Gernulf Olzheimer kommentiert (DXXXIV): Das Weinfest

2 10 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Die ersten Spuren des Anbaus sind schon in der Jungsteinzeit nachweisbar, die frühe Meisterschaft des Kelterns entstand an den Gestaden des Schwarzen Meers. Während im Zweistromland die Angestellten der Gottkönige noch am Dünnbier nuckelten, quetschte man am Kaukasus Trauben, um sich mit Hilfe von Biochemie vor einem Tag mit Kopfschmerzen aus der Hölle wenigstens noch einen lustigen Abend zu machen. Bis heute hält sich hartnäckig die Ansicht, der Konsum von Wein sei eine einigermaßen kultivierte Angelegenheit, zu der bereits ein durchschnittlicher Supermarkt das erforderliche Zubehör liefere. Zwar schädeln Bordeaux & Co. nicht so schlimm wie der gute alte Schnaps, vor allem lässt sich die gewünschte Blutalkoholkonzentration leichter und über einen längeren Zeitraum hochpegeln, aber der Nachschub ist mit einer größeren Menge an Altglas verbunden, die aus mehreren Besuchen beim Dealer resultiert. Immerhin ist die Kombination von Roggenkorn und Seezunge oder Wodka zum gemischten Salat in der bürgerlichen Gesellschaft nicht ganz so populär geworden – in Ausnahmefällen darf man zu rotem Fleisch auch klaren Fusel reichen – und wurde nie ganz durch die Konventionen ersetzt, die man für gewöhnlich mit der besseren Gesellschaft assoziiert oder zumindest noch vage in Erinnerung hat. Unangenehm nur, dass Gesellschaft stets irgendwas mit Menschen zu tun hat, mit denen man sich trifft. Zum Beispiel auf dem Weinfest.

Diese unangenehme Jahreszeit, in der es inzwischen nicht mehr so heiß ist, dass man unter dem Vorwand gesundheitlicher Vorsorge ganztags in der eigenen Wohnung bleiben darf, ebendieser Spätsommer bis Frühherbst ist überliefert als Zeit der Lese, was in dieser industriell geprägten Epoche auch nichts anderes heißt, als dass Erntehelfer aus wirtschaftlich abgeschlagenen Halbdiktaturen für ein paar Wochen in verwarzten Baracken ihre aus der Heimat eingeschleppten Infektionen auffrischen und nebenbei durch die auf Ertrag optimierten Steilhänge kriechen, um tonnenweise Trauben in die Vergärungsmaschinerie zu pfropfen. Doch das alles will der mittelmäßige Gelegenheitssäufer nicht wissen, in seiner Vorstellung sind’s noch immer die ländlich-sittlich gekleideten Winzer, wie man sie aus der Klischeefabrik des Tourismus kennt, die die Frucht wacker in den Bottich schlenzen und mit eigener Mauke zusammenstampfen. Dann also lockt auf jeder verfügbaren Freifläche, die vom Stadtmarketing nicht rechtzeitig für anderweitige Allotria reserviert werden konnte, ein gar lustiges Durcheinander aus billigen Bänken, erzeugerseitig zusammengeschwiemelten Buden regionaler Art und Anmutung sowie das nackte Grauen an Deko, wie sie nur im rieslinggeschwängerten Halbschlaf der Vernunft ersonnen wird. Als kulinarisches Angebot fungiert ein Ensemble vorgetrockneter Käsereste, ergänzt von Flammkuchen, wie man sie aus dem Discounter kennt und schätzt, wenngleich sie dort etwa 280% weniger teuer sind. Es soll ja, man kennt dies von Oktoberfest und Adventsmarkt, am Ende etwas rauskommen.

Nachdem die gründliche Fehlannahme sich in der Bevölkerung festgefressen hatte, alles mit zwei Fingerbreiten Abstand vom Mindestlohn sei bereits Mittelschicht, setzt sich diese Klientel auf morsches Gebälk und schunkelt unter Druckbetankung, oft in sensorischer Unkenntnis der jeweiligen Produkte, die gerade ausgeschenkt werden. Nicht eben selten prangen auf den Plastekanistern Klebeschildchen wie Silvaner, Rivaner, Grauburgunder oder Bitte erst durchspülen, am Morgen eines neuen Tages vom Patron lotteriemäßig aus der Schürzentasche gekramt. Kein Sommelier könnte im Halbdunkel und unter schwerem Einfluss von Kölnisch Wasser aus der Transpiration vorgerückter Alterskohorten die Flüssigkeiten an der Konsistenz erkennen, an der Farbe schon gleich gar nicht. Da zeitgemäße Events auch dieser Art inzwischen unter ballernden Beats aus der Elektrokonserve stattfinden, hat sich die genießerische Qualitätseinschätzung der Ware mit einem abrupten Nachmöpseln verabschiedet.

Zugleich ist das Weinfest die harmlose kleine Schwester der Bierveranstaltungen, mit denen zwischen Ende und Anfang des Bodenfrostes unter freiem Himmel drogeninduzierter Kontrollverlust als traditionelles Brauchtum verkleidet gefeiert werden dürfen. Sich gepflegt einen hinter die Binde zu bembeln und dabei wildfremden Personen in die Epidermis zu rutschen, das macht den speziellen Reiz der Leberrallye aus. Drei Tage, zwei Wochen oder irgendwas dazwischen treffen sich ganze Soziotope zum Synchronlallen. Es schweißt alles zusammen, was unter normaler Betrachtung noch nie zusammengehören wollte. Immerhin fügt sich dieser Veranstaltungstyp bestens in die Mentalität der Teutonen ein, die aus historischer Perspektive sonst nur Geplärr im Hopfenkoma als Ruhestörung an die Polizei melden und dafür die Prügelstrafe fordern. Und eines muss man dem Weinfest zugutehalten: es gab und gibt nirgends, nicht und nie eine einzige Blaskapelle bei diesem Bums. Keine. Mehr Kultur kriegen Deutsche nicht hin.





Probieren geht über Studieren

26 03 2013

„Purrnacher Welkstöckle“, knirschte Bruno. „Ausgerechnet Purrnacher Welkstöckle – kann denn dieser Idiot nicht einmal etwas richtig machen!?“ „Ich habe doch genau den bestellt, den Du haben wolltest.“ Hansi zog die Stirn in Falten, während Bruno, den sie Fürst Bückler nannten, der große Küchenchef im Landgasthof seiner Väter, mit der Faust auf den Tisch hieb. „Aber doch nicht zwanzig Kisten für eine Weinprobe!“

Die Katastrophe schien perfekt. „Dreißig Gäste haben sich angesagt“, tobte Bruno, „dreißig Gäste, und anstatt, dass dieser Hornochse von einem Bruder je eine Kiste von zwanzig Weinen bestellt, ordert er einen Wein, und davon zwanzig Kisten!“ Ich langte nach der schlanken Bouteille. „Ein ganz passabler Riesling“, mutmaßte ich. „Gut zu einem Bachsaibling in Estragonschaum, nehme ich an.“ „Ausgezeichnet“, murmelte Hansi. „Aber das hilft uns jetzt nicht weiter!“ Brunos Schnurrbartspitzen zitterten bedenklich. „Wie soll ich eine Weinprobe machen, wenn ich nur einen Wein habe? Wie!?“ „Warte mal“, antwortete ich. „Wenn ich mich recht entsinne, dann ist mir Linda noch einen Gefallen schuldig.“ Hansi sah mich entgeistert an. „Wie kannst Du jetzt an diese Werbeagentur denken? Meinst Du, die Weinprobe kriegt man mit etwas Reklame weggezaubert?“ „Nicht weg“, kicherte ich, „hingezaubert trifft es eher. Ich muss mal eben telefonieren.“

Zwei Stunden später saß Linda, ihres Zeichens frisch gebackener Senior Art Director von Partner Partner Friends & Partner, mit Hansi in der Küche. Die Flaschen waren längst im Wasserbad gelandet. „Die Etiketten lassen sich leicht abziehen“, erklärte die Designerin, „und Du wolltest jetzt die Probeserie haben, die wir für den Wettbewerb im vergangenen Jahr gestaltet hatten?“ „Ein Etikett pro Kiste“, bestätigte ich. Bruno beobachtete die Sache genau. „Keine Ahnung, was Du vorhast, aber ich vertraue Dir.“ Ich klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Wird schon werden.“

Die ersten Gäste trafen ein, unter ihnen Generaldirektor Hutzke und andere Weinfreunde. „Der da“, stieß Hansi mich an. „Der junge Staudinger, er hat gerade den Laden von seinem Vater übernommen.“ Dies war ein alteingesessenes Delikatessengeschäft, das der Urenkel des Gründers nun weiterführte, die Ware bleib gleich, nur die Preise wurden fürstlich. „Er wird wieder so tun, als hätte er Ahnung vom Wein.“ „Sie sind also“, eilte Generaldirektor Hutzke auf mich zu, „und heiße Sie herzlich willkommen, Herr äääh…“ Hansi rollte mit den Augen. Gut, dann sollte es so sein.

Kaum hatten wir Platz genommen, kredenzte der Sommelier den ersten Tropfen. „Wupperburger Brüllaffe“, sagte er an. Leicht und goldig glänzte der Wein im Glas, und während die anderen noch rochen, hub ein Herr im rostroten Anzug schon an. „Ein pikantes Bukett, geschmeidig, aber noch nicht groß.“ Die anderen nickten beifällig und kosteten. „Säuerlich“, grunzte Staudinger vorlaut. Schmerz durchzuckte die anderen Gäste; der Herr in Rostrot kniff die Augen zusammen. „Ganz leichter Grünton und eine grasige Note“, befand er. „Kurz im Abgang, noch keine Rasse und kaum Spiel.“ „Meine Güte“, platzte der Feinkostfritze heraus, „wenn Ihnen der Weißwein nicht passt, dann bestellen Sie sich doch eine Flasche Bier.“ Betreten sahen die Herren auf die Tischdecke.

„Gurbesheimer Knarrtreppchen.“ Geschickt hatte Hansi die Situation wieder ins Reine gebracht. Ein Kahlkopf mit mächtigem Seehundsschnäuzer gurgelte den Riesling weg. „Schön“, sagte er kurz und knapp, „nicht mehr, aber schön.“ „Wie kann ein Wein schön sein“, äffte der Juniorchef dazwischen. „Wollen Sie den heiraten?“ Schon setzte der Kahle zu einer Rechtfertigung an, doch ein halbes Dutzend Blicke zeigte ihm, dass es keinen Zweck hätte. „Schön“, bestätigte ich, „das Sortenbukett ist gut umgesetzt, noch nicht so spritzig wie die letzten Jahrgänge, aber durchaus nicht eckig.“ Staudinger glotzte. Der Rostrote nickte mir zu. „Ich finde ihn schon ein bisschen lebendiger als den letzten.“ „Sehr leicht“, sekundierte ein anderer. „Noch eine feine Apfelnote, dann wäre es perfekt.“ Langsam bildete sich ein Graben.

Drei Rieslinge später – einer davon mit üblem Böckser und einem unangenehmen Möpseln, recht brandig – lobte Generaldirektor Hutzke den Furtheimer Eselstall. „Das nenne ich adelig, ein Wein von durchaus diskretem Charakter.“ „Und so feinnervig“, attestierte der Glatzkopf. Staudinger goss sein Glas in sich hinein und fixierte mich. „Was verstehen Sie eigentlich vom Wein?“ „Das wollte ich gerade Sie fragen“, schoss ich zurück. „Immerhin“, stieß er hervor, „verkaufe ich das Zeug in meinem Laden, hören Sie? In meinem Laden!“ Indigniert schob Hansi ihm ein sauberes Glas auf den Tisch. „Sie labern doch hier nur von Abgang und Gemöpsel und haben gar keine Ahnung!“ Ich faltete die Serviette und zupfte ein Stückchen Brot auseinander. „Sie erkennen Weißwein an der Farbe, wenn’s hoch kommt, aber damit erschöpfen sich Ihre Kenntnisse. Verschwinden Sie, Staudinger. Sie haben hier nichts verloren.“ „Ein echter Kenner würde jeden großen Wein erkennen“, bestätigte der Kahle. „Aber Sie?“ Die anderen nickten beifällig.

Da reichte ich Hansi mein Glas. „Ich biete Ihnen eine Wette an, Staudinger. Herr Bückler wird mir einen beliebigen Wein aus seinem Sortiment zum Verkosten geben, und ich Ihnen sagen, welcher es ist. Und dann will ich Sie hier nie wieder sehen.“ Er grinste. „Soll ich mir die Augen verbinden?“ „Nee“, meckerte der Delikatessenkrämer, „das schaffen Sie ja auch so nicht.“ Ungerührt stellte Hansi mir das Glas auf den Tisch. „Topp!“ Ich roch. „Ein ganz rundes Bukett, leicht herzhaft, aber in sich stimmige Fruchtnoten.“ Offensichtlich langweilte er sich. „Er hat Körper“, schmatzte ich, „aber auch einen beschwingten Abgang mit einer durchaus knackigen Restsäure.“ „Na und?“ Immer nervöser beobachtete er, wie ich die blasse Flüssigkeit im Glas bewegte. „Ein vornehmer Tropfen, die Rasse zeigt sich spät, aber sie ist ungemein ausdrucksvoll. Ich tippe auf einen – warten Sie, diese weiche Andeutung von schwarzer Johannisbeere – eine gute Scheurebe ist das, recht typisch.“ „Jetzt gilt es“, sagte der Kahle tonlos. „Ich bin mir über den Jahrgang noch nicht sicher“, sinnierte ich und roch ein weiteres Mal. „Doch, es muss ein Purrnacher Welkstöckle sein. Kein Zweifel.“ Hansi lüftete die Serviette und zeigte die Flasche. „Staudinger“, sprach er mit kalter Höflichkeit, „Sie wissen ja, wo die Garderobe ist.“

Bruno rieb sich die Hände. „Den sehen wir nie wieder.“ Ich blickte mich um. „Wo ist eigentlich Hansi?“ Bruno rückte sich das Halstuch zurecht. „Hinten im Büro. Er musste gerade einmal telefonieren.“ Mir schwante etwas. Da war er, der Servicechef, und drückte sich verstohlen an der Küchentür vorbei. Als könnte er meine Gedanken lesen, drehte er sich auf dem Absatz um. Doch ich hatte die Tür schon aufgestoßen und versperrte ihm den Weg. „Was hast Du jetzt wieder ausgeheckt?“ Er schaute betreten zu Boden. „Ich hatte da nur so eine Idee“, murmelte er. „Für die Weinkarte.“





In vitro veritas

20 03 2009

Pappeln säumten den Weg. Die Sonne strahlte in den blauen Frühlingshimmel. Die endlose Chaussee entlang fuhr ich zwischen Korn- und Rapsfeldern, lange schon lag Bicklingen hinter mir, der Boden wurde lehmig, da erblickte ich das Gut Sophienhof. Majestätisch hob sich der Schlossbau in die ebene Landschaft. Kies knirschte unter den Rädern, als ich in den von Rosen bestandenen Hof rollte. Monsieur Dupont, der Schlossherr, erwartete mich bereits auf der Freitreppe. Er öffnete mir den Schlag.

„Wie ich mich freue, Sie zu sehen! Wunderbares Wetter haben Sie heute mitgebracht! Und ich verspreche Ihnen, es wird ein sehr interessanter Tag werden!“ Sein Diener Jean nahm mir den Mantel ab. Dupont zischte ihm zu: „Ah! C’con me tape sur les couilles!“ Aber es gibt eben Sonntage, an denen ich so gut wie kein Französisch verstehe.

Nach einem Gang durch den Garten – dort sah ich die Reiterstandbilder Eberhards des Prächtigen und Ludwigs des Begriffsstutzigen – führte mich Dupont in den Spiegelsaal. Jean kredenzte einige Häppchen. Durch die Fenster blickte ich auf den Gemüsegarten. Ich äußerte den Wunsch, mir zuerst einen Überblick über die Weinberge zu verschaffen. Ein mühsam unterdrücktes Prusten von Jean kam dem milden Lächeln des Hausherrn zuvor. „Lieber Freund“, antwortete er mir, „hat man Ihnen denn so gar nichts von meinem Weingut erzählt?“ Ich bedauerte. So begann ein wirklich interessanter Tag.

„Wein“, sagte Dupont, während er mir in den Schutzkittel half und Jean die Plastikhaube für den Kopf anreichte, „ist chemisch nicht sehr viel mehr als Wasser, Alkohol sowie eine wechselnde Anzahl von bestimmten Geschmacks- und Geruchsstoffen. Warum sollten wir uns die Mühe machen, das ganze Zeug aus Trauben herzustellen? Noch dazu mit einer solchen Unsicherheit, weil wir vom Wetter und ähnlichen Dingen abhängig sind?“ Ich begriff erst nicht. Dupont sprach es aus. „Wir stellen den Wein komplett synthetisch her. Bessere Qualität werden Sie auf dem ganzen Markt nicht finden.“

Das halbe Kellergeschoss nahm der Abscheider ein. Eine schäumende Flüssigkeit lief in langen Schläuchen an der Decke entlang. „Wir verwenden nur höchste Qualität. Billiges Bier können wir uns nicht leisten.“ Bier? „Natürlich Bier. Irgendwo muss der Alkohol herkommen. Diese Anlage trennt den Rohstoff in alkoholfreies Bier“ – hier zeigte er auf ein gewaltiges Fallrohr, das im Boden verschwand – „und bierfreien Alkohol.“

Die Räume im ersten Stock beherbergten eine ansehnliche Anzahl von Laboren. „Hier sehen Sie die Produktion von Shikimisäure. Dort drüben ist unsere Polyphenol-Abteilung. Und direkt vor Ihnen ist das Forschungslabor. Wir arbeiten gerade an gewissen Oxidationen, um Alkansäuren zu verestern. Das ist der letzte Pfiff, der den Weingeschmack wirklichkeitsgetreu macht.“ Ob das denn tatsächlich nach Wein schmecke? Dupont öffnete einen der in der Wand eingelassenen Zapfhähne und ließ die goldgelbe Flüssigkeit in ein Glas rinnen. „Zum Wohle! Sie verkosten gerade einen frischen Gewürztraminer, Herstellungsdatum: heute Vormittag.“ Es roch nach Mandel und bitterer Orange, Nelken und Anis. Ein köstlicher Tropfen.

„Bisher haben wir nur Weißweine hergestellt. Sie sind verhältnismäßig einfach. Gut drei Dutzend Aromen werden im Gaschromatographen analysiert und in der richtigen Menge zusammengesetzt. Aber wir experimentieren bereits an den ersten Rotweinen. Die sind chemisch viel komplizierter. Und sie schmecken auch noch ein bisschen kantig.“ Ich nahm ein zweites Glas, um mit meinem Gastgeber anzustoßen, doch er wehrte entschieden ab. „Wissen Sie, ich trinke keinen Alkohol. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht die leiseste Ahnung von Wein. Aber müsste ich das auch?“ Pikiert fragte ich ihn, warum er als Chemiker sich nie mit Weinen beschäftigt habe. Wie überrascht war ich, als Dupont hell auflachte. „Ah non! Sie verkennen mich! Ich bin Philosoph. Gerade sitze ich an einem Werk zur Rezeption von Blaise Pascal. Ein Kapitel über Nietzsche ist fertig. Ich zeige es Ihnen gerne.“

Ob ich wollte oder nicht, es beschäftigte mich doch. „Monsieur“, fragte ich ihn, „halten Sie es als Philosoph für ethisch vertretbar, unreinen Wein einzuschenken?“ Er lächelte. „Wenn Sie mir erlauben, Moses Saphir zu zitieren: ‚Der Wein und die Wahrheit sind sich nur insofern ähnlich, als man mit beiden anstößt.‘ In Amerika sind künstliche Weine längst Normalität. Man panscht Chemikalien zu neuen Sorten zusammen oder kontrolliert den Output – keine charakteristischen Jahrgänge, dafür ein stereotyper Einheitsgeschmack, den dieses Volk so schätzt. Auch australische und neuseeländische Weine solcher Machart werden hier gehandelt, die EU hat nichts dagegen einzuwenden. Nur in Ihrem schönen Land werden die Weine noch nach natürlicher Methode hergestellt.“ „Dennoch verstehe ich den Aufwand nicht“, hakte ich nach, „dies Verfahren ist umständlicher und teurer, als Spitzenweine auf die übliche Art zu erzeugen.“ Dupont gab mir Recht. „Es kann also nur Ihr Ziel sein, dekadenten Weinnasen einen überteuerten Chemiecocktail zu verkaufen.“ „Ich sehe“, gab er zur Antwort, „Sie haben es verstanden. In der Tat, ein philosophisches Experiment. Ich bitte um Pardon, wenn ich mich vorhin etwas degoutant ausgedrückt haben sollte. Man ist so oft mit der Dummheit des Pöbels gestraft, der einfach nicht begreifen will, was er doch sieht.“

Jean begleitete uns ins Arbeitszimmer, wo ein Tischchen mit Räucherfisch und Salaten nebst frischem Weißbrot uns erwartete. Das Porträt des Schlossherrn hing über dem Kamin. Unter dem Fenster stand ein geräumiger Käfig, in dem zwei Wiesel sich um ein Stück Hühnerfleisch balgten. Monsieur Dupont öffnete eine Flasche Sophienbräu. „Ich erlaube mir? Meine Hausmarke. Sie müssen schließlich noch fahren.“





Dinner for anderthalb

20 01 2009

Man kann Silvester in illustrer Umgebung feiern, dem neuen Jahr sein sauer Erspartes ins Knie böllern oder auf Festivitäten erscheinen, bei denen Lauträume unter Alkoholika stehen. Ich bevorzuge das Illustre. Weshalb ich grundsätzlich zu Hause bleibe und koche. Dann aber richtig.

Denn haben wir nicht in der Vorweihnachtszeit schon die Geschmacksnerven austrainiert und dabei manches gespart – hier eine halbe Ente, dort ein Pfündchen Spekulatius auf Firmenkosten – dass man die restliche Barschaft in einen gründlichen Fünfgänger investieren könnte?

Nun fiel nach Fisch- und Filetexperimenten die Wahl auf ein Bœuf bourguignon. Nichts gegen die französische Küche. In richtigen Portionen ist sie genießbar. In großen nämlich. So wälzte ich Rezepte, verglich, besorgte Zutaten, maß, zählte, wog. Das letzte Jahreshoroskop muss mich betrogen haben. Weder bin ich dem Glück begegnet, noch habe ich eine nennenswerte Erbschaft angetreten. Und finden Sie mal Champignons, die nicht nach Matratze schmecken.

Nun gestehe ich, drei Stilbrüche begangen zu haben. Obendrein aus Absicht. Erstens habe ich den stereotyp durch die Rezepte geisternden Thymian verschmäht. Gut, das Kräutlein soll derart aphrodisierend wirken, dass sich die alten Römer vor dem gemeinsam wie öffentlich vollzogenen Verkehr davon kräftig auf die betreffenden Körperteile schmierten – noch heute behandelt man junges Geflügel ja vorwiegend an der Innenseite damit, was aber mit seiner halluzinogenen Wirkung nichts zu tun haben dürfte. In die Gans damit, meinetwegen. Selbst in der Bratwurst sei er wohlgelitten. Warum aber das Aroma des 3-(3,4-Dihydroxy-phenyl)-acrylsäure-1-carboxy-2-(3,4-dihydroxy-phenyl)-ethylesters nicht daher nehmen, wo es im Naturzustand rein und weihrauchähnlich duftet? Rosmarin ist die Antwort auf so gut wie jede Frage, die mit Rind beginnt.

Zweitens das Fleisch. Sicher doch, der Kenner wählt das marmorierte Nackenstück, freut sich am Fett und schwärmt, dass sich das Ding innerhalb einer Stunde mürbe schmurgeln ließe. Wozu aber? Hat er keine Zeit, kratzen die Gäste bereits an der Gartenpforte? Ich nahm ein Stück aus der Hesse, akkurat so mager wie Germany’s nächster Kleiderständer, nur besser zum Ossobuco geeignet als derlei Rippenbeilage. Es schmort länger, doppelt so lang gar – und hat dadurch mehr Zeit, wird nicht nur ungemein zart, sondern zeigt auch Einsicht im Dialog mit Knoblauch und Karotten.

Drittens der Burgunder. Ich fand keinen. Einen Grand Cru anzugießen bereitet mir keine ethischen Probleme, nur bin ich halt ein einfacher Mann. Pinot kann man inzwischen auch aus der Pfalz trinken, ohne von der Geschmackspolizei ausgepeitscht zu werden, und mit Bordeaux macht man nichts falsch, wenn man’s richtig macht. Nehmen Sie dazu eine durchschnittliche Studentin, gerne Jura bis Betriebswirtschaft, üblicherweise geschmacksneutral in Höhe des billigeren Merlot positioniert, stellen Sie sie vor ein Weinregal (nicht im Discounter, wenn Sie es schon nötig haben, Studentinnen anzuquatschen, dann kennen Sie gefälligst auch einen Weinhändler beim Vornamen) und lassen Sie sie einen verdammt guten Tropfen für Samstag auswählen, auf Ihre Kosten selbstverständlich – jetzt den Preis knapp verdoppeln, und es wird ein gemütlicher Abend. Wenn Sie die Studentin vorher irgendwo zwischen Käsetheke und Kurzwaren aussetzen.

Nun fand zusammen, was einfach zusammen gehört: Rind, Rosmarin, Wein. Ein Durdreiklang. Hingegen konnte ich dem Bordeaux nicht widerstehen, ich musste kosten. Der spätere Abend (oder was immer ich dafür hielt) bescherte mir eine improvisierte Unterhaltung, die durchaus geistreich gewesen sein könnte. Ich habe nur keine Erinnerung mehr daran.

Wie gesagt, der Rosmarin. Da er frisch war, griff ich zu. Und marinierte. Es geriet alles etwas schneidig. Kaum hatte ich den glasigen Speck wieder aus dem Topf gehebelt, angebraten, abgelöscht, da duftete die Küche wie eine Nachtapotheke beim Einbruch mit Glasschaden. Was sage ich, das Stockwerk stand unter olfaktorischem Sperrfeuer. Intensität ist eines, dies jedoch war ein ernsterer Fall von kulinarischem Neorealismus. Die bissfesten Strozzapreti milderten manches, auch wurde die Sauce nach zwei Stunden schon deutlich toleranter, was ihre Tendenz zur Amalgamierung anging. Aber wir wollen uns nichts vormachen, ich hatte ein Symbol von Nachhaltigkeit auf dem Teller. Der Gedanke von Magenbitter als Raumspray drängte sich auf.

Am Neujahrsabend jedoch ereignete sich ein Wunder, die Aromen begannen zu flirten – noch hielt sich der Bordeaux im Fleisch, noch neigten die Pilze deutlich zum Rosmarin, aber sie machten einander schon deutlich an. Am dritten Tage hatten sie hinterrücks einen Treueschwur hinter sich gebracht. Es hätte so bleiben können.

Sollte Sabine überraschend vor meiner Tür stehen und vehement das neulich versprochene Abendessen einfordern, ich würde ihr nichts abschlagen. Und schnell etwas aufwärmen. Was ja nun geradezu ein Zeichen von Wertschätzung darstellt, dialektisch betrachtet.