Kein bisschen Frieden

20 12 2023

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

hat noch irgendjemand den Überblick, was in diesem Land gerade so geschieht? Vor den ganzen Kriegen, dem grassierenden Antisemitismus, einer von unfähigen Traumtänzern und gierigen Idioten in den Untergang gesteuerten Politik und dem sich lähmend auf das ganze Leben legenden Szenario eines kollabierenden Planeten merkt man kaum noch etwas von der angeblichen Zeitenwende, die schnelles und entschlossenes Handeln erfordern sollte. Der Ausnahmezustand, der ohnehin schon seit Jahren hätte bestehen sollen, wurde plötzlich auch offiziell ausgerufen, und es passierte: nichts, denn die Krise wurde zum Normalfall, geriet vor anderen Krisen schnell in den Hintergrund, wurde von noch wichtigeren Krisen aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt, und nur ganz selten brüllte es aus dem Fernseher, aus den Schlagzeilen, aus irgendeinem populistischen Maul, dass wir alle ins Verderben gehen, wenn wir Gendersternchen oder veganen Aufschnitt als Normalität hinnehmen, statt mit Fackeln und Mistgabeln gegen Flüchtlinge zu demonstrieren, die vor irgendeinem Krieg in ein Land fliehen, dessen intellektueller Bodensatz sich gegen veganen Aufschnitt oder Gendersternchen zur Wehr setzen will, weil es nicht deutsch ist.

Je öfter wir diesem Getöse ausgesetzt sind, das nur für einen Augenblick schweigen muss, um seine ganze Hässlichkeit zu zeigen, kurz: je mehr an Jahresrückblicken wir über uns ergehen lassen, desto mehr reift doch der Wunsch, alles einmal mit kalter Sorgfalt aufzunotieren, ein Jahr lang, was die vorsätzlich an jeglicher Moral vorbei Handelnden auf sich laden, damit dann beispielsweise Knecht Ruprecht oder irgendein anderer Vollstrecker, der ansonsten von der Recht-und-Gesetz-Fraktion so geschätzt wird, ihnen die Rute durchs Gesicht fegt. Wahrscheinlich ist dann das Geschrei um so größer, weil sie mit Vergebung gerechnet hatten, obwohl sie selbst Barmherzigkeit kaum buchstabieren können. Sie haben so hübsch und behaglich alles in Brand gesetzt, um ihre Hände daran zu wärmen. Leider ist es die Welt, die gerade im Flammen steht.

Wir können es nicht mehr einordnen, denn uns fehlt die Richtschnur – Angst ist an die Stelle der rationalen Überlegung getreten, und wo Vernunft noch als moralischer Kompass gilt, etwa bei den Überlebenden der letzten Katastrophe in diesem Land oder einer Generation, die vor dem nächsten, dem endgültigen Kollaps unserer Zivilisation warnt, wird die Besonnenheit verhöhnt und als Gegnerin der Sachzwänge unter Strafe gestellt. Natürlich ist der Krieg nicht schön, salbadert der Realpolitiker, aber sind die Bombenbauer nicht auch Menschen, die ein Obdach brauchen, Brot, einen Sportwagen und Steuersenkungen, weil sie sonst ihre Bomben in einem anderen Land bauen würden? Frieden ist erstrebenswert, aber er darf einfach nicht den Markt stören. Das darf nicht einmal die Demokratie, und die darf doch sonst alles, vor allem auf dem Papier.

Nein, Frieden auf Erden gibt es gerade nicht. Wir müssen uns mit den Kriegstreibern arrangieren, da sie Krieg führen, also im Besitz von Bomben sind, die sie auch auf unser Land schmeißen, wenn wir uns nicht heraushalten aus den Kriegen anderer Leute. Wir lassen uns bedrohen, erpressen, zahlen jeden Preis für ein bisschen Frieden, auch wenn es den Kriegstreibern ein paar Bomben mehr in die Hand gibt, die sie auf unser Land schmeißen, wenn wir uns nicht mehr bedrohen lassen wollen. Wir haben keine Angst, denn wir ignorieren sie, wie wir jede Wirklichkeit ausblenden, die wir selbst durch unsere Dummheit, unsere Gier, unseren Mangel an Anstand geschaffen haben. Und natürlich finden wir dafür keine Lösung, weil wir die gar nicht erst suchen, sondern stets die Schuldigen; nach alter Tradition wird jegliche Kritik an den Verhältnissen als Nestbeschmutzung denunziert, als seien es die Kritiker, die unsere Gesellschaft entzweien und sozialen Unfrieden verursachen wollten. Es bleibt die Angst, nur sie gewährt noch einen vernünftigen Blick auf die Zukunft.

Gleichzeitig erleben wir eine nie da gewesene Verrohung der Gesellschaft, die ihren Ausgang und ihre Widerspiegelung nicht zuletzt in der Politik hat – die Gier einer herrschenden Klasse, die sich den Staat zur Beute macht und ihn ausplündert, solange es noch möglich ist, trifft auf die Untätigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den drängendsten Problemen der Menschheit, deren Überleben auf dem Spiel steht. Für die reichen Länder des globalen Nordens sieht es noch aus wie eine etwas unangenehme Wetteränderung, der man durch Freibadbesuche vielleicht wird entgehen können, aber nicht nur die Migration, die seit Jahrzehnten wie vorhergesagt zur Belastung der internationalen Beziehungen wird, bewaffnete Konflikte um Ressourcen und schließlich die Einschränkung der Lebensmittelproduktion werden alle treffen, auch die arroganten Industriestaaten, in denen sich eine wohlhabende Oberschicht auf Klimaanlagen in den Luxusbehausungen verlässt. Diese Arroganz der Macht, die aus Egoismus, Empathielosigkeit und Selbstgerechtigkeit besteht, wird nicht lange halten, denn der Gegner ist übermächtig.

Um so erstaunlicher ist es, dass der Populismus, der nicht vor offensichtlichen Lügen zurückschreckt und den Bürger behandelt wie Vieh , Erfolge feiert. Jahrzehntelang haben wir neben dem sozialen auch den intellektuellen Niedergang dieser Gesellschaft beobachtet, der uns nun auf die Füße fällt. Es ist kein Zufall, dass das Märchen vom Aufstieg von den Abgehängten beständiger geglaubt wurde als von der immer weiter abrutschenden Mittelschicht, die als geistig noch nicht ganz lahmgelegtes Milieu die Spaltung bemerkt, aber nicht mehr sieht, dass sie selbst ein Werkzeug dieser Entfremdung ist. Der lügende Politiker ist ein anerkannter Spieler in diesem Diskurs geworden, der über mediale Kanäle die Öffentlichkeit täuscht und manipuliert, für seine Vorteile benutzt, betrügt, bescheißt und ruiniert. Das neoliberale Modell des Parasiten, der seinen Wirt schädigt, aber nie töten würde, ist also auf der Zielgerade angekommen.

Es ist Reklame für ein Gesellschaftsmodell, das das Recht des Stärkeren als Grundlage hat – nur wird eben nicht jeder, der dieser Entartung zum Sieg verhilft, weil man ihm einreden kann, zu den Stärkeren zu gehören, dann auch davon profitieren. Den Kapitalismus gibt es nicht ohne Faschismus, die letzte und logische Konsequenz eines freien und ethisch nicht mehr gehemmten Kapitalflusses, und noch nie hat der Kapitalismus in seiner Konsequenz auf die Schwächeren Rücksicht genommen. Er hat sie instrumentalisiert, und er hat ihren eingeredet, dies sei für Volk, Vaterland und ähnlichen Humbug auch notwendig. Es gibt lokale Ausnahmen, aber sie sind rar, und nicht jeder hat da Glück, in einer Umgebung zu leben, die sich aus Vernunft für eine lebenswerte Zukunft entschieden hat. Der Rest beugt sich der Notwendigkeit, für billige fossile Energie künftige Generationen in den Untergang zu schicken. Bis dahin spielen wir noch ein bisschen Krieg, sehen uns selbst beim Verdummen zu oder bemerken es nicht mehr.

Es sei denn, es kommt alles anders. Die Dauerkrise führt zu einer starken Ermüdung in der Gesellschaft, die zusehends auf dem Zahnfleisch geht wegen der anhaltenden Unwilligkeit der Politik, die Interessen der Menschheit aktiv und solidarisch zu vertreten. Darin liegt revolutionäres Potenzial. Viele Umstürze, von der Französischen Revolution bis zur Befreiung der Ostblockstaaten, resultierten auf der Unzufriedenheit der Menschen, sich mit einem ungerechten System abzufinden, das existenzielle Bedürfnisse missachtet. Auch in den Militärdiktaturen haben die Bürger nicht das Risiko gescheut, sich ihre Rechte zu erkämpfen und eine Demokratie einzufordern, die diesen Namen auch verdient.

Solange es ausreichend Brot und Spiele gibt, wird ein Großteil der Menschen in den westlichen Industrieländern stillhalten. Einige andere wird man mittelfristig zu Terroristen erklären, weil die den Betriebsablauf stören. Der Wohlstand wird langsam schwinden, dann nicht mehr ganz so langsam, und endlich wird eine Reihe von Naturkatastrophen die Welt aus dem Dämmerschlaf reißen. Aber vielleicht sind wir bis dahin auch längst bankrott, weil wir die tatsächlichen Kosten unserer Verschwendung nicht mehr bezahlen können. Wobei wir wieder bei der Französischen Revolution wären und beim Adel, der sich die Sache selbst eingehandelt hatte.

Aber wir wollen nicht den Kopf verlieren. Es gibt aus der Familie und im Freundeskreis durchaus Neues zu berichten, und Gutes dazu. Ich neige hin und wieder dazu, den Eskapaden des pensionierten Finanzbeamten Horst Breschke mit einer Mischung aus Humor und Entsetzen zu begegnen, es schauert mich bisweilen vor der enormen Kaltschnäuzigkeit des TV-Produzenten Siebels, und ich verfolge mit großem Interesse und ebensolcher Ahnungslosigkeit die Karriere meines Großneffen, der sich langsam in einen zerstreuten Professor verwandeln würde, gäbe es nicht jemanden, der ihn davon abhielte. Wir werden uns nach altem Brauch im Landgasthof vor den Toren der Stadt wiedersehen, soweit es die Zeit und die Gesundheit zulassen.

Unser Fürst Bückler hat jüngst für ein mittleres Erdbeben auf der kulinarischen, was sage ich da: auf der kulturellen Landkarte unserer Region gesorgt. Hatte Meisterkoch Bruno Bückler, dessen aufgezwirbelte Schnurrbartspitzen ihm den Ruf eines launischen, aber exzellenten Künstlers am Herd eingebracht haben, mit Klassikern wie Schwarzsauer, Salzwiesenlamm oder Grünkohl auf höchstem Niveau die Gäste begeistert, so wurde ihm ein Bio-Schnitzel zum Verhängnis. Dank einer Fleischvergiftung lag er zwei Wochen in der Klinik. Was der unangemeldete Besuch auf dem Hof des Tierzüchters zutage förderte, interessierte manche Behörde, vor allem aber löste es einen Wutanfall aus. Gemeinsam mit Hansi, dem Servicechef, und dem kaufmännischen Mentor Petermann, der als Entremetier das Restaurant seit den ersten Tagen kannte, fällten sie den Beschluss, fortan auf Fleisch zu verzichten. Ein bisschen Schwund im Personal ließ sich nicht vermeiden, und nach einer kurzen, nicht ganz schmerzfreien Beratung entschloss sich das Trio, im kommenden Jahr nur noch Veganes zu servieren. Das muss man sich erst mal trauen. Sie haben seither nicht nur viel Staub aufgewirbelt, sondern auch die Kritiker überzeugt – auch wenn hier viel Selbstverliebtheit im Spiel ist. Werden wir ab sofort Drei-Sterne-Tofu auf dem Teller haben? Dinkelnüdelchen an biodynamisch ausgependelten Tomätchen, von der Bezugsperson handgehäutet? Nichts davon. Petermann gab zu erkennen, dass er schon seit Jahren damit geliebäugelt hatte. Eine wilde Diskussion fand statt, und zwei Tage später ward der Beschluss gefasst. Wir sind gespannt.

Natürlich werden auch dieses Jahr der 1995-er Wupperburger Brüllaffe und das 1993-er Gurbesheimer Knarrtreppchen nicht gefehlt haben. Was die Qualitätskontrolle angeht, ist Hansi über jeden Zweifel erhaben, sobald der Korken aus der Flasche kommt – lagerfähige Weine sind seine Spezialität, und dass das Knarrtreppchen dieses feine Spiel aus Säure und Beerenaromen seit Jahren wahrt, grenzt an ein Wunder.

Hatte sich Anne nicht entschlossen, ihre auf zwei Etagen verteilte Schuhsammlung durch einen Kater zu ersetzen, der ihre Gewohnheiten gründlich auf den Kopf stellen sollte? Die Juristin ist seither viel häuslicher geworden, und nachdem sich ihre Schockanrufe nicht mehr häufen, dass das Tier in bizarren Schlafpositionen auf der Couchgarnitur liegt, verbringt sie ihre Abende auch öfter mit dem murrenden Charlie (es war nicht meine Idee) in der Nähe. Ihr Blutdruck sinkt zusehends. Auch ihre Neigung, Salate mit einem Stück Vollkornbrot durch eine Tüte Kichererbsenchips zu ergänzen (die aus Kichererbsen bestehen und ansonsten aus derselben Menge an billigem Industriefett), teilt sie mir häufiger mit. Zuletzt war sie einverstanden, nach einer angeregten Diskussion um §138 BGB und seine Anwendbarkeit auf Maskengeschäfte den Kater noch bis auf Weiteres auf ihren Beinen schlafen zu lassen – alles andere hätte ihr sicher missbilligende Blicke eingebracht. Hin und wieder darf sie ihn allerdings auch allein lassen, was das Eingreifen eines routinierten Dieners erforderlich macht; ich spreche hier von mir selbst, der sie bei Fachkongressen oder während eines mehrtägigen Ausfluges mit der Kanzlei vertritt, nach einer ausgeklügelten Reihenfolge Futtersorten serviert und inzwischen sogar für würdig befunden wird, dass sie mir beim Betreten der Wohnung um die Knöchel streicht. Er scheint mich zu akzeptieren, auch wenn ich natürlich ein fürchterlich plumpes, unelegantes Wesen mit zu wenigen Pfoten bin, das ohne fremde Hilfe sicher keine Maus finge. So hat eben jedes Geschöpf seine kleinen Schwächen.

Sofia Asgatowna, die seinerzeit in unseren Kreis kam als Annes Zugehfrau und an deren Talent zu geschmackvollen Dekorationen nicht zuletzt die Bücklers von Anfang an geglaubt hatten, wird sich im kommenden Jahr einen Traum verwirklichen. Minnichkeit, inzwischen verehelicht mit Luzie Freese, hatte als großer Freund des Musiktheaters zufällig die Leiterin des Opernstudios an der örtlichen Hochschule für Musik und Darstellende Künste kennengelernt, die für eine studentische Produktion unbedingt ein Bühnenbild benötigt. Das Stück ist denkbar anspruchsvoll, sie führen Vivaldis Juditha triumphans auf, eigentlich ein Oratorium, aber das Werk des Venezianers eignet sich gut für eine szenische Gestaltung. Es wird ein opulenter, großartiger Abend.

Luzie Freese, Annes Büroleiterin, die nicht aus Zufall mit luziefr zeichnet, schaut mit Humor den Heimwerkerkünsten ihres Gatten zu. Der Finanzbuchhalter hatte erst das Erdgeschoss vollständig mit Holz vertäfeln wollen, was aber angesichts der Kosten schnell fallengelassen wurde. Er restauriert nun Biedermeierfunde, und wir sind gespannt, wann er sich dafür einen Verkaufsraum mieten wird, um die Opernleidenschaft, das heißt die kostspieligen Reisen nach Verona und Mailand zu finanzieren. Oder sie einigen sich auf Mahagoni im Obergeschoss.

Horst Breschke wir nicht nur mit seiner Gattin, sondern in diesem Jahr auch mit seiner Tochter kommen. Sie nimmt sich ein paar Wochen Auszeit, nachdem sie fast neun Monate in den Anden und am Amazonas unterwegs war. Wahrscheinlich wird sie neben etlichen Fotostrecken auch wieder das eine oder andere Naturpräparat gegen Zipperlein im Gepäck haben, das die Beschenkten möglichst schnell entsorgen – alle wissen es, vermutlich weiß sie es selbst auch. Solange sie kein getrocknetes Ungeziefer als Suppeneinlage mitbringt, ist alles in Ordnung. Der pensionierte Finanzbeamte wird also am Festtag vormittags vor der Tür halten und hupen, auf eine schnelle Tasse Tee heraufkommen und dann mit Bismarck, dem dümmsten Dackel im weiten Umkreis, auf dem Rücksitz den Landgasthof ansteuern.

Doktor Klengel fällt das Gehen schwer, doch er lässt es sich nicht nehmen, mit seiner Schwester Berta in die Stätte seines ehemaligen Wirkens zurückzukehren. Das Herrenhaus des verstorbenen Gottfried Heinrich Reichsgraf Rummelsdorf zu Knobelheim bietet ihnen lebenslanges Wohnrecht, und der Hausarzt hat neben dem Fotografieren, das die Anstrengungen des Aquarellierens vermeidet, gerade seine dritte Ausstellung mit Stichen aus dem Spätbarock eröffnet. Die Kunstschätze des wuchtig im Moor gelegenen norddeutschen Hauses harren noch ihrer Katalogisierung, und der Alte lässt sich seine Zeit.

Und noch ein Familienstand hat sich geändert. Mein Großneffe Kester, ordentlicher Professor für theoretische Physik und deshalb für Talkshows denkbar ungeeignet, weil er weiß, worüber er redet, hat Knall auf Fall geheiratet. Seine Frau ist eine Kollegin, und sie werden sich sicher ausgiebig über Schleifenquantengravitation und Supersymmetrie unterhalten, da zwischen ihnen eine fundamentale Wechselwirkung herrscht. Hauptsächlich aber ist es das perfekte Chaos und bietet großartiges Comedy-Potenzial, und ich muss mich tatsächlich zwingen, nichts davon auszuplaudern.

Die Habilitationsschrift über die Galoistheorie, vornehmlich über endliche Wurzelausdrücke und ihre Bewertung der Lösbarkeit, liegt vor. Mein Patenkind Maja ist damit die zweite Professorin in der Familie – was man in diesen geistigen Sphären erlebt, wüsste ich zu gerne, denn was Polynome fünften Grades fern der Wirklichkeit treiben, muss doch recht interessant sein. Andererseits ist es wohl manchmal ein bisschen unheimlich, wenn man über Dinge nachdenkt, von denen man nicht genau weiß, ob es sie theoretisch geben könnte. Da bleibe ich dann wohl lieber bei den profanen Angelegenheiten.

Vor einigen Tagen hatte sich auch Siebels mit dem obligaten Weihnachtspräsent bei mir offiziell abgemeldet – ich habe ihm tatsächlich schweren Herzens eine Art Automatenkaffee zubereitet, den er immerhin aus einer Porzellantasse zu sich nahm – und hatte in seiner Eigenschaft als graue Eminenz des deutschen Fernsehens doch wieder eine Serie mit C-Besetzung angenommen, die irgendwo unter Palmen spielte, auch diesmal wieder in einer Klinik und nach altbewährten Strickmustern, billig und lieblos geschrieben, aber selbstverständlich mit sehr schönen Bildern von Traumständen in einer miesen Kleptokratie, in der man sich mit freien Wahlen und einer funktionsfähigen Infrastruktur nicht aufhielt, kurz: ein Urlaubsparadies für Touristen, denen alles völlig wumpe ist, was sich außerhalb ihres Hotels abspielt. Er hasst das Fernsehen, aber er lebt nun einmal mit dem Fluch, einer der besten Produzenten zu sein, die diese Branche hierzulande je hatte. Im vorigen Jahr hatte Siebels eine halbherzige Flucht angetäuscht, aber sein Suchtverhalten hat gesiegt. Er wird sich wohl weiterhin den Müll auf unseren Bildschirmen ausdenken und dafür sorgen, dass wir ihm nicht entkommen.

Schließlich möchte ich dem langjährigen Freund und Kollegen Gernulf Olzheimer danken, der mir nach wie vor die Treue hält, für jeden Freitag einen seiner bald heiteren, bald beißenden Kommentare zu liefern, die ich unbesehen veröffentlichen kann, da sie den höchsten Ansprüchen an Wahrhaftigkeit und Idealismus genügen. Wer wie er gegen die Geißeln der Menschheit zu Felde zieht, Dummheit, Einfalt und ideologische Verblendung, braucht gute Waffen, und er weiß sie zu führen. Ich kann mich auf seine Urteilskraft und seine hohe Produktivität verlassen, und so wird er auch weiterhin mit seinem Einspruch an meiner Seite bleiben.

Und so wird es nun zwischen den Jahren wieder den Kehraus geben. Schreibtisch und Schubladen, Mappen, Zettel und Briefumschläge, alles wird geleert, säuberlich ausgewischt und von den Spuren des Unfertigen befreit, von unlustigen Skizzen und Gekritzel, den misslungenen Reimen und länglich erscheinenden Dialogen, der vergeblichen Mühe an Pointen und Sinn, die nun nach alter Tradition im Kristallascher in Rauch aufgehen werden, der hier unter der Dachschräge im Arbeitszimmer hinaus in die kalte Dezemberluft zieht, Erlebtes mitnimmt, Gewesenes, Altes, das wir nicht vergessen, aber an das wir auch nicht mehr jedes Jahr denken müssen, denn es gibt so viel anderes, das kommt. Und dann wird das Archivieren stattfinden, in dem ich alles sortiere und durcharbeite, analysiere und ergründe, was ich wann wie geschrieben haben mag, damit ich von mir selbst lerne und, so dies möglich ist, hier und da noch ein wenig besser werde. Es ist die Motivation, ein weiteres Jahr in diesem kleinen literarischen Salon auszuhalten und gegen alle die Katastrophen da draußen anzuschreiben, in der leisen und stetigen Hoffnung, sie aufzuhalten. Es beginnt wieder am Donnerstag, den 4. Januar 2024.

Allen Leserinnen und Lesern, die dies Blog fast oder fast ganz immer und regelmäßiger als unregelmäßig oder doch nur manchmal oder aus Versehen gelesen, kommentiert oder weiterempfohlen haben, danke ich für ihre Treue und Aufmerksamkeit und wünsche, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee


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7 responses

20 12 2023
Fred Lang

Ztat: „Es ist die Motivation, ein weiteres Jahr in diesem kleinen literarischen Salon auszuhalten und gegen alle die Katastrophen da draußen anzuschreiben, in der leisen und stetigen Hoffnung, sie aufzuhalten.“

Vielen Dank für die ausgezeichnete Analyse der aktuellen Situation – nicht nur in Deutschland.
Im Übrigen hoffe ich sehr, dass dieser „kleine historische Salon“ noch lange existiert. Viel Erfolg weiterhin!

20 12 2023
bee

Merci, ich werde nicht nachlassen, meine Beobachtungen zu teilen 🙂

21 12 2023
Siewurdengelesen

Diese Texte in einer Nische des Internets lassen hoffen, dass doch noch nicht alles verloren ist.

Unter einer gerne etwas klamaukhaften Oberfläche finden sich immer wieder Perlen mit Tiefgang, der anderswo längst verloren gegangen ist im anscheinend einzig wichtigen System von hoher Schlagzahl, Puschen und Triggern der „Konsumenten“ durch die Medien.

Auch das Lesen dieses Jahresrückblicks ist Balsam für Geist und Seele – danke dafür!

21 12 2023
bee

Es ist mir bei aller Mühe und Notwendigkeit immer wieder ein Vergnügen, und es freut mich, wenn meine kleinen Arbeiten zum Denken und Lachen führen – letzteres fällt mir selbst nicht immer leicht, und dann bin ich froh, dass ich aus therapeutischen Gründen schreiben kann, um nicht zu platzen.

In unsicheren Zeiten kann Humor eine Befreiung sein. Man leidet ja ohne ihn an seinem eigenen Idealismus, wenn der ständig enttäuscht wird, und läuft ernsthaft Gefahr, allmählich zu verbittern oder, noch schlimmer: moralisch zu werden. Wenn ich gleichzeitig meine Leser davor bewahren kann, umso besser.

Ich wünsche uns allen ein paar Tage Ruhe und stilles Beobachten. Die Zukunft kommt früh genug 😉

21 12 2023
Fred Lang

„Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt.“ J. Ringelnatz

21 12 2023
bee

Ja, das trifft’s doch perfekt 🙂

30 12 2023
Die letzte Umleitung vor 2024 – zoom

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