Gicht und Galle

23 04 2019

„Hier ist noch Graubrot, und da kommt dann die Schokoladentorte hin.“ Horst Breschke war nicht etwa damit beschäftigt, den Kühlschrankinhalt zu sortieren; mit einer minutiös auf Millimeterpapier gezeichneten Tabelle hatte er die kommenden zwei Wochen verplant und seine Ernährung auf ein festes wissenschaftliches Fundament gestellt, das er nun mit den Vorräten sowie der Einkaufsliste verglich. Das Frühjahr konnte kommen.

„Meine Frau hat recht“, klagte der pensionierte Finanzbeamte. „Ich bin in den letzten Monaten ein bisschen träge geworden, wir fahren zu oft mit dem Auto, und seitdem Bismarck seinen Schnupfen hatte und drei Tage nicht mehr raus konnte, ist auch alles ganz anders.“ Möglicherweise hatten auch die beiden Familienfeiern kurz vor Weihnachten sowie zwischen den Jahren und anschließend das Büfett bei Husenkirchens Silvesterparty ihres dazu beigetragen, dass die Wölbung seines Leibes sich einer idealen Kugel annäherte, was seine Gattin zu der radikalen Entscheidung gebracht hatte, ihn auf Diät zu setzen: Intervallfasten. „Wenn man das nach der Uhr machen kann, ist es sicher viel besser, denn sonst vergisst man sicher die… – Würden Sie mir mal bitte den gelben Stift reichen?“ Und er zog eine dünne Linie zwischen Montag und Dienstag, die bedeutete, dass er wohl Kohlenhydrate zu sich nehmen dürfte, jedoch keinerlei Eiweiß.

Breschke fischte nach dem Winkelmesser. „Ich habe es mit Trennkost kombiniert, sonst hilft es ja kaum etwas.“ Bismarck, der dümmste Dackel im weiten Umkreis, kam halb neugierig, halb müde vom mehrstündigen Nickerchen in die Küche getapst, blickte auf den nach wie vor fest verschlossenen Kühlschrank und drehte sich mit einem innerlichen Seufzen wieder um. Hier war also nichts zu holen. „Das hier ist das Zeitfenster mit den Mahlzeiten, und dann kommt hier zum Frühstück das Eiweiß – man muss ja auch eine gewisse Menge davon zu sich nehmen, deshalb esse ich jetzt zwei Eier statt einem.“ Ich kratzte mich am Kinn. „Wie jetzt, Sie frühstücken mit zwei weichen Eiern, als wäre es noch Ostern?“ „Da ist es noch rot“, erläuterte der Hausherr. „Hier ist dann, kleinen Moment, da fehlt noch der Trennstrich, und da ist dann wieder Gelb, wegen Eiweiß.“ Tatsächlich hatte sich der Alte ein so ausgeklügeltes System einfallen lassen, dass nur noch eine Möglichkeit blieb: es funktionierte einfach nicht.

„Vom vielen Zeichnen tun mir schon die Knöchel weh“, klagte er. „Die jungen Leute, also die unter fünfzig, die machen das ja alle mit ihren Computern, aber wo soll ich hier so eine Kiste in die Küche stellen? Und was das kostet!“ „Sie würden dann aber automatisch abnehmen“, gab ich zurück. „Von Ihrer Pension bliebe ja nicht mehr so viel übrig fürs Haushaltsgeld.“ Das leuchtete ihm ein, und beinahe fürchtete ich schon, ihn auf einen Gedanken gebracht zu haben, der alsbald wirre Blüten treiben würde, doch nichts dergleichen. Er massierte sich die Finger. „Sie kennen das ja“, stöhnte Breschke. Was seine Gichtanfälle betraf, die kannte ich tatsächlich. „Dann würde ich an Ihrer Stelle nicht noch zusätzlich so viel Eiweiß essen“, riet ich ihm. „Das da ist ja auch außerhalb der Essenszeiten, wenn ich mich nicht irre?“ „Meine Frau macht mittags jetzt immer nur einen Teller Suppe“, bekannte er. „Aber sie sitzt so ungern alleine am Esstisch, deshalb schiebe ich eine Hälfte vom Intervall immer etwas nach hinten, und dann habe ich ganz normal um halb sieben Abendessen, hier ist dann wieder Gelb, Mittwoch wegen der Erbsen muss ich aber noch eine zusätzliche Suppe essen, damit sich das mit dem Eiweiß wieder ausgleicht.“ Und er suchte aus dem Federmäppchen den blauen Stift heraus, setzte im rechten Winkel an und zog eine dünne Linie von Sonnenuntergang bis zum quasi fettfreien Morgenkaffee.

„Sie wissen schon, dass das Ihren Gallensteinen gar nicht bekommt?“ „Deshalb gibt es auch nur noch eine Scheibe Wurst, den Rest essen wir immer mit Marmelade.“ Grün kam auch eher außerhalb der Mahlzeiten vor, was aber seine Berechtigung hatte, schließlich wurde Zucker in der Trennkost nicht großartig berücksichtigt. „Aber das ist doch absolut nach Plan“, verteidigte sich Breschke. „Hier ist das Zeitfenster, Teil zwei, und da können wir die grünen Lebensmittel – nein, da gehört eigentlich noch ein Trennstrich hin.“ „Doktor Klengel hatte es Ihnen prophezeit“, mahnte ich, „Sie werden wieder Gallensteine bekommen und schlimme Schmerzen in den Zehen.“ „Sehen Sie“, triumphierte Breschke, „und am Zucker kann das nicht liegen!“

Schnell notierte er auf dem Einkaufszettel noch zwei Dosen Pustermanns Beste, den verzehrfertigen Hühnereintopf mit erkennbaren Spuren von Resthuhn, und schon zogen sich auch die roten Striche kreuz und quer zu einem planlos verstrickten Netz über die Wochen. „Trennkost ist dann wenigstens für heute vorbei, und da wir bis zum Abendessen noch ein bisschen Zeit haben, kann ich jetzt im Garten aufräumen. Rasen muss dringend vertikutiert werden, Sie können ja schon das Gerät aus dem Keller holen.“ Er sammelte die Stifte zusammen und steckte sie sorgfältig zurück ins Mäppchen, da tönte ein feiner Glockenschlag durch das Erdgeschoss. „Oh“, rief Breschke aus, „schon drei? Dann ist es ja höchste Zeit!“ Und er öffnete die Kühlschranktür, zog einen Teller mit Schokoladentorte heraus und platzierte ihn auf dem Küchentisch. „Greifen Sie nur zu“, ermunterte er mich. „Bis heute Abend macht er auch nicht dick.“