Und nichts als die Wahrheit

29 01 2009

Die Mitglieder der Volksbefreiungsfront hatten alles ganz genau geplant. Sobald sie ihre kleinen Kapseln in die dreihundert deutschen Trinkwasserbecken geworfen hatten, verschwanden sie unauffällig. Diese Gelatinepillen sollten einen Einschnitt in der Geschichte markieren. Ihr Inhalt war teuflisch. Es handelte sich um die Wahrheitsdroge. In einer Konzentration, die bis heute als technisch unmöglich gilt. Aber sie wirkte. Und ihre Wirkung setzte unmittelbar ein.

Als der Moderator im Frühstücksfernsehen die Zuschauer mit „Tach Ihr Sackgesichter, ich und die hässliche Schlampe, die nur hier sitzt, weil sie sich vom Produktionsleiter knallen lässt, werden Euch jetzt durch ein Programm führen, das genau so flach ist wie Ihr!“ begrüßte, hielten es die meisten noch für einen makabren Scherz. Doch das Serum zirkulierte in den Wasserleitungen. Der erste Schluck Morgenkaffee infizierte jeden.

Investmentbanker, die noch rasch Grüntee mit Akazienhonig to go aus dem Automaten gezogen hatten, riefen hektisch Anleger an und warnten vor dem Zeug, das sie ihnen noch tags zuvor angedreht hatten. Die Börse stand kopf. Der DAX sank auf den Nullpunkt. Frankfurt gefror.

Zeitgleich hatte man in der Oberfinanzdirektion gut zu tun. Selbstanzeigen hagelten auf die Beamten ein. Jeder Steuerhinterzieher bekannte reumütig seine Sünden und gab sein Einkommen in voller Höhe an. Die Glocken begannen zu läuten. Deutschland war saniert. Dankgottesdienste füllten die Kirchen bis zum letzten Platz.

In einer jener Andachten beging der Diözesanbischof den folgenschweren Fehler, über Ist die CDU christlich? zu predigen. Man fand bei der eilig anberaumten Haussuchung im bischöflichen Ordinariat unter den losen Dielenbrettern Schriften über Befreiungstheologie. Stapelweise. Der Gottesmann war nicht mehr zu halten. Rom ächzte leise.

Auf der Jahrespressekonferenz verplapperte sich Hartmut Mehdorn. So kam ans Tageslicht, dass er im Auftrag der Autoindustrie seit Jahren hektisch daran arbeitete, die Deutsche Bahn vor die Wand zu fahren. Der Tumult legte sich jedoch rasch. Geahnt hatte man es immer.

Der Kanzlerkandidat gab alles bereitwillig zu. Deutschland sei ihm eigentlich reißpiepenegal, für ihn zähle anderes: erstens sei er mediengeil, zweitens könne man als Kanzler mal so richtig die Puppen tanzen lassen. Die Umfragewerte seiner Partei schossen durch die Decke. Guido Westerwelle erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste mit großen Mengen Leitungswasser beruhigt werden, um vor die Mikrofone zu treten.

Deutschland wurde schlagartig ein Stück weit weniger radikal. So rannten in zahlreichen Bezirken ehemalige Linke den Schreibstellen die Türen ein, um ihre Parteibücher abzugeben. Nur aus Sozialneid hätte man sich überreden lassen, diesem Verein anzugehören. Auf dem Potsdamer Platz kam es zu einer Massenkundgebung, auf der Jugendliche Bomberjacken und Kampfstiefel auszogen und daraus einen Scheiterhaufen errichteten, in dessen Flammen die eine oder andere Reichskriegsflagge und viel Propagandamaterial kokelte. Sprechchöre wie Wir wollen keine Mitläufer mehr sein und Pussies raus aus der NPD schollen gen Himmel. Abends verzeichneten die Nationaldemokraten eine Mitgliederzahl im hohen zweistelligen Bereich.

Im Bundesministerium des Innern schäumte der Behördenleiter. Drohte seinem Staatssekretär mit Entlassung, wenn nicht die Nazis wieder durch Deutschland marschierten. Man könne den Leuten so keine innere Sicherheit mehr verkaufen.

Die Dönerproduktion erlahmte. Auch Leberwurst gab es nicht mehr. Xavier Naidoo erklärte, er selbst fände seine Musik unerträglich.

Die Boulevardpresse griff begierig auf, wie Schmidt und Pocher sich an die Kehle gingen. Pocher nannte Schmidt einen notorischen Langweiler, dem man die Gags dreimal erklären müsse. Der nannte Pocher einen talentfreien Noob, dessen Namen er sich gar nicht erst gemerkt habe. So herrschte milder Friede.

Das Bundesministerium für Gesundheit löste sich selbst auf. In einem Bulletin hieß es, man wolle nicht den nunmehr ausgeglichenen Haushalt mit Milchmädchenrechnungen gleich wieder in Unordnung bringen. Zumal den Krankenversicherten dies Gesundheitssystem nicht länger zuzumuten sei.

Auf einer Kaffeefahrt im Sauerland schockte Wolf-Dieter K. sein Rentnerpublikum mit dem Bekenntnis, die Ginsengextrakt-Ampullen seien wirkungsloser Schund und die 400 Euro dafür zum Fenster rausgeschmissenes Geld. Der Materialwert der Kurpackung liege unter einem Euro, inklusive Karton und Cellophanhülle. Als K. dann auch noch das Raststättenpersonal angriff, den Schonkaffee als traurige Plörre und die Schinkenbrötchen als Sondermüll bezeichnete, drohte ein Eklat. K. beruhigte die Kellner mit Heizdecken, warnte aber zugleich vor deren mangelhafter Verarbeitung.

Nur bei BILD änderte sich nichts. Dort wurden zwar auch alkoholfreie Heißgetränke verzehrt, die Redakteure waren allerdings immun. Für sie waren Lüge und Wahrheit ein und dasselbe.

Die Mitglieder der Volksbefreiungsfront hatten das alles gewusst. Es war genau so gelaufen, wie sie es in ihrem Hauptquartier zuvor geplant hatten. Ein schöner Tag neigte sich seinem Ende zu. Der Tag der Wahrheit.


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8 responses

31 01 2009
Grüntee mit Akazienhonig « Journalistenschredder…

[…] by ugugu am Januar 31st, 2009 Am Tag als alle die Wahrheit sagten, war alles ein bisschen anders. Nur bei BILD änderte sich nichts. « Who’s To Blame For The […]

31 01 2009
blog.unkreativ.net » Der Tag der Wahrheit

[…] Quelle: Klick, Lesetipp! […]

1 02 2009
Readers Edition » Der Tag der Wahrheit

[…] Quelle: Klick, Lesetipp! […]

3 02 2009
buchstaeblich

Bei dem hat das Zeug nicht richtig gewirkt:
„Xavier Naidoo erklärte, er selbst fände seine Musik unerträglich.“

Hätte Xaver Nei-doo-mir-des-net-an wirklich die Wahrheit gesagt, hätte er nicht „Musik“ gesagt. Bestenfalls „Geräusche“.

3 02 2009
bee

Vielleicht hat er ja während des Interviews wieder mal weinen müssen und war nicht so gut zu verstehen?

3 02 2009
buchstaeblich

(seufzt schwer)
Der Typ ist elf achtjährige Mädchen. Mindestens.

3 02 2009
bee

Passense auf, wasse sagen. Das kann teuer werden.

(Was steht eigentlich aktuell auf Geheimnisverrat?)

9 09 2009
Der Säzzer

Die Dummheitsvermutung und der freundliche Wahlhelfer von nebenan…

Ein längerer Leserkommentar bei ZEIT.de ↗ beschäftigt sich ausführlich mit der Dummheitsvermutung und zeigt, wie das Niveau von politischen Diskussionen, Sachbeiträgen und journalistischer Arbeit in der Breite der Bevölkerung nach unten gezogen wird.
B…

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