Das Lukaschewski-Phänomen

26 06 2024

Kester klappte die Motorhaube zu. „Und jetzt starten Sie noch mal.“ Herr Breschke drückte den Knopf, und prompt sprang der Wagen an, sehr zur Freude des alten Herrn. „Wunderbar“, jubelte er, „an Ihnen ist aber ein Fachmann verloren gegangen – damit hätten Sie bestimmt Karriere gemacht!“

Damit hatte ich mich für eine Gefälligkeit seiner Gattin bedankt, mein Großneffe sich für eine bei mir, denn er hatte gerade für sich und seine Frau ein Ferienhäuschen an der See gesucht, das wiederum Anne mir kurzfristig vermitteln konnte, um sich für eine Behilflichkeit meinerseits zu bedanken; so blieb alles in der Familie. „Sie bleiben doch sicher noch auf eine Tasse Tee“, fragte der pensionierte Finanzbeamte, und in Erwartung des bereits in der Küche wartenden Birnenkuchens konnten wir nicht ablehnen. Und so machten wir uns auf den Weg, als es plötzlich vor der Einfahrt knirschte.

Schon ohne sich umzudrehen konnte man dieses Geräusch als Ergebnis einer Kollision von Felge und Kantstein erkennen, herrührend aus sorgloser, da mangelhafter Bedienung des Kraftfahrzeugs. Das Gefährt, ein billiger, dafür aber mit allerhand optischem Zierrat aufgehübschter Sportwagen für den Normalfahrer, stand passgenau vor der Einfahrt und versperrte diese in voller Breite. „Nicht schon wieder“, seufzte Horst Breschke. „Bitte nicht schon wieder!“ Der junge Mann, der aus dem Flitzer stieg, passte auch bestens dazu: ein sorgfältig frisierter, dümmlich in die Gegend grinsender Depp, der sich für diese verkehrstechnische Meisterleistung nach Beifall umsah. Breschke ballte ohnmächtig die Fäuste, sagte aber nichts.

„Der Enkel von Gabelstein“, flüsterte er. Der langjährige Lieblingsfeind, der sein Laub zu beiden Seiten über den Gartenzaun schaufelte, mit dem Luftgewehr Spatzen auf fremden Grundstücken beschoss oder bei klirrendem Frost Wasser auf den Gehsteig goss, war nach einer durchzechten Nacht die Treppe heruntergefallen und hatte sich dabei fast das Genick gebrochen. Zwar konnten die Nachbarn nicht sein Ableben feiern, wie sie es sich unter der Hand versprochen hatten, aber der alte Miesepeter war umgezogen, vermutlich in eine Residenz für bösartige Irre. Neuer Hausherr war der Enkel, der öfter schon auf diese Art die Karre vor Breschkes Einfahrt geparkt hatte. „Warum haben Sie denn nie die Polizei gerufen?“ Der Alte wiegte verzweifelt den Kopf. „Man will es sich ja nicht mit neuen Nachbarn verderben, und am Ende lachen alle, und dann bin ich schuld, und dann…“ „Ach was“, schnitt ich ihm das Wort ab, „damit ist jetzt mal Schluss.“

„Schönes Auto haben Sie da“, sagte ich betont lässig. Das Gabelsteinchen schrak hoch; er hatte ein bisschen an den Türgriffen poliert und uns nicht auf dem Kiesweg herankommen hören. „Sind Sie von der Polente?“ Wir blickten einander an. „Die Frage ist nicht uninteressant“, bemerkte Kester. „Aber wir würden uns eher für das da interessieren.“ Und er blickte auf den Heckspoiler, der den Pseudoporsche seiner ganzen Lächerlichkeit preisgab. „Meinen Sie nicht, dass das etwas gefährlich ist für so einen Wagen.“ Er war verwirrt; es konnte losgehen.

„Ich mag mich täuschen“, mutmaßte ich, „aber der Winkel lässt doch darauf schließen, dass sich die Abrisskante für die geringe Geschwindigkeit, die Ihr Dings da fährt, gar nicht eignet, oder?“ Kester nickte. „Ja, sehr gefährlich, vor allem unter 200 – sicher wäre das erst ab 450 km/h, aber wer fährt das schon.“ Der Herrenfahrer guckte erst sehr verdutzt, dann rötete sich sein Gesicht. „Ihr wollt mich wohl verarschen!?“ „Nicht doch“, entgegnete ich, „wir sind ja nur um Ihre Sicherheit besorgt.“ „Die Turbulenzen sind bei dem Anstellwinkel schon sehr beträchtlich“, ergänzte Kester. „Nehmen wir mal die Kelvin-Helmholtz-Instabilität, die erscheint ja bereits bei kleinsten Unterschieden im Druck von unterschiedlichen…“ „Ich kenne keinen Kevin“, patzte er zurück, „und ich fahre öfter 200 als Ihr!“ Womit er sich wieder den Türgriffen widmete. „Ein klassisches Lukaschewski-Phänomen“, schloss ich. Kester stöhnte auf.

Mein Großneffe ist übrigens seit einigen Jahren ordentlicher Professor für theoretische Physik, hat die Wellenfunktion der Baryonen noch nicht ganz erklärt und beschäftigt sich sonst hauptberuflich mit Schleifenquantengravitation. „Was brockst Du mir hier ein“, zischte er. „Ich hatte eine verdammte 2+ in Strömungslehre, weil ich am Tag vor der Klausur mit Linda im Kino war!“ „Vertrau mir“, zischte ich zurück. „Ich weiß, was ich tue.“

„Das auf der A8 am Kreuz Augsburg-West, das war ein typisches Lukaschewski-Phänomen.“ Er hob den Kopf wieder, als wäre seine Blechkiste ein Puppentheater und er das Kasperle. „Wir haben da eine nichtlineare Diffusion, die die Masse bei zu geringer Geschwindigkeit in die Gegenrichtung drückt.“ „Heißt ja auch Luftdruck“, ergänzte Kester. „Und erst ab etwa 45 Grad wird die Verstrudelung im Pronti-Quantenwinkel neutralisiert.“ „Weil sonst die Dissipation die Masse nach oben drückt.“ „Heißt ja auch Luftdruck.“ „Also müsste man nur den Anstellwinkel ändern.“ „Egal, ist ja nicht mein Auto.“ „Schönen Tag noch.“ „Und leben Sie wohl.“

Sorgfältig hob Herr Breschke große Stücke vom Birnenkuchen auf die Teller, ließ sich in den Sessel fallen und wollte schon zur Teekanne greifen, als es draußen krachte, gefolgt von manischem Hämmern und enthemmtem Wutgeschrei. Kester grinste. „Ich glaube, ich habe heute auch etwas gelernt.“ Herr Breschke blickte ihn fragend an. „Wenn man nicht schnell genug ist, riskiert man todsicher ein Lukaschewski-Phänomen.“