Restbratwurst

18 03 2010

Milde Akkordeonklänge säuselten durchs Foyer. Klootjohann stieß mich neckend in die Seite. „Na“, fragte er keck, „das ist doch der rechte Sound für unser Unternehmen, meinen Sie nicht auch?“ Ich wandte ganz langsam den Kopf. „Kein Wunder“, antwortete ich mit mildem Spott. „Ich hätte hier auch sofort etwas mit Quetschkommode assoziiert.“ Das hätte ich wohl besser gelassen, denn er war schon drauf und dran, das alte Lied mitzusingen. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, trällerte ich innerlich, den schickt er in die Wurstfabrik.

Wurst um Wurst fluppte aus der Maschine und sank plätschernd in den Brühkessel. „Das ist ja nur das Standardsortiment“, informierte Klootjohann mich. „Wir haben unsere Produktion jetzt ganz auf neue Wurstideen umgestellt. Der Kunde will das so. Das ist der Zug der Zeit.“ Ob der Zug aus Fischwurst bestand oder vielleicht aus Leberwurst, deren Zutaten nicht von unwissenden Blinden zusammengeschüttet wurden? „Keinesfalls!“ Mein Begleiter verwahrte sich heftig. „Die Erzeugnisse müssen sich ja auch nicht unbedingt komplett vom Gewohnten unterscheiden. Schauen Sie mal.“ Damit zupfte er ein kleines Säckchen aus der Maschine, das an einem Faden baumelte; am anderen Ende hing ein Papierschildchen. Es roch säuerlich. „Das ist doch das Zeug, das einem am Frühstücksbüfett angedreht wird.“ In Erinnerung an vertrocknete Schmierwurstportionen schüttelte ich mich. Klootjohann war verwundert. „Erkennen Sie denn nicht?“ Worauf wollte er bloß hinaus? „Tee-Beutelwurst – Sie können hier oben am Etikett zupfen und fetten sich nicht mehr die Finger ein!“

Weiter ging es durch die Fertigungshalle. „Der Kunde“, belehrte mich Klootjohann, „möchte heute eine differenzierte Auswahl haben. Das fängt bei den einfachsten Produkten an!“ Die Apparatur säbelte Scheiben von einem endlosen Wurststrang herunter. Er griff in eines der Behältnisse hinein und zog ein Stückchen Aufschnitt hervor. „Ein Huhn“, konstatierte ich. „Genau“, bestätigte der Metzger. „Diese Sorte beinhaltet – unter anderem – Hühnerfleisch. Genauer gesagt: wir haben hier vier Prozent Geflügel in der Mischung, von denen vier Prozent Huhn und Hühnernebenprodukte sind.“ „Das leuchtet mir ein.“ Tatsächlich konnte ich sofort etwas mit der Intarsienwurst anfangen; der stilisierte Gockel auf der Wurstscheibe sprach mich sofort an. „Sollte man aber nicht eher einen Hühnerfuß oder ein paar Hähnchenschnäbel in diesen Aufschnitt reinpacken?“ Klootjohann schüttelte den Kopf. „Das gäbe große Probleme mit dem Verbraucher. Lebensmittelrechtliche Probleme! Wir können das nicht machen.“ Warum denn nicht? „Man könnte es mit Putenaufschnitt verwechseln.“ Das war plausibel. „Lassen Sie uns weitergehen“, drängte ich, „bevor ich mir noch Ihre Bärchenwurst ansehen muss.“

Der braungraue Brät im Mischgerät sah aus wie verquollener Haferbrei mit Speckstückchen. „Das täuscht!“ Klootjohann triumphierte. „Das täuscht, weil in dieser Halle überhaupt kein Fleisch verarbeitet wird. Hier fertigen wir ausschließlich vegane Wurstspezialitäten, eine völlig neuartige fleischlose Fleischwurst. Toll, oder?“ „Das klingt gewöhnungsbedürftig“, bemängelte ich. „Aber wir erschließen der Wurst damit neue Konsumenten und sichern ihr neue Absatzmärkte.“ Sträubelmann zog Proben aus dem Wurstbrei. „Was ist denn das weißliche Zeug da“, fragte ich. „Feinbackware in Mineralwasser vorgeschwemmt“, gab der Fleischer zurück. „Hoch bindungsfähig ohne Fleischfaser und künstlichen Speckfettzusatz, wir haben darum die Mischung nicht nur im fleischlosen Bereich zum Einsatz gebracht, sondern bedienen uns ihrer auch in der Normalproduktion der Frikadelle in der…“ „Und jetzt wollen Sie sicherlich auch unsere anderen Produkte kennen lernen“, drängte sich Klootjohann dazwischen.

Direkt nebenan schossen Pflanzenschnitzel in einen Bottich. „Das fleischlose Sortiment hat ja noch mehr zu bieten.“ Ich schnupperte. „Weißkohl. Das also ist Ihre berühmte Kohlwurst?“ Er schüttelte den Kopf. „Bis letztes Jahr war das noch unsere Kohlwurst, jetzt haben wir sie in die neue Kombi-Palette überführt. Ein großartiges Ding!“ Ich blickt auf die Verpackungen, die das Laufband in langen Bahnen aus der Fertigungshalle schob. „Würstchen und Kraut“, las ich. „Genau“, stimmte Klootjohann zu, „beides in einem Produkt – das nenne ich mal eine gelungene Verbindung. Und es ist tatsächlich das, was draufsteht.“ Ich schnupperte. „Dann ist das, was da hinten so entsetzlich qualmt, die Rauchwurst?“

Der große Kasten stampfte. Chromblitzend führten Rohre hinaus, das eine gleich nach nebenan in die Bratstraße, das andere durch die Decke in einen anderen Saal. Drinnen quirlte und schleuderte es, die Masse klatschte in der Trommel hin und her. „Hier geht’s also um die Wurst“, mutmaßte ich. „Ganz recht“, bestätigte er. „Hier entscheidet sich die Zukunft der deutschen Qualitätswurst.“ Und was wird hier getrennt, was nicht zusammengehört? „Wir trennen hier die Rost-“ – er zeigte auf den einen Weg, der zur benachbarten Maschinerie führte, dann auf den anderen, der sich gegen den Plafond entfernte – „und die Restbratwurst.“ Wir schwiegen ergriffen. „Aber Sie müssen von der ganzen Wurst ordentlich Appetit bekommen haben. Wollen Sie nicht einen Happen essen? Ich lade Sie ein, drüben in die Kantine der Konservenfabrik. Empfehlenswert!“ Ich war etwas erstaunt. „Na, die würden nie etwas von uns verwenden.“





Um die Wurst

2 04 2009

Ob es der Grünkohl war, den Jonas mit Kohlwurst, dicken Kasselerscheiben und Schweinebacke in entsetzlichen Mengen servierte, ob es am Bier lag, das wir gegen den wehrsamen Eintopf tranken – schon um halb zehn war ich bewegungsunfähig und sah um mich herum sitzend vollgestopfte Gestalten, die an der Tischkante mühsam Halt suchten und aus glasigen Augen in die Röstkartoffeln starrten. Zu einem gesitteten Gespräch war niemand mehr in der Lage; alles, was mehr als drei Silben hatte, fiel der Luftnot zum Opfer. So beobachteten wir, wie Jonas in Zeitlupe die Schnapsflasche hereintrug und die Gläser füllte. Die Zeit schien auf dem Zifferblatt der Küchenuhr festzukleben.

Kaum war ich zu Hause angekommen, plumpste ich auf die Couch. Dabei musste ich mich auf die Fernbedienung fallen gelassen haben. Schon sprang die Glotze an. Längst schon war ich zu träge zum Abschalten. So kam Guido Knopps Hysteriendrama Die wirklich wahrste Wahrheit über Danton über mich. Burgschauschauspieler sprachen ewige Worte aus Büchners Revolutions-Drama – „Und wenn ich ganz zerfiele, mich ganz auflöste, ich wäre eine Handvoll gemarterten Staubes…“ – und senkten mich in einen Zustand milder Entrückung. Alles kreiselte. Georges Danton bei den Freimaurern. Unter dem Fallbeil. Dazwischen ein Guido Knopp mit Bart und Brille, der aussah wie mein Geschichtslehrer Doktor Leusel. Alles sank hin um mich, Kohl und Knopp, und vermengte sich zu Wurstbrei, der mich in einen unruhigen Schlummer zog.

Da hockte ich in einem Heuhaufen und sah die Truppen einreiten. Hatte Axel Oxenstierna doch verfügt, keine Schwede müsse mehr Fleischwurst ohne Kartoffelbrei essen – siegreich zog Gustav II. Falukorv in München ein, nur um festzustellen, dass es bereits früher Nachmittag war. Kein Zipfel Weißwurst mehr in der ganzen Stadt. Missmutig rührte der General im süßen Senf.

Aus der Ferne zog Schlachtenlärm herauf – der Aufstand! Necker hatte das Volk ausgequetscht und abgekocht wie Wurstbrät. Während bei Hofe Schweinskopf mit Zitrone serviert wurde, nagten die Bauern am teuren Brot. Kaum ein Stückchen Sülze konnten sie erschwingen. Danton saß in der Geheimloge und sann mit den Aufrührern, wie man des Königs Kopf selbst mit Petersilie anrichten könnte, da sprach Marie Antoinette beim Schlachter ihre fatalen Worte: „Wenn die Leute keinen Flönz haben, sollen sie doch Teewurst essen!“ Nun gab es kein Halten mehr. Die aufgestachelte Menge zog in die Bastille, wo Landjäger und Zervelat im Rauch hingen, Lyoner und Bierwurst im Brühkessel dampften. Höhnisch schickte man der Bürgerin Capet Hirnwurst zur Conciergerie. Doch nur zu bald wandte sich das Blatt. Danton und Robespierre wurden öffentlich gehackt, Marat gar fand man leblos im Essigsud liegend – man entledigte sich der Aufwiegler, keiner aus der Geheimgesellschaft blieb verschont. Es ging um die Wurst.

Denn dass der ominöse Wurstclub bereits 1787 gegründet worden war, daran besteht kein Zweifel. Zeichen, Worte und Griffe der Freimetzger hatten sich von Land zu Land unter der Schlachtertheke fortgepflanzt und dem einen internationalen Ziel gedient – die Weltherrschaft an sich zu reißen. Unter diesem Deckmantel versuchte Napoleon, die Vorherrschaft der deutschen Aalrauchwurst mit seinen Chasseurs zu brechen. Nur darum inszenierte Metternich den Kongress zur Wiederherstellung der Wienerle – die Erstausgabe des Darmstädter Landjägers erinnert noch heute an die große Restaurationsfachkraft – und drängte die Krainer zurück. Noch Bismarck, munkelt man, habe gesagt, die Leute schliefen desto besser, je weniger sie wüssten, wie Würste und Gesetze gemacht würden. Sie steckten in Wahrheit alle in einer Pelle.

Und das ist noch nicht alles. An manchen Stammtischen erzählt man sich noch heute hinter vorgehaltener Hand, Karl Theodor Schwarte (ebenderselbe, der den Schwartemagen erfunden und die Parlamentskantine in der Paulskirche bewirtschaftet hatte) habe den im Königreich Württemberg steckbrieflich gesuchten Georg Christian Grütz 1848 in die Freie Stadt geschmuggelt, um mit ihm die Großloge Zum Frankfurter Würstchen zu gründen. Hatte der ehemalige Hofmedikus doch während der großen Rattenplage die Grützwurst ersonnen. Die Revolution brach aus – auf den Barrikaden wurde geschossen, während des Wiener Aufstandes brannte das Logenhaus vollständig aus. Grütz, ein Mann der Tat, sammelte die Umstürzler hinter sich. Leider trank er unmäßig viel, und so kam es, dass er nach einer reichlich gewürzten Paprikasalami (einem Gastgeschenk der ungarischen Freiheitskämpfer) ein ganzes Partyfässchen Rheinwein in sich hineinschüttete, um der entsetzen Gesellschaft lallend die wahre Rezeptur der Leberwurst zu enthüllen. Er ward nie mehr gesehen. Hartnäckig hält sich der Verdacht, Schwarte selbst, dessen Porträt bis auf den heutigen Tag im Logenhaus zu besichtigen ist, habe seine Finger im Spiel gehabt; denn das Bildnis zeigt die Magnifizenz beim Verspeisen einer Platte mit Blut- und Leberwurst.

Ganz zuletzt träumte mir, Guido Knopp sei als Gesichtsmortadella auf mich zugetreten und habe versucht, mir sämtliche Weltkriege durch den Wolf gedreht einzutrichtern. Mit schmerzendem Nacken erwachte ich. Schließlich hatte ich die ganze Nacht schräg auf der Fernbedienung gelegen. An der Tür klingelte es wieder und wieder, und so musste ich mich schließlich erheben. Jonas stand davor, in den Fingern ein fettiges Päckchen. Es seien aus dem Grünkohltopf noch so viele Mettenden übrig. Ob ich nicht ein paar abhaben wolle.

Es ist, wie gesagt, eine Verschwörung von größerem Ausmaß.