05:55 – Leise zieht Enno T. (45) die Tür des gelb gestrichenen Bungalows hinter sich ins Schloss und schreitet vorsichtig über den knirschenden Kies der Garagenauffahrt, um die schlafenden Nachbarn nicht zu wecken. Der Fertigungstechniker öffnet die Tür seines Mittelklassewagens, setzt sich hinters Steuer und versucht, den Motor zu starten. Nach gut vier Minuten vergeblichem Georgel gibt er es auf.
06:02 – Im Schatten der Dunkelheit robbt Jens K. (23) unterhalb der Gartenzäune von Grundstück zu Grundstück. Dabei balanciert er einen gerade halb gefüllten Schlauch aus Kunststoff auf dem Rücken, an dessen Oberseite sich ein Ventil befindet. Keiner hat ihn bisher in der Morgenfrühe bemerkt.
06:08 – T. war es gelungen, so gut wie lautlos die Kofferraumklappe seines Wagens zu erreichen, wo er einen Kanister mit Superbenzin vermutete. Zwar wusste er schon am Vorabend, dass der Tankinhalt nicht mehr für Arbeitsweg ausreichen würde, er war aber zuversichtlich, dass er die Strecke bis zur nächstgelegenen Zapfsäule schaffen könne. Dies hatte sich nun als falsch herausgestellt.
06:16 – Lara M. (31) verlässt das Haus zeitgleich mit ihrem Lebensgefährten Tobias J. (31). Die zahnmedizinische Fachangestellte und der Erzieher schließen ihre Fahrradschlösser auf, nehmen auf ihren Drahteseln Platz und gleiten so gut wie lautlos den Nachtigallenweg in südlicher Richtung entlang bis zur Kreuzung Kiebitzredder. Nur ein schwacher Lichtschein huscht an K. vorbei, der gerade unter das Fahrgestell eines SUVs kriecht.
06:22 – Personenschützer Goran B. (37) tritt vor die Tür. Nach einigen Aufwärmübungen joggt er auf den Gehweg, um seine kleine Morgenrunde von der Ecke Amselschlag über den Lerchenstieg bis an den Stadtrand zu laufen. Alles scheint wie immer.
06:25 – Mit Hilfe eines Schraubendrehers und einer Messerklinge macht K. sich daran, den Tankdeckel des Straßenpanzers zu öffnen. Erst misslingt der Versuch, da die Abdeckung durch ein Schloss gegen unbefugten Zugriff gesichert ist, dann bricht die Klinge im Spalt zwischen Deckel und Karosserie ab. K. gerät in Panik. Schließlich rutscht er mit dem verbliebenen Werkzeug beim Versuch, Fragmente des Messers zu entfernen, horizontal ab und fügt dem schwarzen Mattlack auf dem amerikanischen Fahrzeug eine erhebliche Schramme zu. K. lässt sich im letzten Moment unter den Wagen gleiten.
06:37 – Die Hoffnung trog. T. kann zwar unter einer verschmutzten Plastikplane und mehreren Bierflaschen den Vorratsbehälter ausfindig machen, muss jedoch feststellen, dass dieser leer ist. Ein an der Unterseite befindliches Loch steht im Verdacht, am Zustandekommen dieses Sachverhalts beteiligt gewesen zu sein. Mit einem heftigen Schwung schlägt T. den Kunststoffkanister an die Unterkante des Kofferraums.
06:55 – Als Ludger N. (55) sein E-Auto aus der Garage rollt, fallen ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei Sattelzugmaschinen auf, die direkt hintereinander parken. Eines der Fahrzeuge kann der Pädagoge dem Berufskraftfahrer Nico F. (58) zuordnen, das andere ist ihm nicht bekannt.
07:10 – Die Luft ist rein. K. kann sich kriechend aus der Zwangslage befreien, schreckt jedoch im blendenden Lichtkegel eines durchfahrenden Autos zusammen. Beim Versuch, möglichst schnell wieder in Deckung zu gehen, stößt er sich empfindlich am Außenspiegel des Großraumgefährts, der sich auch erwartungsgemäß unter leichter Schallentwicklung vom vorderen Kotflügel löst.
07:16 – In der Zwischenzeit war T. nicht untätig. Er vermutet einen zweiten Kanister in der Garage, die er nun hektisch durchwühlt. Das Kipptor steht einen Spalt breit offen, so dass Rentnerin Christa E. (79) bei der Morgenrunde mit Zwergpinscherdame Lilo vom Versuch eines Einbruchdiebstahls ausgehen muss. Überhastet läuft sie nach Hause in den unteren Rotkehlchenbogen, um telefonisch eine Polizeistreife anzufordern.
07:27 – Verstohlen klingelt Mirko Z. (57) an F.s Haustür. Der langjährige Truckerkollege aus der Spedition Rotzhorst & Co. schlüpft ins Haus. Dann ist nichts mehr zu sehen.
07:38 – T. hat endlich einen kleinen Rest Sprit im Regal des Autoraums ausfindig machen können. Er füllt die gut anderthalb Liter in den Tank ein, doch das Ergebnis ist nicht befriedigend. Der Wagen springt zweimal kurzfristig an, bevor der Motor beim Lösen der Kupplung jäh absackt. T. schlägt wutentbrannt die Fäuste aufs Lenkrad.
07:45 – Endlich trifft auch die Polizeistreife im Nachtigallenweg ein. Polizeiwachtmeister Jens K. (44) und Polizeihauptmeisterin Sandra O. (26) nehmen den Tatort sehr genau in Augenschein, bis sie bemerken, dass es hier keinen Tatort gibt, da sich T. anhand seiner Dokumente als Bewohner des Anwesens ausweisen kann. Die beide Beamten wünschen ihm noch einen erfolgreichen Start in den Tag und treten den Rückzug zur Wache an.
08:04 – Die Tour hatte ein bisschen länger gedauert. B. kommt verschwitzt an seinem Haus an. Als er sein Auto erblickt, hat er einen Wutausbruch. Die gut zwanzig Zentimeter lange Schramme in der Nähe des Tankdeckels veranlasst ihn zu dem laut geäußerten Versprechen, den Verursacher dieser mutwilligen Sachbeschädigung durch rohe Gewalt zeugungsunfähig zu machen. E., die an der Ecke Amselschlag gewartet hatte, um das Eintreffen der Ordnungshüter abzupassen, überlegt kurz, ob die drohende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eine weitere Meldung an die Polizei rechtfertigen würde.
08:06 – Unbemerkt kann sich K., der nach seiner leichten Kopfverletzung noch leicht benommen ist, aus dem Schatten des SUV auf der Beifahrerseite entfernen. Gebückt schlängelt er sich um das Auto, erreicht den Gehsteig und flieht vom Tatort. Aus Unachtsamkeit dreht er das Einlassventil seines Sammelschlauchs um wenige Millimeter auf, so dass tröpfchenweise Kraftstoff entweichen kann. Im Rückwärtsgehen stößt er heftig an einen Lichtmast, lässt den Benzinbehälter zu Boden gleiten und sucht das Weite.
08:15 – F. und Z. verlassen das Haus und besteigen beide ihre Sattelschlepper. Beim Ausparken gibt es einige kleine Schwierigkeiten, so dass außer einer enormen Geräuschentfaltung in den ersten Minuten nicht viel geschieht. F. gestikuliert heftig, da er die notwendigen drei Meter nicht zurücksetzen kann, die der Kleinwagen hinter ihm in Anspruch nimmt. Er gehört der Studentin Anja W. (22), die gerade ihre Eltern besucht. Z. steigt aus der Fahrerkabine und klingelt am Haus des Ärztepaars. Keiner öffnet.
08:26 – Kevin U. (29) biegt aus dem Meisenweg in die Straße ein. Der Paketbote hält vor dem Haus der Intensivpflegerin Greta K.-H. (43), die sich zur Zeit auf Doppelschicht im Städtischen Klinikum West befindet. Da die Rollläden am Haus zur Linken ebenfalls heruntergelassen sind und der Bewohner Heribert P. (86) sein Hörgerät aus Bequemlichkeit oft gar nicht erst benutzt, versucht er es auf der rechten Seite. DJ Fla$hBäm, bürgerlich Karlheinz V. (56), ist erst in den frühen Morgenstunden von der Schlagerparty im Tanzpalast Eldorado zurückgekehrt und deshalb nicht zu zielführenden Diskussionen mit dem Lieferanten bereit. Auch ein zweites und drittes Klingeln führt nicht zum gewünschten Erfolg: V. nimmt das Paket vom Versandhaus VeganoFit nicht an.
08:38 – B. hat den ganzen Keller nach geeigneten Instrumenten durchsucht. Schließlich fiel zwischen dem Neuner- und einem Brecheisen die Wahl auf letzteres Objekt, mit dem der muskulöse Mann in Rage das Haus verlässt.
08:43 – Z. kehrt unverrichteter Dinge zurück. Beim Anblick der beiden Zugmaschinen hat er endlich den rettenden Einfall. Er besteigt die Kabine und fährt knapp zehn Meter vorwärts, so dass F. nun ohne Gefahr einer Kollision ausparken und wenden kann.
08:54 – Inzwischen hat T. den Betrieb informiert, dass er wegen einer Autopanne nicht zur Arbeit erscheinen kann. Nach telefonischer Ankündigung einer schriftlichen Abmahnung für vorsätzliches oder zumindest grob fahrlässiges Fernbleiben vom Arbeitsplatz erleidet T. einen Weinkrampf. Er kauert sich auf den Boden vor sein immer noch nicht fahrbereites Auto und ergibt sich in das nicht mehr zu Vermeidende.
09:12 – Nach einer geradezu filmreifen Szene, in der U. der schräg gegenüber wohnenden Kerstin A. (44) erklärt, er müsse alle nicht ausgelieferten Sendungen wieder in die Zentrale fahren und dort persönlich für die jeweiligen Waren bezahlen, so dass er bereits jetzt sein Gehalt für die nächsten zehn Jahre schuldig sei, nimmt die Heilpraktikerin mit Schwerpunkt Karmische Chakren-Homöopathie den Karton endlich an. U. tupft sich den Schweiß an und sinkt auf der Treppe zusammen, aber er ist vorerst gerettet. Nur noch vierzehn Stunden und knapp zweihundert Pakete.
09:20 – Unterdessen haben die beiden Trucker unter Benutzung ihrer unvorschriftsmäßig lauten Signalanlagen den Nachtigallenweg abgefahren und blockieren jetzt von der Kreuzung Kiebitzredder bis zur Ecke Amselschlag den gesamten Straßenzug mit quergestellten Fahrzeugen. Wie man an den Transparenten auf den Wagen sowie Botschaften, die sie über Außenlautsprecher verkünden, schnell erkennen kann, richtet sich ihr Protest gegen den ihrer Auffassung nach von Klimahysterikern inszenierten Preisanstieg bei Kraftstoffen. Mit laufendem Motor und Abgaswolken wollen sie ein Ende der Abzocke erzwingen.
09:22 – E. bringt ihre verängstigte Hündin in Sicherheit. Sofort, nachdem sie zu Hause angelangt ist, ruft sie erneut die Polizei an und gibt eine nicht hinnehmbare Lärmbelastung zu Protokoll. Da der diensthabende Beamte auf der Einsatzleitstelle sich wenig motiviert sieht, dem Treiben ein Ende zu setzen, erwähnt sie die Unzulässigkeit des Hupens gemäß §16 StVO, was als Ordnungswidrigkeit ein Bußgeld von jeweils zehn Euro nach sich ziehen würde. Als E. mit Dienstaufsichtsbeschwerde droht, gibt Ewald M. (63) nach und übermittelt den mit dem Ort vertrauten Polizisten den Einsatzbefehl.
09:36 – Nach längerem Verweilen in der Embryonalstellung fällt T.s Blick auf einen Beutel, der unterhalb der Hecke auf seinem Grundstück liegt. Der Geruch ist ihm geläufig. Elektrisiert springt er auf und untersucht den Plastikschlauch – das Ventil droht abzubrechen, da es sich um sehr minderwertigen Kunststoff handelt, andererseits ist das Gebinde mit gut zehn Litern Sprit gefüllt. Er beschließt, die kostbare Essenz langsam in den Tank zu gießen, um keinen Tropfen zu vergeuden.
09:45 – Er ist an zwei Seiten gefangen. U. begreift seine Situation. Nach menschlichem Ermessen wird er den Nachtigallenweg nicht so schnell verlassen, zumindest nicht in seinem Lieferwagen. In kalter Wut geht er zu Z., der gerade auf Stufe 10 Country aus dem Makrofon brüllen lässt. Als der König der Landstraße den fluchenden Paketfahrer bemerkt, öffnet er das Fenster und gießt ihm die verbleibende Hälfte einer Flasche Bier auf den Kopf.
09:48 – Unterdessen hat B. den Tatort genau unter die Lupe genommen, den Tathergang rekonstruiert und eine heiße Spur herausgearbeitet. Er folgt einer unscheinbaren Tropfspur, die charakteristisch nach Superbenzin riecht und von seinem SUV bis direkt an das Grundstück reicht, auf dem T. in meditativer Ruhe vor dem Tankdeckel seines Autos kniet, um den Beutel in seine Limousine zu entleeren. Mit einem gezielten Schwung hackt B. den Kufuß in die Frontscheibe, muss jedoch feststellen, dass das Verbundglas das Werkzeug nicht mehr freigibt. T. flieht in Panik ins Haus.
10:02 – Die aus Richtung Lerchenstieg kommende Besatzung des Streifenwagens wird jäh gestoppt, da der Sattelschlepper von F. die Fahrbahn auf voller Breite versperrt. Nach kurzer Beratschlagung sind die Beamten sich einig, den Sachverhalt nicht zu untersuchen. Da es sich offensichtlich um eine nicht angemeldete Kundgebung handelt, könne diese auch nicht einfach aufgelöst werden. Der Wagen fährt im Rückwärtsgang wieder über Drosselweg und Kuckucksredder in die Kastanienallee. Auch die Parkplätze in der Nordstadt brauchen das Auge des Gesetzes.
10:14 – U. hat die Nase voll. Als er B. entdeckt, der noch immer T.s Wagen mit Fußtritten traktiert, da er die Brechstange nicht aus der Windschutzscheibe herausziehen kann, hat er einen Einfall. Er steigt auf die Motorhaube und zieht das Werkzeug mit einem Schwung heraus wie Artus Excalibur aus dem Stein. Heftig das Eisen schwingend läuft er zu dem Kraftfahrer zurück.
10:19 – Ein drittes Mal verständigt E. die Leitstelle, doch M. reagiert äußerst ungehalten. Er gibt der alten Dame zu verstehen, dass Streitigkeiten unter Nachbarn, die wohl aus Lackschäden resultieren, erstens von der Versicherung aufgenommen werden und zweitens keinen Hubschraubereinsatz im betreffenden Straßenzug rechtfertigen, wenn das Gebiet derzeit wegen größerer Barrikaden für Einsatzfahrzeuge nicht erreichbar sei.
10:33 – Z. hat es sich inzwischen mit Schinkenbrot und Zigaretten in der Koje bequem gemacht. Noch läuft der Motor, da der Disponent für den folgenden Tag eine 450-Kilometer-Tour angekündigt und die Betankung beider Fahrzeuge angeordnete hatte. U. nähert sich dem tuckernden Zuggefährt und drischt ohne Rücksicht auf Verluste das Brecheisen in die Front des Sattelschleppers. Scheinwerfer splittern, das Glas spritzt, schließlich wird auch die Scheibe getroffen. Z. beugt sich aus dem Fenster und schreit wütend um sich, weil er gerne schlafen will.
10:38 – In Frotteemantel und Badeschlappen steht V. hinter dem gewaltbereiten Paketboten. Der Schallplattenunterhaltungskünstler will jetzt endlich mal schlafen und stört sich am Geräuschpegel, den U. beim Zertrümmern der Zugmaschine verursacht. Der Versandlogistiker verfehlt V. nur haarscharf, worauf sich dieser in heller Aufregung flieht. Er will sofort die Polizei rufen.
10:42 – Unbemerkt ist Z. aus dem Laster gestiegen und steht nun in martialischer Pose vor U. Der Schriftzug Keine Sprit-Abzocke – Nationaler Widerstand jetzt macht noch einmal sehr deutlich, worum es den beiden Aktivisten geht. In der Hand hält der Trucker eine täuschend echte Replik einer russischen Armeepistole, bei der es sich eigentlich um ein Gasfeuerzeug handelt. Voller Wut schleudert U. den schlaffen Plastikschlauch, der noch einen Rest Benzin enthält, weshalb er ihn auch mitgenommen hatte, gegen Z., der reflexartig den Abzug betätigt.
10:43 – Die mannshohe Stichflamme lässt Z. in Sekunden in Flammen aufgehen, der brennende Beutel dagegen wird direkt in die Fahrerkabine geschleudert und löst dort eine Verpuffung aus. In einer gewaltigen Detonation fliegt der Schlepper als Ansammlung kleinteiliger Reste in alle Richtungen. E., die an der Ecke Amselschlag das Geschehen verfolgt hat, erleidet spontan ein Knalltrauma. Z. hat keinen nennenswerte Behaarung mehr, die der Pflege bedürfte. U. wurde durch die Druckwelle in den Vorgarten der Ärzte befördert, wo er halb im Liguster hängt und sich nicht ohne fremde Hilfe wird befreien können. A. eilt mit einem Pendel zur Unfallstelle, um durch eine zeitnahe Anamnese die Potenzierung der Notfallglobuli bestimmen zu können. Ein Anwohner aus der Wachtelgasse, der den Nachtigallenweg als Durchgangsstraße nutzt, radelt verstört vorbei. So endet der Morgen in einer Reihenhaussiedlung, deren Bewohner einfach nur mit dem Auto zur Arbeit fahren wollten.
Satzspiegel