Gernulf Olzheimer kommentiert (CDXL): Die Verduftung der Welt

16 11 2018
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die gelbe Schlonzbeere roch ganz leicht nach Kadaver, um Insekten anzuziehen, die sich in ihren klebrigen Blüten verfingen wie grenzdebile Deppen im Inneren einer rechtsextremistischen Partei. Die Fliege hatte keine Zeit, ihre empirisch gewonnenen Daten an die nächste Generation weiterzugeben, Uga schon. Nach Verzehr der Frucht stellte sich zu heftigem Magengeräusch Schwallhusten ein, den man so schnell nicht vergaß, falls man ihn denn überlebte. Fortan steckte der gute Genosse seinen Riechkolben nur noch in die Kräuter der Wiese und in die kommunikativen Partien der Artgenossen, die mit ihren Schweißdrüsen Smalltalk machten. Ab und zu schwiemelte er der Holden Blümchen ins Haupthaar, doch aus ganz anderen Gründen. Noch hatte der Mensch die Nase nicht voll.

Eines Tages siegte der Lochfraß im limbischen System und der Hominide erfand den objektungebundenen Duftstoff. Vermutlich hatte die Chemie sich mit der Herstellung von Kampfgas und Karzinogenen bis dato unausgelastet gefühlt, so dass sie nun die Vernichtung der Menschheit auf dem psychologischen Weg einschlug, und wahrlich, es ward so. Mit synthetisierten Essenzen, die ein Schwimmbecken zu Erbsensuppe verwandeln konnten und die Alpen in Graubrot, eroberten die Giftmischer die Großhirne der molekülgesteuerten Triebwesen, konditionierten sie auf allerlei modischen Schnickschnack für die Schleimhäute und trieben sie herdenweise in die heillose Abhängigkeit, bis die amorphe Kundenmasse wie gebannt vor dem Regal stand mit dreiunddreißig Spraydosen, weil es in der Postmoderne auf der Bedürfnisanstalt anders nicht mehr stinken darf als in einem Rosengarten auf Speed.

Eine durchschnittliche Plattenbaubutze ohne Atemschutz zu betreten führt zu psychedelischen Effekten. Leichte Herznoten von Bohnerwachs und Linoleum schwappen noch aus der Außenwelt unter dem Zugluftdackel durch, doch schon watet man in knietiefem Vanillepudding. Meeresbrisen schleifen die Netzhäute plan beim Betreten der Nasszelle, in Wohnzimmernähe wummert ein Armageddon aus Lavendel die Gesichtsebene in den Hinterkopf nebst Riesenbabypuder für Rosmarins Nachgeburt. Heimelig kratzt die Kombi aus Kunstwildleder und Pottwalkotze im Rachen, und während das geneigte Schimmelhirn die Kohle für diesen olfaktorischen Vernichtungsfeldzug gegen die Restsynapsen in die Kasse geholt hat, pfifferte im Dreiminutentakt eine elektronische Aerosolkanone eine Jasminoffensive ins umgebende Gasgemisch, die im abgestandenen Zustand riecht wie getoastete Bonbons nach der Exhumierung. Willkommen zur Stunksitzung.

Das Ergebnis ist der komplette Kontrollverlust, das Gift macht inzwischen die Dosis. Die zivilisierte Welt oder das, was wir noch dafür halten, riecht bei orkanartiger Gegenwindstärke nach Sandelholz mit Erdbeeren, als habe sich das die Evolution persönlich aus den Rippen geleiert, und spricht jeder natürlichen Aromenverteilung Hohn. Was Limettenschale und Koriander an der Haarwurzel zu suchen haben und gemähtes Gras am Küchenboden, weiß der Marketingexperte des Tensidkonzerns, und er behält es zur Vorsicht auch für sich. Bald riechen die Autos von innen nach Kuheuter, aber halt – jede Rostlaube wird im Wert längst verdoppelt von einer Überpopulation an Duftbäumen, die das Wagendach nach vorne unten zieht. Tanne-Topinambur oder die Apfelapokalypse treten an gegen ein manisches Melonenmassaker, um des Lenkers Reflexe zu zerstören. Warum diese Verkleisterung des zentralen Nervensystems nicht mit mobiler Ozonzwangsversorgung seitens der UNO gekontert wird, ist geradezu ruchlos.

Die meisten Isoprenoide vertreiben Kleintiere, vermutlich beschießt der Bescheuerte seine eigene Bude grenzwertflexibel mit Geraniol, Limonen und Citral, um die Wirkung schon mal an sich selbst zu testen. Dass das Zeug lustige Allergien auslöst, weil es bis tief in die Lungenäste kriecht und über die welke Oberfläche inkorporiert wird, das weiß der Kunde, aber zum Zelten auf dem intellektuellen Standstreifen hat er noch eben schnell eine Schütte Duftkerzen organisiert, um den Schmodder über die steigende Reizschwelle des Aromatenjunkies zu hieven. Lieblich knallt Benzol an die Schädeldecke, diesmal von innen, und grüßt im Vorbeifluss die anderen Lösungsmittel auf dem Weg zur Leber. Wozu der Behämmerte noch raucht, erschließt sich nicht mehr wirklich. Mit verstörender Intensität imprägniert der Mix aus Chanel Nummer 50.000 und dem Zimttodesstern alle Klamotten, die gute Kinderarbeitsware aus Bangladesch macht in der U-Bahn Fruchtfliegen aus Fernost nervös, und ein leichter Film aus Paraffin und Aloe vera legt sich tückisch-sanft auf die Tapeten. Irgendwann in einer stürmischen Nacht wird irgendein Nachbewohner Stimmen aus dem Inneren der Dielenbretter hören, die ihm befehlen, Bielefeld zu zerstören und in seine Heimatgalaxie zurückzufliegen. So wird’s geschehen, denn wir wissen seit dem Pleistozän: Chemie ist gefährlich, aber Zugluft tötet.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CCLXXXIII): Das aufgeräumte Haus

17 04 2015
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Wie illusorisch war die Idee, Haken in den Fels zu kloppen, damit der Troglodyt seinen Übergangspelz aufhängen konnte. Die Serienreife des Kleiderbügels ließ aus naheliegenden Gründen auch auf sich warten. Nicht viel besser ging es dem Erfinder der Schrankwand. Die Sippe hockte wie immer auf dem Boden, Küchengerät und Abfälle, Sommerkleidung und Wertgegenstände stets in Reichweite und also ebenfalls ebenerdig gelagert – die Innenarchitektur der Altsteinzeit konnte leichte Mängel nur unzulänglich kaschieren. Noch empfand es der Sippenkasper als normal, sein bisschen Besitz kaum aus der Hand zu legen, denn wie oft überfiel einen der feindliche Stamm, während man sich gerade Mammut à la crème reinpfiff, und da war die Axt gerne schnell bei der Hand. Mit dem Anbruch der Zivilisation jedoch, lange vor der Erfindung von Nagel und Schublade, schwand diese Neigung. Was blieb, war das quasi eidetische Gedächtnis, wo die Axt lag. Und der komplementär dazu aufkeimende Aufräumwahn.

Fünf von drei Wohnungen sind im Status einer permanenten Benutzung begriffen, was heißt: die Zeitschriften liegen auf der Couch, dahinter die Turnschuhe, eine Hundedecke, Hausaufgaben, die Chipstüte von letzten Donnerstag, dazwischen das Bernsteinzimmer, ein Oberhemd und die Batterie, die damals in der Küche heruntergefallen war. Der durchschnittliche Spießer rümpft einmal die Nase, sammelt allenfalls die Hausaufgaben auf, kümmert sich jedoch nicht um den Rest, während der eher atavistisch denkende Zeitgenosse zielsicher und unüberlegt nach dem Bernsteinzimmer grabbelt, weil er es nie in der Schreibtischschublade im Aktendeckel „Ba–Bl“ vermuten würde. Denn Wohnen – von Leben sprechen wir erst, wenn es den Nachbarn wumpe ist, was sich auf dem Wohnzimmertisch stapelt, weil sie sowieso schnell wieder herausgebeten werden – war und ist zum größten Teil die geordnete Existenz um die weniger geordneten Dinge herum, die sich im mehrdimensionalen Kontinuum eine eigene Absicht zu schaffen scheinen. Wir besitzen die Sache nicht, wir werden und sind zunehmend von ihr besessen. Zwar braucht der Hominide Bleistift und Bohrer, Teppichschaum und Luftpumpe samt der mühsam aus Tibet herausgeschmuggelten Mumien, ohne die er nie eine Vierzimmerwohnung gemietet hätte, aber wann braucht er sie? und wie oft? Und wozu gibt es eigentlich seit der Erfindung der Hausmauer Haken, an die man Kleiderbügel hängen kann?

Das Ideal eines zur Schau gestellten Reichtums ist seit jeher die repräsentativ leere Behausung, die zu wichtig ist, als dass man einen Schirmständer in die Bude schwiemeln könnte. Außerdem wäre das in Sichtweite eines kleinen, aber unverkennbar echten Picasso sicher nicht geschmackvoll genug. Dass die anderen Zimmerchen der Butze mit dem übrigen Zeug gepfropft sind, kann sich der geneigte Betrachter an seinen elf Fingern abzählen, tut es aber nicht. Prompt verfällt der Bescheuerte in den Wahn, die materielle Leere, mithin eine milde Form des Kontrollzwangs, in jedem seiner Zimmer zu replizieren. Oberhemden in den Korb, Hundedecke zum Hund, die Turnschuhe in den Beutel, die Hausaufgaben ins Reservat, wo die Wilden noch Chaos nach eigenen Regeln erproben dürfen. Wer mit einer unbedachten Handbewegung die minutiös arrangierte Zen-Anordnung der drei Teelichte auf dem Esszimmertisch stört, lebt spontan mit dem Kopf im Aquarium ab.

(Das nervöse Leiden, Einfamilienhäuser mit Duftkerzen, tönernen Dackeln und Plastegebömmel vollzuschippen, ist ein hübsches Anzeichen von Komorbidität sowie ein klarer Beweis, dass die Evolution einen erkennbar brachialen Humor hat.)

Die Industrie unterstützt den Irrsinn nach Kräften. Mit Kisten und Kästen, Schub- und Stopf-, Hänge-, Falt-, Zieh- und Drehmechanismen und allem dazwischen, was ein Schlafzimmer angenehm und übersichtlich erscheinen lässt, während sich in der Staulösung zehn Hosen, drei Paar Schuhe und eine halbe Milliarde Socken befinden. Der Raum ist durch den Kruschtcontainer zwar nur noch so groß, dass man die Tür gerade eben noch siebzig Grad weit aufklappen kann, was regelmäßige Diät erfordert, um an die Socken zu kommen, aber immerhin sind diese Socken aus dem Rest der Wohnung verbannt. Komplett und bis in alle Ewigkeit.

Die Herausforderung liegt jedoch nicht allein in der halbwegs sinnvollen Aufbewahrung, nicht in der Anordnung von Socke, Bratpfanne und Kant-Gesamtausgabe im Räumlichen, so wie es sich die liebe Seele vorstellt. Die Herausforderung der eigenen Art, vulgo: der Horror entsteht in dem Moment, wo der Besuch vor der Tür steht und man, barfuß und unrasiert, den Gästen schnell etwas braten muss. Der zielgerichtete Griff ist hier alles, und schnell zeigt sich wieder die existenzielle Erfahrung aus der Zeit der Unordnung: es ist nicht erheblich, wo ein Ding sich zu einem Zeitpunkt befindet, erheblich ist nur, dass man es in der angemessenen Zeit zur Hand hat. So schlägt auch hier der beherzt in die Materie langende Chaot den Fanatiker des rechten Winkels, der die Fundorte seiner Staubkörner vorab indiziert, um sie auch für Momente der Unschärfe an den Quanten festzunageln.

Eine chaotische Umgebung, sagen Psychologen, sei Ausdruck eines chaotischen Geistes, eine aufgeräumte spräche für eine ebenso geordnete Psyche. Was ihnen zu einer gähnend leeren Kammer einfällt, ist nicht verbürgt. Vielleicht haben sie auch alle nur zu lange Tetris gespielt.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CIV): Das Reihenhaus

13 05 2011
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Als bei der letzten Klimakatastrophe plötzlich die Wälder zurückklappten, linste der Hominide etwas doof in die Runde, bevor er in die Steppe steppte. Hie und da warfen Laubbäume Biomasse in die Gegend, der Himalaya knarzte aus der Kruste, aber sonst war die Sache ganz hübsch. Immerhin sah man auf der Freifläche jetzt schon eine Stunde vorher die Mammutherde antraben, wenngleich ohne schützende Vegetation die Witterung sich von oben herab äußerte. Lange vor Erfindung des ersten Abreißkalenders formulierte der Mensch im Miozän seine erste Bauernweisheit: man kann nicht alles haben. Nicht vor der Zivilisation, nicht außerhalb, und schon gleich gar nicht in der Zivilisation, was auch immer von ihr noch übrig sein mag nach dem Einzug ins Reihenhaus.

Sollte je intelligentes Leben auf der Abkürzung nach Al Kurud beim Sirius falsch abbiegen und in Flörsbachtal niedergehen, Existenz und Name der Doppelhaushälfte dürfte ausreichen, um den Aliens das bundesdeutsche Wesen einzuprägen nebst dem dringenden Wunsch, diesen Planeten nie wieder zu betreten. Hätte man nur rechtzeitig den Berufsirren damit konfrontiert, denn so wäre er nie in diese Wohnwabe geraten. Dicht an dicht zwischen zwei Brandschutzmauern gepfercht hockt der Honk wie im Schuhkarton, nur nicht so komfortabel, denn ein eigener Deckel wäre Luxus. Hier passt sich der Wohnmaschinenbenutzer an, gelber Balkon an gelbem Balkon, aufgereiht wie auf der Hühnerleiter und einkaserniert in die Verhaltensmaßregel des Duckmäusers: nicht auffallen, um keinen Preis. Kon- und Uniformität sind gefragt, wer hier auffallen will, tanzt aus der Reihe.

Was die Klinkerkolonnen so reizvoll reizlos macht, sind dann auch die feinen Unterschiede in der fruchtlosen Optik. Genauere Beobachter halten die Wohneinheiten anhand der Webfehler in den Küchengardinen auseinander, Anfänger haben immer noch Hausnummern, um sich in endlosen Reihen von Ziegelfassaden nicht zu verlaufen. Die isomorphen Stapelklötzchen lassen nur den Schluss zu, dass hier die konstitutiven Bestandteile eines Hochhauskomplexes in die Fläche gekotzt wurden. Man hockt einander auf der Pelle und hat jede Menge Möglichkeiten, Aggressionen aufzustauen. Was kann es Besseres geben für ein Volk, das Bratwurst und Stasi zu seinem Kulturerbe zählt?

Was die Bratwurst betrifft, schafft die räumliche Nähe der Kontrahenten über den Maschendrahtzaun hinweg genug völkerrechtswidrige Gehässigkeiten, um eine gesunde Selbstbehauptung im Bewusstsein des Bekloppten zu erzeugen. Dünner Grilldunst bereits reicht aus, um die übliche Spannung über dem Gartenzaun in eine prickelnde Eskalation zu verwandeln, in der jeden Augenblick mit dem Einsatz von Schusswaffen zu rechnen ist, ganz so, wie es den Sozialingenieuren der Neuzeit für die schaffende Mittelschicht vorgeschwebt haben muss in ihrem stetigen Ringen um Verbesserung der Lebensbedingungen durch Licht, Luft und Sonne – wann immer der Fahrstuhl nach unten gerade mal nicht defekt sein sollte.

Hundehaltung wäre hier vergeblich, bereits das verschwiemelte Quieksen eines Hamsterlaufrades wäre als Emser Depesche tauglich und beschwüre den Anfang einer blutigen Familiensaga für die kommenden Jahrhunderte herauf. Der Ortssatzung zuwider laufender Wäscheleinenbehang an Sonn- und Feiertagen, an denen bekanntlich heidnische Dämonen den Luftraum vorschriftswidrig zu durchkreuzen geneigt sind, Rasenmähen bis 13:01 oder Husten nach Einbruch der Dunkelheit werden von den Nachbarn als Angriff auf die öffentliche Ordnung empfunden, in heutigen Verhältnissen auch öfters als gefährlichen Eingriff in die innere Sicherheit des Planeten, der brutale Unterdrückung sowie strikte Strafen erfordert, sollte nicht das kosmische Gleichgewicht dadurch aus den Fugen geraten, dass der Rasen nicht gemäht ist. Dass sich über den Stickhusten sowieso vornehmlich Anlieger entfernterer Straßen beschweren, deren Hörhilfe just die Grätsche gemacht hat, stört nicht. Es geht, da in Deutschland, ums Prinzip.

Und da wäre sie, die Stasi. Wie im Locked-in-Syndrom, einigermaßen bei Bewusstsein und nicht ganz so verdeppt wie die Grützbirnen der jeweils anderen Behausungseinheiten, darf sich der Insasse der Reihenbutze an den Innenflächen seiner Bleibe ausleben, darf die Blümchentapete sogar schräg an die Wand pappen, sein home ist sein castle, er muss nur mit dem Gruppendruck und der schnell aus dem Ruder geratenden Dynamik eines Rudels Volleulen rechnen, sobald er sich nicht mehr an der dümmsten Dorfbratze des Wohnrudels orientiert. Die Reihenhaussiedlung ist öffentlicher Vollzug der Hausordnung, sonst nichts, und nur die Baustatik ist dafür verantwortlich, dass die Patrone nicht auf Balkonen klemmen und sich über Papierfähnchen echauffieren. So sind sie stolze Herren über die eigene Scholle, wenn sie es nur schaffen, die anderen Psychopathen an der Grundstücksgrenze rauszuwerfen. Was auch nicht leicht ist im Sinne der guten Nachbarschaft, aber das wissen wir ja seit dem Miozän: man kann nicht alles haben.





Gernulf Olzheimer kommentiert (XCI): Kabelsalat

4 02 2011
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Der Blick in die Inneneinrichterzeitschrift zeigt, dass sich seit dem Paläolithikum nicht erregend viel verändert hat: der durchschnittliche Trottel haust in einer Höhle, deren wandnaher Bodenbereich bis knapp unters Knie mit Gerümpel zugeschüttet ist, um mehrmals benutzbare Gegenstände griffbereit zu bewahren. Selten drillt er Löcher in den Fels, um im Wohnraum Humpen freischwingend zu lagern, eher folgt er dem Trend zu Kisten, Kasten, Schrank und Lade, packt sein Gelump ein und entzieht es dem Blick von Nachbarn und Postboten, schützt es vor Erosion und vor der Gefahr, die von ihm selbst ausgeht, wenn er schlaftrunken quer durch die Bude torkelt und alles zertritt, was vernünftigerweise nie auf dem Parkett lagern sollte, Kristallglas, Mehltüte und das Kontinuum Haustier, Futter, Haustierfutter. Zu groß wäre wohl die Wahrscheinlichkeit, dass der Hausherr sich fußläufig im Zeug verheddert. Es soll Ordnung sein, Zucht und eine klare Struktur. Bis auf den verdammten Kabelsalat.

Mit der Erfindung elektrischer Haushaltsgeräte zog die Zivilisationspest ein, Stecker, Schnüre, Litze, Draht – zur Herstellung eines unentwirrbar verknoteten Knäuels reicht es aus, ein einzelnes Stromkabel länger als eine Minute unbeaufsichtigt zwischen Wandsteckdose und Endgerät liegen zu lassen. Das Ergebnis ist der Endzustand der idealen Entropie, nur noch n-dimensional darstellbar und chaotischer als der Inhalt einer Damenhandtasche. Bereits das Zusammentreffen zweier Stehlampen und eines Radiators in einer Verteilerdose übersteigt die logischen Fähigkeiten des menschlichen Auges. Das Schicksal Laokoons und seiner Söhne lässt sich nur unter Berücksichtigung bösartiger Staubsauger korrekt deuten, die paradiesische Schlange selbst ist ein deutliches Zeichen, wohin das Kabel eines Elektromähers die Menschheit zu bringen vermag. Das Zeug vermehrt sich ungeschlechtlich, wild, wirr und neigt zu Mutationen, deren Formreichtum auch abgebrühten Forschern den Angstschweiß in die Halsfalten treibt.

Denn der Wahnsinn fängt hier ja erst an. Mit dem Beginn der Unterhaltungselektronik, die mit Radio und Glotze, Plattenspieler, DAT, Equalizer und Subwoofer in die Behausung brandet, potenziert sich der Gestrüppanfall schwunghaft. Jeder Vollschrott ist mit jeweils dingsundumzig anderen Gerätschaften verdrillt, verdrahtet, verbunden, wird angesteuert und per Kupferbändsel oder optischer Leitung, an Bananen- und Klinken- und Koaxialkabeln, SCART und XLR und Schuko, per Seilzug und Semaphor an Baugruppen geflanscht, hunderte Kabelmeter in stilisierter Kugelgestalt – mit der Anschaffung des Computers, der die heimische Telekommunikation mitversorgt, hat das Kabel die Herrschaft über diesen Planeten erlangt und holt zum letzten, tückischen Schlag aus: dem Kabelgate eines technischen Störfalls.

Zieht das bedrohlich angewachsene Bündel unter dem Schreibtisch auch derart viel Staub an, dass sich die Erdrotation in dieser Gegend merklich verringert, sind auch die seltsamen Nager in den unteren Schichten der Lautsprecherelektrifizierung etwas störend, wenn sie nachts akzentfreies Babylonisch wispern, ein unidentifizierter Wackler oder Strippendefekt birgt das nackte Grauen. Nur mit Mühe gelingt es dem Bekloppten, den selbst verursachten Spaghettoiden so zu dechiffrieren, dass die Zuleitungen zum Tuner klar von der Aufhängung der Deckenlampe zu unterscheiden sind – ein unbedachtes Rütteln an der Cinchbuchse, ein zu scharfer Blickkontakt mit dem Hohlstecker an der linken Ventilatorseite, und der Zinnober kann en bloc auf den Schrott, weil die Lebenszeit nicht mehr reichen wird, die USB-Kabellage wieder aus ihrer niedermolekularen Verzahnung mit dem TOSLINK-Würfelsteck-Ensemble zu lösen. Die Entsorgung samt Neuaufbau käme jedenfalls viel preiswerter, und zur seelischen Entlastung der Nachfahren wäre es ohnehin besser, die ganzen Leitungen an den Maschinen festzuschweißen, unter Putz zu verbergen und die Schächte mit Beton zu verschwiemeln, um hysterischen Ausbrüchen ein für allemal zuvorzukommen. Intelligenzbestien, die Ihr den Schamott hämisch in Kabelbinder pfriemelt und nur einen plastikummantelten Zopf am Boden entlangführt, bösartig mit Schellen verschraubt und hinter unauffälligen Kästen verborgen, Ihr werdet in konzentrischen Kreisen die Auslegeware vom Estrich lutschen, satanische Flüche jodeln und die eigenen Eingeweide zu den Ohren herausziehen, sobald nur ein Kanal des 7.1-Soundsystems in müdem Röcheln verebbt und einen Kabelbaum der späten Erkenntnis samt Schlange hinterlässt.

Das Chaos soll ein Ende haben. Alles ist nun mobil, drahtlos, alles funkt und piepst und lässt sich in immer kleineren und flacheren Plastebömmeln durch die Gegend schleppen, Telefone und Rechner und Radios, die per WLAN rhythmisches Geblök anbieten, aber: braucht dieses Telefon keine Basis? Ist dieses Netbook ohne Netzteil lebensfähig? Auch der autonomste USB-Bilderrahmen will am Kabel hängen, und es ist schlimm, dass Alexander nie vorbeikommt. Er hätte diesen gordischen Knoten beseitigt. So oder so.





Gernulf Olzheimer kommentiert (LXXII): Immobilienmarkt

27 08 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

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Schwarzgraue Wolken ziehen sich langsam über der Steppe zusammen, der Wind geht schwer. Gleich wird irgendein numinoses Wesen gewaltige Wetter über die bebende Landschaft schwappen lassen, glücklich, wer da eine Erdhöhle mit Dach sein eigen nennt – wieder einmal zeigt sich, dass der Hominide in der Evolution gnadenlos zu kurz gekommen ist, denn Muscheln, Schnecken, selbst der Schildkröte wäre das nicht passiert. Wer jetzt kein Haus baut, hat sobald keines. Inzwischen ist die Flora gerodet und betoniert, die Fauna teils im Tierpark, teils im TK-Sortiment zu finden, und nur der Affennachfolger guckt sich hier und da noch nach Behausungen um. Haut er sich die Butze selbst ins Gelände, hat er Bauamt und Maurer zu fürchten, kauft oder mietet er jedoch irgendwelche bereits errichteten Wohnmaschinen, so dräut ihm das Grauen in seiner vollen Auswirkung. Der Immobilienmarkt zieht fintenreich in seine Fänge, wer nicht schnell genug fliehen kann.

Es beginnt mit dem Aufschlagen einer normalen Tageszeitung, vorzugsweise am unschuldigen Sonn- oder Feiertag. Der Suchende findet mitnichten eine Bleibe, in die er Klappsofa, Sperrholzstellagen und allerlei Kleinkruscht einbringen kann, er sieht sich jäh konfrontiert mit einem Ausbruch von Copypaste über alle dreizehn Spalten des Totholztableaus: was immer an Schrägwand, halbe Treppe oder einmal über den Hof im Hinterhaus angeboten wird, ist immer, ist unerlässlich süß, klein aber fein, putzig oder übersichtlich. Letzteres macht noch halbwegs klar, was den Bekloppten erwartet; steht er erst einmal im Flur auf durchgewippten Dielen, kann er mit einer leichten Neigung des Kopfes bereits die komplette Ausdehnung der Bruchbude erfassen, der möblierte Balkon liegt nur zwei Strich backbord von der Küche-Klo-Kombination. Verschnittene Wände im 85-Grad-Winkel mit Biedermeierflokati, mäßig erhalten, geben dem Ensemble erst den so recht hervorplatzenden Charme, der das Epitheton jugendlich zu rechtfertigen suchte – wer auch nur einigermaßen erwachsen und Herr seiner Sinne ist, würde ohne schweres Räumgerät und einen Leichenspürhund auch keinen Schritt in das versiffte Kabuff setzen. Wenn man die mit erhöhtem Aggressionspotenzial zu öffnenden Fenster nur als stilecht erhaltene Gründerjahre anpreisen kann.

Aber man soll, die Sonnenuhr zeigt’s so hübsch, immer auch die guten Dinge sehen. Dass es bis zur nächsten Straßenbahnstation nur dreißig Minuten Fußweg sind, das lässt sich nur als verkehrsgünstig, als zentral und in metropoler Lage beschreiben. Ist die Klitsche zugleich vorne neben dem Kirchturm und hinten am Bahndamm, der nur alle vier bis sechs Minuten für maximal 125 Sekunden von abbremsenden Schnellzügen befahren wird, so ist gleichzeitg noch eine ruhige Randlage drin; Randlage, wohlbemerkt, anders geht’s ja gar nicht, und das bringt den Mietzins gleich um ein gutes Drittel nach oben – ein gutes Drittel pro Quartal. Hatte jemand behauptet, Wohnen im Epizentrum des Bescheuerten sei luxuriös oder gar nötig?

Vervollständigt wird der immobile Grusel durch stumme Mitbewohner, Friedhöfe der verwesenden Materie, die sich in Gestalt abgelaufener Perser, sarkophagartiger Schrankwände oder im Rausch diverser Drogen geschmiedete Wandgarderoben dem Nachmieter entblößen; wer jetzt nicht schnell aus dem Zimmer springt oder die Unterzeichnung des Mietvertrages eh schon hinter sich gebracht hat, büßt mit bitteren Abstandszahlungen. Für den Horizontalfeudel, der bei näherem Hinsehen made in Smørebrødhausen ist und so viel kosten soll, wie nur ein echter Kurienkardinal in einer schmutzigen Nacht im Bordell ließe, begräbt der Wohnwillige die Träume von Anstand und Zivilisation, die er sich mühsam beim Auszug aus Elternheim oder Waisenaufzuchtanstalt ins Hirn geschwiemelt hatte: mundus vult decipi.

Wenn man ihn denn überhaupt lässt. Schließlich haben die Immobilienbesitzer und Hausverwalter nichts Besseres zu tun, sich mit Verbaldurchfall vom Feinsten alle nur möglichen Vertragspartner wirksam vom Hals zu halten. Gefragt ist der ruhige Mieter, der nicht raucht, nicht zu Haustieren oder dem Lehrerberuf neigt, Beamter ist, weil die ja ein geregeltes, nie versiegendes Einkommen haben, aber bloß kein Beamter sein soll, weil die meist die Staubkörner aus dem Mietrecht pflücken und dem Vermieter das Leben zur permanenten Höllenfahrt machen. Am beliebtesten sind immer noch die bis dato nicht gesichteten, aber irgendwo in den wirren Träumen von Hausmeistern existierenden Singles mit Niveau, weder arbeits- noch vermögenslos, die aber dennoch in vollständig verwarzte Verschläge mit keifenden Nachbarn, röhrenden Abzugshauben und gurgelndem Abfluss zwei Etagen höher einziehen, weil ihnen die flackernde Neonreklame des Nagelstudios die Schlafzimmerbeleuchtung ersetzen wird. Es sind, auch wenn man sich die Leistungsfähigkeit von Betäubungsmitteln nicht so drastisch vorzustellen vermag, die oft genannten Wohnträume. Es gibt sie, aber kaum im Schlaf des Gerechten. Und sicher nicht zur Miete.





Gernulf Olzheimer kommentiert (LIII): Die Schrankwand

16 04 2010
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Kaum hatte der postdiluviale Schlurcher die Eigentumshöhle gegen eine Einraumlehmhütte getauscht, schon hing der Haussegen schief wegen unlösbarer innenarchitektonischer Probleme. Wohin mit dem Rest Spitzmaus an gegarter Hirse? Ist in der Nische genug Platz für Urgroßvaters Gerippe, das aus anbetungstechnischen Gründen nicht unter dem Bett verstaut werden kann? Kisten und Kasten waren noch nicht erfunden, ja nicht einmal der simple Holzeimer existierte im durchschnittlichen Haushalt – Ordnung herrschte selten, Wohnästhetik schon gleich gar nicht, wen wundert’s da, dass Homo sapiens sapiens einige Jahrtausende lang vorwiegend damit beschäftigt war, sich gegenseitig die Fresse einzudellen. Vor allem mangelte es am passenden Zubehör, um des Beknackten Drang nach gesteigerter Geschmacklosigkeit nachhaltig zu befriedigen. Auf Dauer führte kein Weg an der Erfindung der Schrankwand vorbei.

Das teutonische Gesamtkunstwerk aus Eiche dunkel gebeizt, stilistisch zwischen Wohnsarg und Völkerschlachtdenkmal im Maßstab 1:23, wartet mit dem Strömungswiderstandskoeffizienten einer Staumauer auf – ehernes Beharrungsvermögen aus einem Guss, rustikal in Plattenbau und Wohnloch geklotzt, verschandelt Versuchsfelder realsadistisch veranlagter Inneneinrichter, denen Cordgarnituren in Beige mit gekacheltem Couchtisch samt kurbelbetriebener Höhenverstellung noch Luft für die zweite Halbzeit ließen. Unwillkürlich assoziiert man bei der Konfrontation mit dem begehbaren Zementklotz Vorstellungen von Ewigkeit; das Ding ist auch durch Kernspaltung nicht abbaubar, eher gäbe die Sonne ihren thermonuklearen Vollzeitjob dran, als dass die in diesem Bausparertraum beigesetzten Kräuterlikörkanister neben der Karl-May-Gesamtausgabe in Schweinsleder noch einmal das blakende Licht der Wirklichkeit erblicken könnten. In diesem Schwarzen Loch ist mehr graue Materie verschwunden als in den schwarzen Kassen der CDU, mit der sie neben dem Stetigkeitsfaktor auch die generationsübergreifende Spießigkeit eint.

Schrankwand – was schon so nach Brutalbarock klingt wie der Titel eines Rammstein-Albums, das ist die kulturfreie Variante des Kulturschocks, was, vom Kulturbeutel abgesehen, so der Deutsche zum Glück nur einmal hingeschwiemelt bekam. Hier wurzelt die tiefe Verachtung fahrender Schönheit, hier bekennt sich der Bescheuerte zur optischen Sterbehilfe, die das bevorzugt, was weder Art noch déco ist. Beim Anblick eines derart monströsen Konglomerats antizivilisatorischer Wahnbilder beschleicht einen der klare Gedanke, Außerirdische hätten jene quaderförmige Qualzüchtung dem Behämmerten eigens in die Butze gebeamt, um dereinst schneller die Macht zu übernehmen, wenn sich herausstellen sollte, dass der mit dem Intellekt von Stroh ausgestattete Erdling bereits degeneriert genug ist, um jede Form von Netzhautpeitsche ohne nennenswerten Widerstand anzubeten.

Denn dass er dies tut, ist erwiesen; er hatte ausreichend Zeit, das Ritual einzuüben. Abend für Abend verbringt er die Weihestunden vor dem Altartrumm, der sein Retabel für die Sportschau aufklappt, den Sermon eines Gottschalks überträgt und aus dem Jenseits die Gestalt des verblichenen Johannes Heesters hinüberschwappen lässt, vom Bierkelch samt einer Patene mit Schnittchen begleitet: Abendmahl mit Gürkchen unter dem Styroporstuck muffiger Wohnsiloromantik, die man mit rezeptfreien Medikamenten nur schwierig zu simulieren vermag. Vielleicht war es auch nur der Versuch, eine komplette Doppelhaushälfte in die Längswand des Balkonzimmers einzuquetschen, damit man die Inhalte von Luftschutzkeller und Dachboden immer griffbereit hat. Dies ist typisch männliche Denke, die dem weiblichen Verhalten angesichts eines Hochregallagers voller Schuhe entspricht; beiden gemein ist die Idee, dass man, nachdem seit dem Urknall nichts weggeschmissen wurde, den kompletten Krempel auch kompakt auf Schubladen verteilt haben möchte, nicht unbedingt alphabetisch sortiert, aber wenigstens Raum sparend in genau ein einziges Objekt hinein verdichtet – was physikalisch etwa dem Versuch entspricht, Jupiter auf einer Reihenhausterrasse abzustellen, und viel von dem Spaß verrät, den Architekten mit Betondecken haben können. Eigentlich sollte der aus Spanplatte zusammengetackerte Krempelkatafalk bereits beim Aufstellen vor lauter Seinsschwere den Boden perforieren und mit hurtigem Donnergepolter die Immobilie in vertikaler Richtung entsorgen. Bei genauem Nachdenken offenbart sich denn auch der innere Zusammenhang: was das seit dem Big Bang angestaute Chaos birgt, wird kaum der tiefere Grund für nachwachsendes Leben auf diesem Planeten sein, wohl aber ein Argument für die weite Verbreitung des gemeinen Beknackten, und erst Recht der Anlass für den drohenden Weltuntergang, wenn das Universum am Jüngsten Tag durchs Parkett poltert. Denn das Dasein an sich hat nun mal eine beschissene Statik. Ganz im Gegensatz zur Schrankwand.





Gernulf Olzheimer kommentiert (XXII): Städter auf dem Land

28 08 2009
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Der urbanisierte Jetztzeitler hat sich nicht nur aus Versehen in die Kristallisationskerne der Abfall- und Krachproduktion verlaufen, er hat sich mit vollem Bewusstsein da angesiedelt, wo er vom gut sortierten Spirituosenfachhandel über horizontale Einkaufsmöglichkeiten bis zum Fußballplatz alle für seine Körperflüssigkeiten relevanten Zufuhr-, Austausch- und Entsorgungsmöglichkeiten ohne aufwändig erlernbare Wegstrecken erreicht. Die Gewohnheit gibt ihm Recht. Zwar weicht er gerne geistigen Herausforderungen aus, ist aber geistig nicht so herausgefordert, um wie der gemeine Bekloppte die sinkende Stadt zu verlassen und sich in Sichtweite des Jenseits eine Behausung ins Moos zu kloppen. Er hätte auch keine nennenswerte Chance mehr; das Moos ist voll.

Schon die Auswahl der Örtlichkeit wirft ein trübes Licht auf den Bescheuerten. Tritt er beruflich meist als Oberstudienrat oder Kreditsachbearbeiter einer Hypothekenbank für nachhaltiges Verhalten ein, so drückt er durch Erwerb eines Grundstücks innerhalb der Rufweite der Wildnis der Natur seinen nachhaltigen Stempel auf: gut anderthalb Autostunden bis zur Stadt legen die Insassen der sechsköpfigen Familie in drei Kraftfahrzeugen älteren Baujahrs zurück, täglich hin und zurück, abendliche Ausbruchsversuche ebenso wenig eingerechnet wie die Wochenendfluchten der pubertierenden Generation oder die regelmäßigen Besuche in der Videothek, um sich beim Billigriesling die bröckelnde Bude an der Biegung des dörflichen Abwasserkanals schön zu saufen. Denn das Landleben birgt nichts als Gefahren.

Kurz nach dem Exodus ins Flachland ahnt der Aussiedler, dass Whirlpool, Sauna und fließendes Wasser in originalgetreu erhaltenen Bauernkaten aus der Renaissance nicht zur Standardausstattung gehören; hingegen die ortsübliche Anwesenheit von Milchvieh in mittelgroßer Stückzahl vor der Garagenauffahrt wertet er als Zeichen der Bösartigkeit seitens der Ureinwohner, da sein Schuppen schon stand, noch bevor die Rinder aus dem Ei geschlüpft waren. Mit jeder Bemühung, die Rechtsschutzversicherung in Regress zu nehmen, steigt der Spaßfaktor der Dorfbevölkerung. Bald ist der Haufen Dummschädel auf dem Gemeindeamt bekannt und zählt viele der Alteingesessenen zum Bekanntenkreis, ohne jedoch zwanghaft mit ihnen Freundschaft schließen zu müssen. Man kennt sich, und dies prägt das Zusammenleben.

Statt dem Lockruf des Auerhahns lauscht der Siedler fortan der saisonal stark anschwellenden Fortpflanzungstätigkeit der Tiefpflüge auf der Futtermittelmonokultur, die unmittelbar hinter dem Grundstück beginnt. Durch Ausbringen von Jauche weiht der Heimatberechtigte den Neuzugang ins olfaktorische Koordinatensystem ein, das den Clash der Kulturen in Schwung bringt, denn in Anbetracht der rustikalen Umgebung lässt es sich die Dorfgemeinschaft nicht nehmen, altes Brauchtum wieder zu neuem Leben zu erwecken. Der Weckruf des Hahns auf dem Misthaufen, das koordinierte Abfackeln von Herbstlaub und ausgedienten Traktorenreifen durch sämtliche Höfe im Weichbild sensibilisieren die Zuzüglinge für die fremde Andersartigkeit dieser urwüchsig lebenden Rasse, der man fern ist und doch auf unbestimmte Zeit so nah sein wird. Der Versuch, Anschluss zu finden etwa durch grammatikalische Korrekturversuche des lokalen Dialekts von dem an Bühnenlautung gewöhnten Deutschlehrer wird gerne beantwortet, beispielsweise durch sanfte Fühlungsnahme der Limousine vermittelst mehrerer Mähdrescher.

Fauna und Flora des Feuchtbiotops leisten ihren Solidarbeitrag dazu. Körperlich geschwächt vom Dauerquaken der Frösche nach Einbruch der Dunkelheit, brüderlich unterstützt von den Schnabelkerfen während der Beleuchtungsphasen, holt sich der entnervte Strohkopf an den Gestaden des Tümpels seine Mononukleose oder Meningitis, die sich je nach Höhe der Gewinnausschüttung kurz oder längerfristig aufs allgemeine Wohlbefinden auswirken. Jetzt reicht ein einziger Weberknecht an den Designerküchenfliesen, um die Hausfrau beim Entsorgen der Psychopharmakapackungen im Wertstoffsack in den endgültigen Hirnfreilauf zu entlassen. Die dem Städter innewohnende Beklopptheit bricht mit voller Sollstärke durch. Bereits am Monatsende markiert das artistisch brillante Einparken des Möbellasters in der Lücke der Obstvollernterkolonne einen Endpunkt in der Geschichte des beschaulichen Fleckchens Erde, das nun ohne die liebgewonnene Familie auskommen muss und dem Abschiedsschmerz mit dem mehrtägigen Einsatz von Blaskapelle und Freibier beredten Ausdruck verleiht. Kurz wird der Leerstand der Landwirtschaftsimmobilie am Stammtisch diskutiert, dann trottet das Leben wie ein müdes Mastrind weiter, ohne sich an Schnaken, Städtern und Spekulationen mit dem aufgelassenen Gebäude zu kehren. Bis der Makler, im Marktflecken ein jährlich wiederkehrendes Gesicht, wieder einmal vorbeikommt und Frischfleisch für die kommende Gaudi mitbringt. So schließt sich der grausame Kreislauf der Natur.





Lineare Regression

27 03 2009

Natürlich hatte ich mich für Breschkes gefreut. Sechs Richtige im Lotto, das hat man ja nicht alle Tage. Mit einem kleinen Sektempfang für Nachbarn und Freunde wurde der glückliche Zufall begossen, dann verkündete Herr Breschke seine Pläne für die Zukunft: während einer längeren Erholungsreise in den Schwarzwald sollte der Bungalow der Eheleute einer Komplettrenovierung unterzogen werden. Das nötige Kleingeld sei ja nun vorhanden, und es solle für die verbleibenden Jahre seines Ruhestands – hier zwinkerte der pensionierte Finanzbeamte mir zu – etwas Ordentliches sein. Nicht dieser neumodische Quatsch, sondern durable Qualität. Es sollte schließlich noch ein paar Jahre halten und Freude machen.

Was zunächst hieß, dass ich mich mit Breschkes Tochter um Bismarck stritt. Der Hund musste ausgeführt werden. Eine gewisse Affinität hatte dieser außerordentlich blöde Dackel zu mir entwickelt. Dennoch kam die Angelegenheit zu einer einvernehmlichen Lösung. An geraden Tagen holte ich den Hund bei Breschkes Tochter ab, die dann genügend Zeit für ihre Besorgungen hatte, an ungeraden pausierte Breschkes Tochter, damit ich den Dackel ausführen konnte.

So kam ich eines Tages, Breschkes atmeten schon seit vier Wochen die würzige Luft der Fichtenwälder im deutschen Mittelgebirge, an dem Anwesen vorbei. Ein Möbelwagen parkte in der Einfahrt. Bismarck wickelte wieder einmal die Leine um meine Füße und ich nutzte die Pause, um auf den Gartenweg zu treten. Vor der Tür stand der alte Beußelmann, ein unwahrscheinlich dicker Mensch mit Spiegelglatze, der beständig schwitzt. Doch er versteht etwas von Mobiliar und hatte mir schon einige schöne Stücke verschafft. „Na, junger Freund“, begrüßte er mich, „wie geht’s, wie steht’s?“ Schon witterte er meine Frage. „Ich hätte da für Ihre Schleiflackanrichte just zwei hübsche Hocker. Stahlrohr, Marcel Breuer, Sitze natürlich frisch bezogen. Würde ich Ihnen für 1700 pro Stück, was sag’ ich denn: 2500 für alle beide, abgemacht?“ Wenn er mich auch etwas überschätzte in Betreff meiner finanziellen Mittel, Geschmack hatte er. „Na, gehen Sie mal rein. Aber wundern Sie sich über gar nichts, ja?“ Bismarck zog an der Leine. Ich betrat das Haus.

Die Blümchentapete im Flur ließen mich schon Schlimmeres erahnen. Neu sah sie nicht aus, allerdings war ich mir sicher, dass bis vor einigen Tagen da noch Raufaser in Altweiß geklebt hatte. Was war hier geschehen? Ich tastete mich durch muffige Dunkelheit bis zur Tür und blickte hinein. Das Blut in meinen Adern gefror schlagartig.

Die Kücheneinrichtung sah aus wie die surreale Interpretation eines Heimatfilms, der unter der Oberfläche des Silbersees gedreht worden war. Eine weiß lackierte Anrichte mit Aufsatz, Scheibentüren mit Gardinen, Brotfach und einem ausziehbarem Geschirrtischchen stand da, wo bisher noch die Einbauschränke gehangen hatten. Der Elektroherd mit Umluftofen und integrierter Mikrowelle war einem Kohlenherd gewichen – einem emaillierten Monstrum mit umlaufender Messingstange. Ich rang erst nach Luft und dann nach Worten. „Gelungene Überraschung?“ Beußelmann war unbemerkt hinter mich getreten. „Breschke wollte das originalgetreu. Alles aus den Fünfzigern. Sie ahnen nicht, was ich unternommen habe, um diesen prähistorischen Schrott aufzutreiben. Na, kommen Sie mal weiter.“ Und mit diesen Worten zog er mich am Arm aus der Küche ins benachbarte Bad.

Nun war Breschkes Nasszelle nie ein Hort der Entspannung für Körper, Geist und Seele gewesen. Die blauen, mit stilisierten Orchideen überkitschten Kacheln standen in aufreizendem Kontrast zur Badewanne, deren Braunton – Frau Breschke hatte mir beständig ihr Leid geklagt – zudem mit dem weinroten Handwaschbecken disharmonierte. Dies alles war Herrn Breschkes Geiz geschuldet, der die Einzelteile seinerzeit der Konkursmasse eines Baustoffhändlers kostengünstig entnommen hatte, ohne Rücksicht auf Verluste oder das Urteil der Nachwelt. Und doch, ich sehnte dieses seltsame Ensemble zurück, denn meinem Auge bot sich zwar reines Weiß, aber es war aus lackiertem Metall in Gestalt einer frei stehenden Badewanne sowie eines Badeofens, der schätzungsweise zur Zeit des Reichskanzlers Caprivi konstruiert worden war. Die Kacheln waren – ein einziger Bruch, und nicht nur ein historischer – von mattem Grüngrau mit einem Stich ins Ockerfarbene, was man hinter der neu eingesetzten Milchglasscheibe im Fensterrahmen jedoch kaum bemerkte. Ich musste mich am Türrahmen festhalten. Beußelmann warf mir einen fatalistischen Blick zu. „Wenn Sie meinen, das sei schon alles, dann machen Sie sich auf die Krönung gefasst. Ich hoffe, Sie haben gut gefrühstückt.“ Und wir betraten das Wohnzimmer.

Zunächst sah ich Häkeldeckchen in rauen Mengen, die Chaiselongue und das nierenförmige Rauchtischchen nebst einigen an Scheußlichkeit nicht zu überbietenden Cocktailsesseln in Rostrot und Erbsengrün. Die dreiflammige Tulpenlampe schien alle Bestialität hämisch zu überstrahlen. „Und jetzt drehen Sie sich ganz langsam um. Ganz langsam!“ Ich tat, wie mir geheißen – wer beschreibt den Stoß in meinen Magen, als ich ein Büfett aus poliertem Edelholz entdeckte, dessen Formen gewaltig aus der Kurve getragen wurden. Gelsenkirchener Barock in seiner reinsten Form. Gewissermaßen der natürliche Widerpart zur linearen Regression.

Meine Brillengläser beschlugen von innen. „Tja, da sehen Sie, womit ich die letzten Wochen zugebracht habe. Breschke wollte und wollte unbedingt Originalstücke haben. Wissen Sie, wo ich das gefunden habe? Bei einem Sammler in Ecuador.“ Ich starrte auf das Möbel wie auf ein bizarres Insekt. Ungerührt fuhr Beußelmann fort: „Und zu einem Preis, ich sag’s Ihnen! Dafür bekommen Sie glatt zwei neue Stutzflügel.“ Ich fragte ihn, was in Herrn Breschke gefahren sei, und er antwortete mir prompt: „Ich weiß es nicht. Wenn Sie mich fragen, der Alte pickt längst am Vollmeisenknödel.“ Und plötzlich sah er ganz elend aus. „Ich kann das nicht mehr! Das ist mein letzter Auftrag, ich halte das nervlich nicht mehr aus!“ Er packte mich in höchster Verzweiflung an den Armen, wie ein Ertrinkender Rettung sucht. Schon wollte ich ihn fragen, was in ihn gefahren war, doch da kam schon einer der Möbelpacker hinein. „Chef, wo stell’ ich das ab?“ Er rollte eine Beistelletagère hinein, dreistöckig, dreieckig. Im dritten Stockwerk stand ein Gartenzwerg. Steingut in Farbfassung, um 1951. Und ich verstand.