Streichkonzert

15 10 2020

„Hups!“ Herr Breschke konnte sich gerade noch am Fernsehsessel festhalten, sonst wäre er auf der Folie ausgerutscht, die das gesamte Zimmer unter sich bedeckte, genauer: den Fußboden sowie einige kleine Gegenstände wie einen Zeitungsständer und ein pittoreskes Höckerchen für Blumenvasen.

„Das sieht doch schon ganz ordentlich aus“, befand der Hausherr, der sich standesgemäß in eine der zahlreichen Strickjacken gekleidet hatte, die sich sogar für die Gartenarbeit nicht mehr eigneten. Der obligate Malerhut durfte nicht fehlen, und um ihm eine Freude zu machen, ließ ich ihn für mich gleich noch einen zweiten aus alter Zeitung falten. Einer zünftigen Handwerksarbeit stand nun nichts mehr im Weg, abgesehen von den Möbeln, die noch immer das Wohnzimmer anfüllten. Denn außer drei Rollen dieser hoch reißfesten, transparenten und dabei recht preiswerten Folie war bisher nichts zum Einsatz gekommen. „Ich möchte Sie wirklich nicht kritisieren“, wandte ich ein, „aber sollten wir nicht wenigstens die Möbel von oben abdecken, wenn wir schon die Decke streichen?“ „Wir streichen ja nicht“, erklärte der pensionierte Finanzbeamte und wies auf das Gerät zu seinen Füßen. „Wir spritzen die Decke, das ist ein enormer Unterschied.“

Wie zu erwarten hatte der Plan zu einer neuen Zimmerdecke seinen Ursprung in einem Angebot, das Breschkes Tochter in einem gut frequentierten Heimwerkermarkt entdeckt hatte. Jener Laden im Herzen der peruanischen Hauptstadt hatte sich auf taiwanesische Importgüter spezialisiert, namentlich solche, die man in Europa nicht findet, wohl aber Gründe, warum man sie nirgends kaufen kann. Ein elektrisch betriebener Pumpmechanismus, der im Deckel eines Behältnisses eingebaut über einen langen Spritzschlauch die Farbe in eine Düse leitet, von wo aus sie letztlich auf irgendeiner Oberfläche haften bleibt, war das Herzstück dieses Apparats, klein genug, um jederzeit durch die im Deckel montierte Schnur ins Kippen zu geraten, und nur ein wenig zu groß, als dass man sich das Ding hätte umschnallen können. Die Farbe also, ein blendend helles Weiß wie Hochgebirgsschnee im Mittagslicht der Sonne, war ordnungsgemäß eingefüllt. Horst Breschke stand unschlüssig im Raum. Leider war die Steckdose hinter der abgeklebten Folienschicht.

„Sie müssen doch wissen, wo sich die Dose befindet“, tadelte ich ihn, „wie lange wohnen Sie jetzt schon hier?“ Statt mich zu tadeln, stach er immerhin gleich ein entsprechend großes Loch in der Nähe der Heizung. Bereits hier zeichnete sich ab, dass die Zuleitung des Spritzgeräts nicht lang genug war, um auch die andere Hälfte der Decke zu erreichen. „Ich hole nachher einfach eine Schnur, dann können wir das verlängern.“ Immerhin tat er es nach kurzem Überlegen dann doch sofort, was mir die Gelegenheit gab, umgehend den Sessel, das Sofa, die Schrankwand samt Fernseher und Radio zu verhüllen, da die Farbflecken dem Mobiliar mit Sicherheit schwere Schäden zufügen würden. Doch Herr Breschke fand dies übertrieben. „Eine reine Vorsichtsmaßnahme“, beschwichtigte ich ihn. „Sie haben ja schließlich auch eine Hausratversicherung abgeschlossen, ohne jemals den Wunsch verspürt zu haben, dieses Gebäude in Schutt und Asche…“

Er war eingeschnappt; deutlich war dies sichtbar daran, wie er den Knopf am Pumpaufsatz ganz nach rechts drehte. Doch es kam nichts. „Das Heft“, sagte er, „da muss doch etwas drinstehen.“ So griff ich nach der Gebrauchsanweisung, die, zu meiner geringen Überraschung, ein paar Strichzeichnungen wackerer Spritzenmännchen zeigte, aber in Bezug auf den Text eher den Eindruck erweckte, aus dem Ostasiatischen ins Altfranzösische übersetzt worden zu sein. „Das kann nicht angehen“, knurrte der Alte. „Und Sie sollten auch wissen, warum.“ Ich wusste es nicht. „Weil die Altfranzosen“, dozierte er, „ja bekanntlich in Burgen wohnten, und dort hat man die Wände gekalkt!“ Triumphierend blickte er mich an. Vor meinem inneren Auge erschien Jehan François le Grand, Fürst von Avignon-sur-le-Pont, wie er mit einer monströsen Büchse voller Kalkputz durch den Palast schritt, gnädig auf die Wand zeigte und abwaschbare Farbe versprühen ließ.

Ein unangenehmes Blubbern machte sich in der Apparatur bemerkbar. Horst Breschke, zumindest in dieser Immobilie befehligende Gewalt, teilte mit, dass so gut wie keine Farbe in den Spritzschlauch gepumpt wurde, weshalb sie auch das ausziehbare Rohr mit der am Ende befindlichen Düse gar nicht erst erreichte. „Hier steht, man müsse die Farbe ein paar Mal umwälzen.“ Das Piktogramm war in der Hinsicht wenigstens eindeutig, er hatte recht. „Allerdings“, gab ich zu bedenken, „müsste man dazu den Deckel abnehmen, und dann kann das Ding ja nicht mehr pumpen.“ „Man sollte es mit Schütteln versuchen“, schlug Herr Breschke vor, und ich konnte ihm gerade noch in den Arm fallen. „Erst schalten Sie es aus, dann können Sie das ganze Gerät gerne schütteln, und dann schalten Sie es wieder ein.“ Und so geschah es.

Es brummte weiter, während der Finanzbeamte a.D. genervt das Rohr nach oben hielt. Doch da verstummte das Geräusch, während ein zunehmend strenges Pfeifen sich am Ventil auf dem Deckel des Spritzgefäßes aufbaute. Mit einem kurz röhrenden Crescendo kündigte sich der schmatzende Schluss an. Der Deckel schoss infolge der Druckluft einfach in die Höhe und verteilte die Farbe in die Richtung aller verfügbaren Raumkoordinaten, wobei sich die Plastikdecke als zuverlässig erwies. „Meine Güte“, stöhnte Herr Breschke. „Da haben wir ja noch mal Glück gehabt. Wenn ich nicht die Folie mitgebracht hätte – wer weiß, was noch alles passiert wäre!“