurückkehrt.

08:58 – Die nachhaltig für Gewässerschutz eintretenden Frauen treten nun nachhaltig auf D. ein, der sich mit jeweils einem Eimer in der Hand erbittert zur Wehr setzt. Beim Ausweichen gerät die umweltpolitische Sprecherin der just gegründeten Kleinpartei Menschen beiderlei Geschlechts und/oder Haarfarbe für den Weltfrieden unter besonderer Berücksichtigung legasthenischer VeganerInnen Belinda M.-N. (51) ins Stolpern und bricht sich einen Fingernagel ab. Man beschließt, D. vor das Internationale Kriegsgericht zu stellen.

09:04 – Farbenfroh berichtet Zbigniew D. der Einsatzleitstelle vom Geschehen im Kiebitzweg. In seiner Aufregung fällt ihm manches Wort nur in seiner Muttersprache ein, so dass er sich auf die Mitteilung des Sachverhalts in recht konzentrierter Form beschränkt. Die Kombination von Schnee, Bande und Krieg auf Straße hinterlässt bei seinem Gesprächspartner einen tiefen Eindruck.

09:13 – Das sonore Geräusch der Helikopterstaffel verunsichert die tätige Menge. Erst als sich die Antiterroreinheit abseilt und den Straßenzug stürmt, bricht Panik aus. Die Kampfhandlungen sind verhältnismäßig einseitig; das Gemisch aus Splitt, Sand und Salz gibt schon nach wenigen Schritten nach, so dass die Kontrahenten nicht selten knietief in die Decke einsinken. Die Mannstoppwirkung der Gummigeschosse vermag sich nur eingeschränkt zu entfalten, die mit Holzpflöcken und Besen ausgerüsteten Naturfreundinnen sind taktisch klar im Vorteil.

09:27 – Ingrimmig öffnet Diether A. erneut das Fenster, um den Tagesschlaf des Werktätigen einzufordern. Er zieht dabei deutliche Parallelen zwischen den uniformierten Staatsdienern und übel beleumundeten Nagetieren. Im Eifer des Gefechts feuert Einsatzleiter Kai T. (29) den letzten verbliebenen Gummipfropf in die Radarfalle an der Ecke Amselstraße. Es fällt nicht weiter auf; mit einem Knall zieht A. zeitgleich die Fensterflügel zu. So endet ein Morgen in einer Vorortsiedlung, an dem die Menschen einfach nur die milde Luft eines Herbsttages genießen wollten.