Meistersinger

7 10 2021

„Wagner“, stöhnte Anne. Ihr Gesicht sank erheblich und ließ das Grauen mehrerer Abende in der Oper erahnen. „Wenn ich ihn schon ertragen muss, dann bitte nicht auch noch bei Wagner.“ Sie ließ sich in den gepolsterten Sessel sinken wie Amfortas, aber das war sicher nur ein Zufall.

„Er ist sein Großneffe.“ Dass Staatsanwalt Husenkirchen einen solchen in der Familie gehabt haben könnte, hätte wohl niemand bezweifelt. Aber dieser Husenkirchen, frisch promoviert und nur ein paar Jahre jünger als die Strafverteidigerin mit der inzwischen gut eingeführten Kanzlei, er war sich sicher, dass er als Teil der Familie nur würde Erfolg haben können, wenn er die passende Frau an seiner Seite hätte. „Ausgerechnet ich“, knurrte sie, „er hat auf dem Juristenball beinahe einen Preis gewonnen für den dämlichsten Auftritt des Jahrhunderts.“ „Er war ein bisschen zu undiplomatisch“, grinste Luzie, während sie die Akten im Hängeschrank verteilte. „Augen auf bei der Berufswahl!“ Jedenfalls oblag es nun Anne, einen Opernabend auszusuchen, an dem sie seine Begleitung und natürlich zwei sehr gute Plätze im ersten Rang bekommen sollte. Der Patriarch galt als freigiebig und hatte dem Theater bereits mehrfach große Spenden zukommen lassen, es würde sich um die Mitte handeln. Erste Reihe.

„Bitte nichts Kompliziertes.“ Luzie schloss mit erheblichem Geräusch den Auszug. „Er hat es mit der Tochter von Regierungsdirektor Schlippenbach versucht“, berichtete sie, „Hamlet – schon im ersten Akt hat er sie zu einer Diskussion genötigt, ob der Prinz nun eine tief greifende Bewusstseinstörung durch das traumatische Erlebnis des Vatermordes hat oder eine schwere seelische Abartigkeit, die zur Schuldunfähigkeit führt.“ „Ich möchte raten“, gab ich zurück, „er studiert Jura in Wittenberg, das löst im Regelfall eine Persönlichkeitsstörung aus.“ Anne kicherte. „Leider wird das schwierig, in der Oper wird auch überwiegend gemordet oder wenigstens kurz nach der Arie gestorben.“ Luzie wusste sich keinen Rat. „Es ist kompliziert.“

Dabei hätte sie schon etwas beizutragen gehabt. Seit längerem hatte sie in Minnichkeit, inzwischen Büroleiter einer angesehenen Steuerberatung, einen treuen Begleiter im Musiktheater, obgleich er die Reisen nach Verona und Bregenz bevorzugte, wenn dort Rodolfo eine randgeschmeidigere Tessitura zu bieten hatte. Oder was immer der Opernführer für solche Gelegenheiten vorsah. Luzie genoss nach wie vor das Abonnement des Staatstheaters, quälte sich durch endlose Vokalmeetings der Romantik, die man mit einem postmodernen Videocall hätte von der Platte putzen können, und genoss dafür den Fioriturenschmelz der italienischen Schule, für die sich Minnichkeit allenfalls physiologisch erwärmte. Einer von beiden grämte sich im Parkett, aber der andere merkte es nicht oder nahm es wenigstens nie zur Kenntnis, beide sprachen sie nicht darüber und fanden alles ganz wunderbar, und so hatten sie eine der schönsten unglücklichen Lieben, über die man eine Oper hätte verfassen können, wenn es denn je einen berührt hätte.

Ich schlug das Programmheft auf. „Gut, es ist Wagner, aber: Meistersinger.“ „Schrecklich“, rief Anne. „Wahrscheinlich werde ich mir einen Vortrag über Wettbewerbs- oder Urheberrecht anhören, oder es wird eine längere Debatte über Misshandlung von Schutzbefohlenen.“ Luzie sah mich fragend an. „Hans Sachs schmiert seinem Lehrling eine.“ „Da bleibt dann nur noch Mozart.“ Abgesehen davon, dass es sich um ein bereits ausverkauftes Gastspiel handelte, gaben sie Don Giovanni – der jugendliche Freier würde sehen, wie der Protagonist den Alten zu Beginn absticht und dann zum Ende von ihm in die Hölle gezogen wird. „Für mich ist das Mord“, sagte Luzie. „Eugen Onegin wird wieder in den Spielplan aufgenommen“, stellte Anne fest. „Lenski ist natürlich selbst schuld“, beharrte ich, „er hätte sich ja nicht duellieren müssen.“ Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Allein darüber müsste ich dann eine stundenlange Abhandlung ertragen.“ Die beiden Puccinis – einmal Ehe mit einer 15-Jährigen samt Entziehung Minderjähriger und Suizid, einmal eine Fluchthelferin, die neben Strafvereitelung und Erpressung auch noch Mord auf dem Kerbholz hat und ebenfalls freiwillig aus dem Leben scheidet – schieden aus. „Fledermaus?“ Anne riss die Augen auf. „Die Silvestervorstellung? dann halse ich mir eine Debatte über Sicherheit im Justizvollzug auf, wenn man eingesperrt wird, ohne den Haftrichter zu Gesicht bekommen zu haben, und umgekehrt.“ Aus ähnlichen Gründen fiel auch der Weihnachtsabend flach. „Hänsel und Gretel! Vernachlässigung des Kindeswohls in mehreren Fällen, Aussetzung, ein spektakulärer Fall von Freiheitsberaubung zur Verwirklichung von Kannibalismus, und von den baurechtlichen Versäumnissen an der Hütte wollen wir gar nicht erst anfangen!“ „Das ist noch nicht alles“, ergänzte ich, „auch die Hexe wird ja zu Lebkuchen gebacken. Die Kinder sind zwar nicht strafmündig, aber das Inverkehrbringen einer Hexe als Backware dürfte lebensmittelrechtlich doch zu beanstanden sein.“

„Dann bleibt nur Verdi.“ Zwar ist jede auf dem Kopf stehende Straßenkarte leichter verständlich als die Werke dieses Italieners, aber wenn einer drei Stunden dauernde Terzette schreiben konnte, dann er. „Ein älterer Herr gräbt zwei Damen gleichzeitig an, muss sich in einem Wäschekorb verstecken und irgendjemand heiratet irgendjemanden.“ Anne hob eine Augenbraue. „Keine Toten?“ Luzie schüttelte energisch den Kopf. „Gut, ich rufe Husenkirchen an. Vortäuschung falscher Tatsachen ist kein klarer Rechtsbegriff. Das wird ein schöner Abend.“