Gernulf Olzheimer kommentiert (DXXXVII): Die ewige Gegenwart der Nachrichtenüberflutung

23 10 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die Versorgung der Gesellschaft mit aktuellen Nachrichten unterlag auch einem medialen Wandel, der den Umgang damit bestimmte. Im Zeitalter der kompletten Vernetzung bedarf es lediglich einer ungeschickten Handbewegung, schon quillt ein Brei an Neuigkeiten aus dem digitalen Endgerät; noch vor wenigen Jahrzehnten versammelten sich die Andächtigen vor dem televisionären Kasten, um die abendliche Ration an Kunde aus der Welt in Bild und Ton zu empfangen, wie sie davor aus der Wochenschau vermeldet ward und aus dem Radio suppte. Bis zur Nutzbarkeit der Elektrizität im industriellen Maßstab erschienen Zeitungen zwar täglich, unterrichteten jedoch noch mit erheblichem Verzug von Wahlen, Kaiserreden und anderen Katastrophen, was in interkontinentalen Maßstäben erst so richtig auftrug. Wissen ließ sich problemlos konservieren, aber dies ist ja nicht alleiniger Zweck eines Mediums. Erst die Erfindung des Buchdrucks machte es verhältnismäßig einfach, die Menschheit von der Erfindung des Buchdrucks in Kenntnis zu setzen. Warum haben wir uns zu den Konsumenten für allerlei Verkündigungskrempel entwickelt, und wenn ja, wozu eigentlich?

Tatsächlich waten wir schon nicht mehr durch die Flut der Schnell-, Eil- und Sondermeldungen, die uns ungehemmt auf allen Kanälen die Beine wegreißt, uns überspült und in sinnlosen Details der ewig schwatzenden Kommentare ersäuft. Nicht mehr die laue Berieselung eines Supermarktes, in dem seichtes Popgeträller mit trivialer Reklame die Aufmerksamkeitsspanne langsam versanden lässt, nicht die einfach zu ignorierenden Schlagzeilen, die auf langsamem Papier an uns vorüberziehen und in der nahenden Vergangenheit verwehen, die brutale Echtzeit raubt uns den letzten betriebsbereiten Nerv und stellt das Bewusstsein des Bekloppten um auf vegetatives Funktionieren. Was eigentlich noch als Information gilt, wird schon bald nur noch als Grundrauschen wahrgenommen, bis die Fähigkeit zum Differenzieren endgültig verloren geht. Zeit als fundamentaler Faktor kognitiver Unterscheidungen spielt plötzlich keine Rolle mehr, und wenn, dann nur noch eine willkürliche; wie die Hirnautomatik des Glotzenguckers den Stützapparat steuert, dass er nur in den Werbepausen Körperflüssigkeit in die Kanalisation kippt und den Kaloriennachschub in der gepolsterten Zone sichert, so schaltet auch der Cortex irgendwann auf Standby, um nicht ständig mit irgendwelchen Statusänderungen belämmert zu werden. Wir kennen das von Opa, er hat uns oft genug aus dem Krieg erzählt.

Allein der Status ändert sich nicht wirklich. Die Anzahl der Kanäle wächst fortwährend, als würden immer mehr Lautsprecher dasselbe dudeln, eine statische Woge des reinen Nichts. Die Flut löst ein Gefühl gottgleicher Allgegenwart aus, als krümme sich die Zeit zusammen zu einem omnipotenten Präsens. Üblicherweise führt eine Überlastung zum Stillstand des Systems, so auch hier – Wichtiges und Unwichtiges verschwimmen, Widersprüche werden in der mantraartigen Wiederwiederholung gar nicht erst durch den Filter gelassen, nicht einmal durch die ansonsten zuverlässig sortierende selektive Wahrnehmung, die die meisten Deppen nur das hören lässt, was sie hören wollen. Natürlich ist dies auch der weitgehend ritualisierten Form des Nachrichtenjournalismus geschuldet, der aus den immergleichen Worthülsen einen Schlamm schwiemelt, der noch jeden Gehörgang verstopft hat. Und so entsteht aus der Bündelung der Stimmen das paradoxe Gefühl, der in den Schädel gehämmerte Schrott erzeuge die unumstößliche Wahrheit, in deren Besitz sich nun jede Knalltüte wähnen darf. Ewige Erleuchtung. Das Wissen.

Das Gegenteil ist der Fall. Sobald der gemeine Hohlpflock im Vollgefühl seiner Göttlichkeit zum Kommentar anhebt, merkt man, dass die manische Druckbeschallung unter der Kalotte besenreine Sauberkeit hinterlassen hat; ein paar Staubreste kleben noch in den Synapsen, aber sonst findet hier keine Signalverarbeitung mehr statt. Alles ist, nichts wird. Kausalzusammenhänge sind schon seit längerer Zeit nicht mehr auffindbar. Geschichte und Prognose kommen nicht mehr vor, sie sind nur noch Facetten eines kontinuierlichen Bewusstlosigkeitsstroms. Welcher Kontakt mit der Botschaft auch immer diesen Zustand auslöst, im Zweifel über die sozialen Medien, es ist nicht mehr entscheidend, wer wann etwas gesagt, geschrieben, veröffentlicht hat, es zählt nur noch der Zeitpunkt der Rezeption – esse est percipi, und nicht immer ist es dasselbe, was in einem Augenblick erschaffen und im anderen vernichtet wird. Manchmal kommt auch der Geist dazwischen.

Wo immer sich mit der linearen Zeit viel mehr Material anhäuft, das in seiner absoluten Menge die differenzierte Debatte auslöscht, wird eine echte Entscheidung unmöglich. Wenn wir merken, dass wir manipuliert werden, ist es schon zu spät, aber wir merken es nicht, weil wir den Unterschied von zwei Zuständen, vorher und danach, nicht mehr erkennen. Vielleicht werden wir irgendwann sehen, dass dies eine Sackgasse ist. Irgendwann später. Jedenfalls nicht jetzt.