Gernulf Olzheimer kommentiert (DCLIX): Der regelnde Markt

14 04 2023
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Nichts scheint derart transzendent, vollkommen und absolut wie diese Dinger, die Heiligkeit für sich beanspruchen. Höchstens noch Nationen, wo nicht der unmittelbare Übergang in die Religion sichtbar wird. Und natürlich der Markt, das perfekte Wesen, das nach Ansicht von Theologen in den Chefetagen regelmäßig kollabierender Konzerne nur deshalb nicht funktioniert, weil sich immerzu Menschen im Getriebe aufhalten. Alles kann die unsichtbare Hand alleine, vor allem regeln – es sei denn, Angebot und Nachfrage funktionieren tatsächlich einmal so, wie es den Profiteuren der Wirtschaft nicht in den Kram passt. Dann muss das Regeln reguliert werden, am besten durch Deregulierung, und auf einem mehr oder weniger sinnlosen Umweg kommt die ganze Grütze da an, wo die Logik es will: im Versagen des Marktes. Denn nur dazu ist der Kapitalismus gut.

Bereits mit der vollständigen Konkurrenz, in der jeder Depp seinen Industriekonzern gründen kann, fällt die Grundvoraussetzung, die genügend großes Kapital erfordert, das sich marktwidrig akkumuliert in einem System, das nur Arbeit besteuert, nicht aber arbeitslosen Besitz – allen Mythen zum Trotz hat sich noch kein Tellerwäscher zum Millionär emporgeschwiemelt, und das wäre für neoliberale Apologeten eine Marktverzerrung, die unverzüglich bekämpft werden müsste. Zwar lallt der geistige Bodensatz in jedem Wahlkampf, Leistung müsse sich wieder lohnen, aber das ginge doch eben nur mit der Abschaffung des Kapitalismus.

Kaum ein Aspekt wurde in den vergangenen Jahrzehnten so ausgiebig ignoriert wie die Effekte von Individualverkehr und Energieerzeugung auf das Klima. Wie schön lässt sich daran zeigen, dass der kurzfristige Gewinn, den die Politik in einem als Ökonomie getarnten Casino als größtes Glück für die Vermögenden verklärt, stets eine Belastung für die Mehrheit erzeugt, die mit Umweltbelastung oder Verteuerung allein gelassen wird, wenn die Straßen verstopft, die Brennstäbe leergelutscht, die Atmosphäre mit CO2 gesättigt sind. Die externen Kosten werden dem Verbraucher als Abschiedsgeschenk hinterlassen, das nur durch den Anstieg von Staatsschulden getilgt werden könne – der Gottseibeiuns für die Arschgeigenkaste, die ihr Privatvermögen mit der Zerstörung des Planeten in Sicherheit gebracht haben – oder durch Verzicht auf Güter wie Wasser, Luft und Wohnraum. Bringt man diese Opfer nicht, so rettet der verhasste Staat gerne die Leidtragenden, etwa Mineralölhöker mit eigener Dealerkette, und hofft, dass die Subventionen, die sich eigentlich nur kommunistische Planfetischisten wünschen, nicht von der Unterschicht für Schnaps und Kippen ausgegeben werden. Öffentliche Güter gar, Straßen und Brücken, werden dem Bürger ohne Gegenleistung zur Verfügung gestellt, und verfolgt man den Ansatz der permanenten Steuersenkung, wie es der Nachtwächterstaat tut, zahlt niemand für diesen Allgemeinbesitz – es sei denn, man stampft für die Amigos eine Firma aus dem Boden, die eine Maut eintreibt für Straßenbeleuchtung und Schulen. Und schon warzt das Allgemeinwesen wieder an den externen Effekten ab, die aus unterfinanzierten Kliniken einen maroden Arbeitsmarkt macht oder aus einem von Blödföhnen seit Generationen in die Tonne getretenen Schienennetz eine Belastung für den Güterverkehr. Je öfter der Staat mit gezielter Dummheit in den Markt eingreift, indem er Flugreisen durch steuerfreies Kerosin attraktiver macht oder für lange Zeit Mondpreise im deutschen Telekommunikationssektor förderte, während alle angrenzenden Staaten sich ins Fäustchen lachten, desto sicherer vollzieht das System sein Versagen, denn dies ist immanent, wenn man in einem System lebt, das ständig gerettet werden muss, damit wir in weiter einem System leben können, das ohne diese Rettung nicht überlebensfähig wäre.

Den Beweis dafür lieferten die französischen Kolonialherren in Vietnam, die der Rattenplage in Hanoi Herr werden wollten und eine Prämie auf die Schwänze aussetzten. Die armen Bauern schnitten den Ratten die Schwänze ab, ließen sie aber am Leben, damit sie sich ungehindert fortpflanzen und die Stadt bevölkern konnten – die Besatzer zahlten sich dumm und dämlich, wie der Legende nach die Briten in Indien, die die Verbreitung der Kobras mit Preisgeldern einzudämmen versuchten und für eine private Schlangenzucht sorgten, so dass am Ende die Staatskasse leer und die Population größer war als je zuvor. Der Markt hatte auf die Nachfrage mit stetig wachsendem Angebot reagiert, ohne sich mit der Frage aufzuhalten, ob ein volkswirtschaftlicher Nutzern dahinterstecken könnte. Er hatte nur sein vollständiges Versagen zelebriert, Arbeit um ihrer selbst willen geschaffen und Entgelt dafür gezahlt, dass der Wille der Wirtschaftslenker geschehe, von Staatsversagen durch die Eigeninteressen des Volks einmal abgesehen. Darin zeigt sich auch die ganze Verachtung des Volkes in der Volkswirtschaft, wenn man es unaufhörlich anstachelt, rücksichtslos die eigenen Interessen zu verfolgen, dann aber nicht damit rechnet, wenn es dies tatsächlich auch tut. Die Folgen der Markteingriffe treffen selten diejenigen, die sie erforderlich machen. Wir wären sonst längst im Sozialismus. Oder im Krieg.





Geld spielt keine Rolle

6 06 2011

„Der Strom? Klar, der ist nun mal teuer. Das wird sich auch so schnell nicht ändern. Schließlich muss zur Energieerzeugung auch einiges getan werden. Das ist nun mal alles nicht umsonst. Auch nicht mit staatlicher Hilfe, denn wir sind ja quasi in einer Art sozialistischer Marktwirtschaft angekommen, nicht wahr? Also die Wirtschaft, das sind ja im Grunde wir alle, und der Staat, der kann – noch nicht klar?

Das ist nämlich dieses Wirtschaftswachstum, welches uns das Leben so teuer macht. Der Aufschwung, der kurbelt die Konjunktur derart an, da werden die Preise, also mein lieber Scholli, die steigen aber bis zum – das muss so, denn der Staat wird sich da fein raushalten. Wir können doch nicht auf einmal ein Preisdiktat einführen. Das können Sie vielleicht in Nordkorea oder in einer Phase der Rezession, damit die systemwichtige Industrie nicht plötzlich völlig verarmt. Stellen Sie sich das vor, so ein Unternehmen hat sich mal ein bisschen an die Wand gefahren und müsste jetzt alle Manager auf einmal entlassen, das geht doch nicht in einem Land mit christlich-kapitalistischem Menschenbild?

Es sind Hilfen, für die keine konkrete Gegenleistung erwartet wird, verstehen Sie? Wie soll ich Ihnen das erklären? Passen Sie auf: Sie stiften Ihr ganzes Vermögen der FDP, und die reißt sich einfach das Geld unter den Nagel, ohne zu – naja, als Stütze würde ich es nicht bezeichnen, da erwartet man inzwischen mehr. Nein, von der FDP doch nicht. Da erwarte ich, dass bald gar nichts –

Nein, das müssen Sie sich so vorstellen: Sie sind, sagen wir mal, Rinderzüchter. Warum nicht? Ist doch ganz egal, es geht ja bloß um ein Beispiel! Also Rinderzüchter, und da haben Sie so Ihre Rinderzucht, wo Sie Zuchtrinder züchten. Aber das ist natürlich teuer, der Strom und der Unterhalt für den Stall, und das Futter, die Personalkosten vor allem, kurz und gut: Rinderzucht lohnt sich gar nicht mehr, weil Sie nicht mehr genug verdienen. Preise erhöhen? Dann haben Sie ein Problem mit der EU. Und der Markt ist hart, die Leute kaufen sowieso schon lieber Schweinefleisch. Sie brauchen unbedingt Subventionen. Beantragen Sie also diese Subventionen, damit Sie auch wieder eine – das Personal? Sie brauchen die Subventionen doch nicht fürs Personal, Sie Traumtänzer! Was kümmert Sie bitte das Personal? Wir sind hier in der globalen Marktwirtschaft, da muss halt jeder sehen, wie er sich durchsetzt. Kürzen Sie den Leute noch einmal ordentlich die Löhne, sagen Sie ihnen, wem es nicht passt, der wird durch einen Polacken ersetzt, und wenn Sie dann Subventionen kassieren, dann bleibt für Sie mehr übrig, kapiert?

Selbstverständlich wird der Strom auch ganz hübsch subventioniert. Vor allem, wenn es sich um Atomstrom handelt, denn sonst könnten die Atomkonzerne ja gar nicht mehr sagen, dass sie den Atomstrom so billig herstellen, dass sie den nur noch teuer an den Verbraucher – haben Sie es jetzt verstanden? Den Strom wegen der Subventionen an die Rinderzüchter billiger abgeben, dann müssten die nicht auch noch – was ist das denn für eine Konstruktion? Das sind ja Quersubventionen, das wäre ja ganz furchtbar intransparent! Das geht ja gar nicht! Ja gut, das geht schon, aber nur in Ausnahmefällen. Zum Beispiel, wenn man den Atomkonzernen die Transportkosten billiger macht und abgabenfrei und keine Brennelementesteuer erhebt, das geht natürlich. Aber doch nicht in der Rinderzucht, wo kämen wir denn da hin?

Klar, die Schweinezüchter haben dann ein Problem. Wir leben ja nun mal in einer sozialen Marktwirtschaft, das heißt, wenn die Rinderzüchter den Strom billig bekämen, bekämen ihn auch die Schweinezüchter billig – halt, umgekehrt. Bitte um Entschuldigung, dass ich – kriegen also nur den Strom, der – nein, ich fange noch mal ganz von vorne an: Der Rinderzüchter züchtet seine Rinder so billig, dass das Schweinefleisch zu teuer ist, die Personalkosten, das Futter, alles viel zu kostspielig und nicht mehr rentabel und letztlich auf dem Markt nicht mehr konkurrenzfähig, und dann müssen Sie bedenken, dass die Rinderzüchter auch nur so billig produzieren können, weil man ihnen mit den wettbewerbsverzerrenden Subventionen unter die Arme gegriffen hat. Ja, das ist richtig, das ist im Grunde ziemlich ungerecht. Und dass die nun auch keine Verbilligung beim Sprit bekommen oder bei der Lkw-Maut, das ist ja auch schlimm. Da wird der letzte Schweinezüchter bald vor die Hunde gehen, nicht wahr? Wirklich schlimm. Ausweglos, ich sag’s Ihnen. Nichts zu machen.

Mit Subventionen, ja. Haben Sie’s also endlich geschnallt? Die Schweinezüchter kassieren jetzt die Subventionen, die sie brauchen, damit sie nicht mehr unter den Subventionen für die Rinderzüchter leiden müssen. Geld spielt da keine Rolle. Und es macht sich auch bemerkbar, zumindest bei den Rinderzüchtern. Die sind jetzt nämlich im Vergleich zu den Schweinezüchtern wieder so teuer, dass Rindfleisch im Grunde in einer freien Marktwirtschaft nur noch zu Preisen –

Genau. Ganz genau so. Und da die FDP bisher die Steuersenkungen nicht gebracht hat, muss man sich die Kohle eben von der Union holen. Ja, haben Sie auch wieder Recht – zahlen tut’s sowieso wieder das untere Drittel. Und da die auch keine Steuererleichterungen bekommen, sind sie doppelt bestraft. Beschweren Sie sich also nicht, wenn demnächst der Strom wieder mal teurer wird. Wir haben dafür tief in die Tasche gegriffen!“





Importweltmeister

2 08 2010

„Das ist Ihr Ernst, ja?“ „Wir müssen uns alle etwas einfallen lassen, dann geht es der Wirtschaft auch wieder besser.“ „Aber nicht so einen Bockmist, ich bitte Sie! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!“ „Es hat doch schon einmal so gut funktioniert, warum sollte es denn nicht noch einmal klappen? und: haben Sie nicht selbst gesagt, dass wir einen Ruck auf dem Arbeitsmarkt brauchen?“ „Aber doch nicht mit Gastarbeitern, wer kommt denn auf die Idee?“

„Sie müssen aber zugeben, dass der Mangel an Fachkräften Besorgnis erregend ist.“ „Das liegt vor allem daran, dass die deutsche Wirtschaft sich den 19-jährigen Hochschulabsolventen mit zehn Jahren Berufspraxis wünscht, der für 1.000 Euro brutto arbeiten will.“ „Aber das ist doch völlig übertrieben und das wissen Sie auch ganz genau.“ „Und warum haben wir immer noch mehr als drei Millionen Arbeitslose?“ „Was hat das damit zu tun?“ „Weil man den Anschein haben könnte, die hätten alle keine Ausbildung.“ „Doch, aber nicht qualifiziert.“ „Dann war also die bisherige Ausbildung, die die deutsche Wirtschaft ihnen hat angedeihen lassen, nicht gut genug?“ „Doch, aber…“ „Dann dürfte es bei einer qualifizierten Ausbildung und derart vielen Arbeitslosen keinen Arbeitskräftemangel geben, es sei denn, die Verwaltung wäre mangelhaft oder würde gar nicht das Ziel haben, Erwerbslose in Lohn und Brot zu bringen.“ „Natürlich tun das die Arbeitsagenturen!“ „Und deshalb haben wir in den meisten Ausbildungsberufen auch mehr Arbeitslose als freie Stellen und müssen deshalb dringend neue Fachkräfte anwerben?“ „Das lässt sich doch alles überhaupt nicht so vergleichen!“

„Dann eben anders: Sie vertreten die These, es bedürfe bloß des geeigneten Anreizes, um einen Arbeitslosen wieder zum Arbeiten zu bringen?“ „Da liegt doch wohl auf der Hand. Wenn diese ganzen faulen…“ „Keine Polemik, bitte. Und Sie verfechten auch die Ansicht, dass der Markt – damit natürlich auch der Arbeitsmarkt – ohne staatliche Lenkung besser zurechtkäme?“ „Aber ja! Sie sehen an der Einkommensobergrenze bereits eine sehr flexible…“ „Dann müssten also die Löhne und Gehälter an das Basis einfach nur erheblich steigen, und schon hätten wir genügend arbeitswilliges Fachpersonal?“ „Ich verbitte mir diese dümmlichen Kommentare! Ihre populistischen Vereinfachungen können Sie woanders machen!“ „Dann lag ich ja gar nicht so verkehrt mit meiner Einschätzung, wenn Ihr Parteivorsitzender Herr Westerwelle diesen Mumpitz fordert.“ „Machen Sie sich nur lustig, wir werden ja sehen!“

„Dann geht es Ihnen also, wie Sie ja auch an anderer Stelle betonen, um Lohnverzicht – Sie wollen einen Arbeitnehmer, gut ausgebildet, der sich für ein Begrüßungsgeld nach Deutschland aufmacht.“ „Immerhin hat Deutschland einen ganz ausgezeichneten Ruf als Wirtschaftsstandort.“ „So exzellent, dass wir sogar mit eigenen Mitteln die Personaldecke nicht mehr flicken können?“ „Das ist ja auch alles nur vorübergehend gedacht.“ „Das ist verständlich, die letzten Türken und Italiener waren ja auch 1965 wieder verschwunden.“ „Sie sind wohl ein Ausländerfeind, wie?“ „Nicht schlimmer als Ihre Koalitionspartner. Was sagt der eigentlich dazu?“ „Das ist noch nicht raus. Wir werden wohl im Herbst darüber reden.“ „Wenn das Sommerloch sich geschlossen hat?“ „Ich… ach, was soll’s.“

„Sie erwarten also, dass ein Arbeitnehmer aus Indien oder sonst woher mit einer kompletten Ausbildung hier ankommt…“ „Das natürlich nicht, wir könnten uns beispielsweise mit der Industrie darauf einigen, dass sie Schulungen anbietet, um die ausländischen Fachkräfte in den deutschen Arbeitsmarkt schnell zu integrieren.“ „Verstehe ich das richtig, Sie zahlen Begrüßungsgeld an diese Gastarbeiter…“ „Es sind keine Gäste, sie bleiben ja nur auf Zeit.“ „Erstens Unsinn, denn wenn jemand eine qualifizierte Ausbildung hat, sollte er sie auch so lange wie möglich einem Unternehmen zur Verfügung stellen, und zweitens gibt es jetzt schon einen Zeitarbeitsmarkt, der Ihnen alles zu jedem noch so sittenwidrigen Preis bietet.“ „Wenn diese Menschen aus Afghanistan… Indien, wollte ich sagen, Indien hier ankommen, werden sie eine gute Qualifikation bekommen und Deutschkurse und eine gute Unterkunft und…“ „Und sie werden für einen Hungerlohn arbeiten, richtig?“ „Jetzt bleiben Sie doch mal sachlich! 360 Euro sind in manchen Ländern eine hübsche Stange Geld, das sollten Sie auch mal zur Kenntnis nehmen!“ „Also züchten Sie sich eine Art Subproletariat, das für den ganz normalen Hartz-IV-Satz nicht mehr nur 1-Euro-Jobs erledigt, sondern qualifizierter Arbeit nachgeht und nach Belieben wieder entfernt werden kann?“ „Diese Gesetze zur Zusammenführung auf dem modernen Arbeitsmarkt, das bedeutet ja auch, dass man die Vorteile miteinander verbinden kann.“ „Also die Ausbeutung von 1-Euro-Jobbern mit der sorglosen Gängelung der Leiharbeiter?“

„Was sollen wir denn machen?“ „Die deutschen Fachkräfte im Land halten?“ „Aber wir haben das Elterngeld doch erst gerade für sie gerettet!“ „Und wenn Sie die Fachkräfte über 40 einstellen?“ „Ach, sinnlos.“ „Und warum bilden Sie nicht jede Menge Fachkräfte jetzt aus, damit die Wirtschaft in ein paar Jahren Kontinuität hat?“ „Das würde nicht mehr reichen – diese geniale Idee ist uns ja erst jetzt gekommen.“ „Verständlich, so einen Geistesblitz hatte bislang noch niemand. Oder vielleicht eine Verpflichtung, die Auszubildenden nach dem Abschluss noch drei Jahre zu behalten, damit man hinterher nicht über mangelnde Berufserfahrung bei den Bewerbern jammern muss?“ „Das wäre möglicherweise wieder mit verwaltungstechnischen Hürden verbunden, vermute ich mal. Genaueres kann ich Ihnen aber erst im Herbst sagen.“ „Ich glaube, ich habe die Lösung. Meinen Sie nicht, wir sollten die Personalsituation verbessern?“ „Aber auf jeden Fall!“ „Gut, dann schlage ich mal vor, dass wir unter den Bundesbürgern eine kleine Sammlung veranstalten. Jeder einen Euro, das gäbe schon ein hübsches Sümmchen.“ „Und wofür, wenn ich fragen darf?“ „Dürfen Sie, Herr Brüderle, dürfen Sie – irgendwo auf der Welt wird es jemanden geben, der Ihren Job erledigen kann. Wir werden ihn finden. Und wenn wir eine ganze halbe Stunde nach ihm suchen müssten.“





Trink, trink, Brüderle, trink

27 07 2010

„Holen Sie mal den Nächsten rein, Schwester. Aber sein Sie vorsichtig, ich glaube, der hat ganz schön was getankt. Ja, da setzen Sie sich hin, so ist es schön! Brav. Füße stillhalten, und legen Sie die Hände auf die – Füße still, habe ich gesagt! Sie haben hier nichts zu melden, machen Sie sich das gleich klar! Nein! Schwester… Schwester! So ein renitenter Kerl aber auch, da hört sich’s doch auf!

Haben Sie etwas getrunken? Hallo? Ob Sie besoffen sind, will ich wissen! Hauchen Sie mich mal an – au, das ist ja… Schwester, jetzt kommen Sie doch mal! Mit dem Mann hier kann doch nun wirklich… Schwester! Haben Sie möglicherweise etwas gegessen, was nicht – nein, ich sehe schon, Sie haben offenbar einiges geraucht, richtig? Und wie viel, wenn ich fragen darf? Bitte!? Um Gottes – also das ist ja nicht mehr… Schwester! Der Mann darf unter keinen Umständen mehr raus, der ist ja eine Gefahr für sich und die Menschheit!

Was reden Sie da? Aufschwung? Gott, das kann man ja nicht mit anhören. Sie sind ja voll wie’n Eimer! Hat man Sie gezwungen? Meine Güte, das – wie bitte? Der Aufschwung kommt? Die Regierung hat ihn nur abgewartet, um jetzt alle anderen Pläne nach der Sommerpause abzuarbeiten? Gucken Sie mich mal an – wie viele Finger sind das? Na? Sie sind ja nicht mehr ganz bei Trost, mein Freund! Was erzählen Sie da nur für einen Unfug! Die Rente hat was? Wer hat die Rente? Was? Nun reden Sie doch deutlich! Die ist was? Sicher? Die Renten sind sicher? Das meinen Sie ernst? Schwester, kommen Sie doch mal eben, wir brauchen – Schwester! Wir müssen ganz schnell rausfinden, was der Mann intus hat, am Ende kollabiert der uns noch? Was der alles genommen haben wird, eijeijei…

Und die ganzen Arbeitslosen? Ach so, Sie meinen, weil die einen Niedriglohnjob bekommen haben, werden die alle CDU wählen und damit ist auch das Umfragetief vorbei? So, und was ist mit den paar Prozenten, die diese Liberalskis verloren haben, hä? Mann Gottes, jetzt pusten Sie mir doch nicht so ins Gesicht, ich kriege ja selbst gleich einen Kater davon! Reißen Sie sich am Riemen!

Gesundheitsreform? Was ist damit? Sind Sie etwa nicht versichert? Was, alles besser? Sicherheit für die Kosten? Die Arbeitgeber brauchen nun keine Beiträge mehr zu bezahlen? Sagen Sie mal: sind sie eigentlich nur besoffen, oder hat man Sie mit dem Klammerbeutel gepudert? Die Arbeitgeberbeiträge sind keine Lohnkosten? und deshalb müssen wir die Lohnkosten senken, um die Löhne zu stabilisieren? Was ist denn das für ein Gefasel, Mann? Ob Sie das Arbeitgeberbeiträge oder Arbeitnehmerbeiträge nennen oder linke Tasche und rechte Tasche, das ist doch egal. Das sind Lohnkosten, die gehören zum Lohn. Das sind Fixkosten, klar? Und wenn Sie – meine Güte, jetzt sitzen Sie doch mal gerade, Sie sind ja voll wie ’ne Haubitze! Wenn Sie die Lohnnebenkosten senken wollen, indem Sie den Teil um die Fixkosten absägen, dann heißt das, dass Sie die Löhne drücken. Punkt! Und jetzt faseln Sie mich nicht voll, Arbeitgeberbeitrag – das zieht der Arbeitgeber ab von dem, was sein Arbeiter erwirtschaftet, und dann packt er ein kleines Stück davon wieder obendrauf. Oder wer bezahlt bei Ihnen die Sozialversicherung? Der Nikolaus?

Und was haben Sie die ganze Zeit mir der – bah, Sie sollen mir nicht auf die Brille seibern, das ist ja ekelhaft! Schwester! Machen Sie das da mal weg, Schwester, der Mann ist ja völlig knille. Der kann überhaupt nichts mehr bei sich behalten. Das wird mir auch langsam zu viel, ich glaube, wir werden ihn auch vorerst in die Ausnüchterungszelle – Schwester! Jetzt schauen Sie sich diese Sauerei an, es ist doch nicht zu fassen! Igitt! Meine Fresse, wenn man kein Weinfest verträgt, warum gibt man sich das? Haben Sie nichts Besseres zu tun, als der Weinkönigin an die Wäsche zu gehen? Was erzählen Sie da? Die asiatischen Importe sind nicht verantwortlich für den Exportboom? Das sei eine Folge des erst kommenden Aufschwungs? Bitte?

Die Renten sind sicher, weil die Rentengarantie abgeschafft wird, die Gesundheitsreform ist jetzt endlich bezahlbar für die Arbeitnehmer, weil die Arbeitnehmer die Kosten der Arbeitgeber bezahlen, das Sparpaket ist sozial ausgewogen, weil es nicht – haben Sie sich irgendwelche Substanzen intravenös zugefügt? Oder was ist mit Ihnen los? Und der große Aufschwung, der kommen sollte, nachdem es die unglaublich tollen Steuersenkungen gegeben hat, die alles ins Rollen bringen und auf die man ja gar nicht verzichten konnte, diese Steuersenkungen sind jetzt alle ausgefallen wegen Niebel, Quatsch: Nebel, Nebel meine ich, und dazu noch die Gesundheitsreform und höhere Abgaben für die Banken und die Atomwirtschaft und – ja glauben Sie denn, dass die sich das nicht wiederholen? Was sind denn Sie für ein Vogel? Triller unterm Pony, was? Und keine von diesen absolut notwendigen Steuersenkungen, und jetzt auf einmal kommt der Aufschwung mit unglaublichen anderthalb Prozent, die aus der künstlichen Konjunktursteigerung durch das Abwrackprogramm von einer Legislatur in die nächste schwappen, und dann kommt jetzt dieser gottverdammte Aufschwung, den es laut Ihren Sonntagsreden überhaupt nicht geben dürfte, weil alle, alle, alle alternativlosen Sachen, die Sie haben wollten, alternativlos gestrichen sind? Schwester, ich habe genug von diesem Knilch, ich werde – Schnauze jetzt! Sie haben hier nichts zu sagen! Schwester, die Karteikarte – Brüderle, Rainer, ab in die Geschlossene. Der Mann ist doch nicht mehr zurechnungsfähig!“





Kollapskreislauf

15 06 2009

Er klopfte den Papierstoß erst einmal auf den Schreibtisch, bevor er ihn durchblätterte. Aber so ist Birnberger, ordentlich, akkurat, man könnte es auch als kleinlich bezeichnen. Dafür hat man aber auch einen Steuerberater.

„Gut, dann wollen war mal sehen, was wir rausholen.“ Mit pinzettenhafter Grazilität lupfte er die Ecken, um ja keine Eselsohren in den Blätter zu hinterlassen. Hier und da machte er eine kleine Notiz auf dem Schreibblock. Und schon hatte er etwas entdeckt, das ihm ein freudiges Lächeln entlockte. „Ah ja, Sie haben sich mal wieder von Ihrer, wie soll ich sagen…“ Das stimmte, Hildegard war vergangene Woche ausgezogen, und ich hatte die Angelegenheit – drei Stunden nächtliches Geschrei, denn ich war ja daran Schuld, dass Herr Breschke sie wegen seiner Magenverstimmung nicht zur Geburtstagsfeier eingeladen hatte, und so warf sie das zweite Murano-Schälchen auf den Küchenboden – als außergewöhnliche Belastung deklariert. Was Hildegard betrifft, so ist sie an sich schon jenseits jeglicher Zumutbarkeitsgrenze, steuerrechtlich ungefähr mit den Aufwendungen für Fluchthilfe zu vergleichen.

Birnberger schlug in der Loseblattsammlung nach und hatte im Nu den Passus gefunden. „Das ist jetzt die Neuregelung des Ehegatten-Splitting, wo Sie außereheliche Verbindungen als abwrackfähig angeben können.“ Ich stutzte. „Das heißt, ich bekomme eine Prämie, wenn ich… also bitte, das ist doch albern! Wer hat sich denn diesen Unfug bloß ausgedacht?“ „Meine Güte“, sagte Birnberger mit erstauntem Augenaufschlag, „Sie haben wohl den kompletten Wahlkampf verpasst? Was die sich alles an Geschenken ausgedacht haben – lassen Sie bloß das Geld nicht auf der Straße liegen!“

Er reichte mir die Verordnung, und tatsächlich: gegen eine Quittung würde mir der Fiskus den erlittenen Schaden erstatten, falls ich eine generelle Neuverbindung nicht ausschließen wolle. Und bei Hildegard weiß man das nie; eine Woche später könnte sie schon wieder Hals über Kopf bei mir einziehen, wenn sie in ihrer neuen Bleibe nicht genug Platz für ihre Handtaschensammlung hätte.

„Das ist ein Paradigmenwechsel. Früher wurde der Bürger für mehrheitskonformes Leben belohnt – brav arbeiten, viel konsumieren und jede Menge Eigenheime in die Gegend bauen – heute hat sich die Sache umgekehrt.“ „Sie meinen, man wird jetzt für Fehlverhalten belohnt? So wie Manager mit Boni?“ „Sie begreifen“, bestätigte Birnberger, „die Zusatzleistungen werden jetzt nach neuen Kriterien vergeben. Ein Einkaufsgutschein für 50 Euro, wenn Sie eine illegale Waffe zurückgeben – früher wären Sie dafür vor Gericht gekommen. Schauen Sie mal auf Ihre Krankenversicherung. Die könnten Sie doch auch einsparen.“ Sollte ich etwa ohne Versicherungsschutz leben? „Wenn Sie sich dieses Quartal noch freiwillig abmelden, bekommen Sie den Kassenverweigerungsbonus. Macht im Monat für Sie gut 400 Euro.“ „Das ist doch purer Unsinn, da kassieren die Leute das Geld und stecken es in eine private Krankenversicherung.“ Er korrigierte mich. „Das freilich dürfen Sie nicht. Die Prämie ist nämlich zweckgebunden. Was Sie aber mit der Zweitwagen-Nichtbesitzprämie machen, das ist Ihre Sache. Die können Sie der Krankenversicherung geben. Danach kräht kein Hahn.“

So lief der Hase. Deutschland wird heimlich abgewrackt und die Steuerlast verteilt sich von unten nach oben um.

„Wenn Sie ganz auf Ihre Steuererklärung verzichten, bekommen Sie ja auch einen Bonus. Das lohnt sich für Sie natürlich nur, wenn Sie sowieso vorhatten, Steuern zu hinterziehen. Eine völlig neue Form von negativer Einkommenssteuer, nicht wahr?“ Da war etwas dran. Außerdem hatte ich neulich ein paar alte Bücher nicht zum Flohmarkt getragen, sondern sie der hiesigen Volkshochschule gestiftet und kam somit für die Rückerstattung nach Kochs Konjunkturpflegestufe in Frage. Zusammen mit dem Einkaufsgutschein für die Entsorgung meines alten Rasenmähers könnte ich mir von dem Geld fast eine neue Couch leisten – falls ich die alte in Zahlung geben würde. „Wenn Sie auch noch Ihre Rentenversicherung ein bisschen kürzen, könnte das reichen“, rechnete Birnberger, „auf jeden Fall sollten wir auch den Solidaritäts-Zuschlag mit berechnen. Der kommt dann zwar hintenrum doch irgendwie wieder mit rein, aber das bezahlen dann die Rentner als Aufschlag für die Steuern auf ihre entgangenen Bankzinsen. Oder irgendwie so, genau blicke ich da auch nicht mehr durch.“ Und er kratzte sich wirklich ein bisschen ratlos am Kopf.

„Also, mein lieber Birnberger“, fragte ich, „jetzt erklären Sie mir doch mal, wie die ganze Sache denn nun eigentlich funktioniert. Es wird uns auf der einen Seite aus den Taschen gezogen, auf der anderen Seite wieder rein gesteckt, und der ganze Aufwand ist völlig umsonst?“ „Umsonst nicht“, knurrte er, „aber vergeblich. Die Staatsfinanzen sind marode, und als Therapie schlägt man einen kollabierenden Kreislauf vor. Inzwischen bekommen Sie sogar Ausgaben für Flaschenpfand erstattet.“ „Nun gut, was würden Sie denn als Fachmann vorschlagen, um die Sache zu rationalisieren?“ Birnberger ließ den Bleistift fallen. „Schicken Sie das ganze Geld doch gleich an die Bundesbank. Da landet es ordnungsgemäß im Schredder.“