In der grünen Hölle

16 03 2009

„Ganz vorsichtig“, mahnte Professor Wedekind, „der Extrakt ist unbezahlbar. Elf Jahre Forschung stecken darin.“ Ehrfürchtig stellte ich das Fläschchen auf den Tisch. Ich war ein lausiger Chemie-Schüler gewesen, hatte im Unterricht meist die Lateinübersetzung der vorangegangenen Stunde erledigt und wusste gerade mal, dass man kein Wasser in Säuren gießen soll. Doch dieser Wissenschaftler von Weltruf machte mich neugierig auf seine Entdeckungen.

„Die Chemie steht vor einer Revolution, junger Freund. Mit meiner Kondensationsmethode werden wir Aromastoffe herstellen, die keines Menschen Nase je gerochen, keine Zunge je geschmeckt hat.“ Er hielt einen Flakon in die Höhe. „Kirscharoma – Sie kennen es aus jedem beliebigen Fruchtjoghurt. Doch mein Verfahren vermag Unglaubliches.“ Er tunkte eine Nadelspitze hinein, die er in ein großes Wasserbecken hielt. Einen Teelöffel schöpfte er nun in ein Trinkglas und füllte es mit Sprudel auf. Ich kostete. „Kirschlimonade! Ein Viertelliter, und die Weltmeere schmecken für ein Jahr wie Kirschsaft.“

Nun war ich gespannt, was der Professor an Düften auf Lager hatte. „Passen Sie mal auf.“ Und er sprühte eine blassgelbe Flüssigkeit auf ein Pappkärtchen, das er mir unter die Nase hielt. Es duftete intensiv nach wilden Rosen. Rasch verging das Parfüm – doch nein, es wurde zu Flieder und dann zu Waldmeister, changierte zwischen Koriander, frisch gemähtem Gras und Akazie, bevor es über sonnenwarmes Holz in Erdbeeren überging und schließlich als Anis sich verflüchtigte. Ich war beeindruckt. Wedekind schmunzelte. „Rindsbraten und Rotwein hätte ich auch im Angebot. Aber das sparen wir uns wohl besser fürs Duftfernsehen auf.“

Ganz beiläufig zog ich den Stopfen aus einem Glasballon und roch daran. Meine Augen begannen zu tränen. Professor Wedekind sah es und zog mich an den Schultern fort. „Um Himmels Willen! Sie dürfen doch nicht einfach die Dämpfe einatmen!“ Das Beißen ließ nach, aber ich sah verschwommen. Sein Gesicht schien grün anzulaufen. „Ich hoffe, dass Sie keine Beeinträchtigungen haben.“ Er leuchtete mir in die Pupillen. „Etwas getrübt. Grün, sagen Sie? Ich rate Ihnen, schnell nach Hause zu gehen. Morgen dürfte es sich bessern.“

Noch immer waren meine Linsen getrübt. Teils waren die Farben wieder normal, doch manchmal tanzten grüne Punkte vor mir. Der Springbrunnen vor dem Institut spie grünes Wasser, die grünen Hunde verschwanden im Rasen, die Blutbuche leuchtete grünlich in den Sommerhimmel.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Das Marsmännchen in der blauen Uniform sah mich mitleidig an. Ich machte ihm eine schwere Magenverstimmung weis. Er klopfte mir auf die Schulter. „Ruhen Sie sich mal aus. Gute Besserung! Sie sehen ja ganz grün im Gesicht aus.“ Sofort trat ich vor das nächste Schaufenster. Pistazienfarbene Schuhe und Handtaschen aus Farn lagen auf Dschungelkissen. War das die neue Mode? Ich wandte mich um, ging auf die Ampel zu, die grün aufleuchtete, und überquerte die Straße. Reifen quietschten, der Transporter brach aus und prallte gegen einen Laternenmast. Die Plane platzte. Grüne Orangen flogen heraus. Sie bedeckten den smaragdfarbenen Rotkohl vor dem Gemüseladen.

Ich rannte um mein Leben. Versteckte mich hinter einem grünen Briefkasten und ging bei einer grünen Telefonzelle in Deckung, hinter der grünen Stromreklame und der Litfaßsäule mit der grünen Schokoladenkuh. Flüchtig streifte mein Blick die giftig grünen Wahlplakate. Mehr Sicherheit – Kinder und Jugendliche wegsperren! las ich, und: Für soziale Gerechtigkeit – Deutsche Arbeitslosigkeit den Deutschen! Da war mir klar, ich war in der grünen Hölle.

Endlich hatte ich den Stadtpark erreicht. Hier im Grünen würde mich keiner entdecken. Ich ließ mich auf einer apfelgrünen Bank beim jadefarbigen Teich nieder und verschnaufte.

„Sie haben nicht zufällig ein Stückchen Brot dabei?“ Wer sprach da? Neben der Bank watschelte eine grüne Ente vorbei. „Sie riechen ein bisschen auffällig nach polyzyklischen Kohlenwasserstoffen. Genau wie die Joghurtbecher, die die Spaziergänger immer neben die Papierkörbe werfen.“ Verwundert fragte ich den Vogel, was er davon wisse. „Einiges. Wir sind schließlich mit Ihren Hinterlassenschaften konfrontiert. Man bildet sich weiter.“ Jetzt erst fiel mir auf, dass mich die Ente verstand. Doch ich hatte mich gründlich geirrt. „Nicht ich habe Ihre Sprache gelernt, Sie verstehen meine. Nun gut, erzählen Sie.“ Und der Erpel – ich hatte ihn inzwischen als Stockentenmännchen erkannt – flatterte auf die Bank.

Die ganze Geschichte erzählte ich ihm. Von Professor Wedekinds Veilchenextrakt bis zu den mysteriösen Dämpfen. Der Erpel wiegte sein Köpfchen und sinnierte. Er schnatterte schließlich: „Ich will es Ihnen verraten. Wenn Sie demnächst mit Brot wiederkommen.“ Einen Korb Weißbrot versprach ich ihm. Vergnügt quietschte er. Wie ein Gummientchen. „Sehen Sie den Ahorn da hinten? Pflücken Sie ein paar Blätter. Sie müssen sich die Augen damit ausreiben.“ Aufmunternd nickte er mir zu. Ob ich es nicht lieber zu Hause versuchen sollte? Andererseits würde ich bereits beim Betreten meiner Wohnung einen Picasso aus der grünen Periode sehen. Das konnte ich nicht riskieren.

Es erwies sich als schwierig, die untersten Blätter zu pflücken. Doch schließlich gelang es mir. Schnell rieb ich mir die Augen aus. Einen Moment lang sah ich gar nichts mehr, dann fiel es wie ein Schleier vor mir ab. Hinter den blassbraunen Matten des Parks erhob sich in frischem, frühlingshaftem Grau das Verwaltungsgebäude des Margarinekonzerns. Pinkfarbene Mütter schoben grellgelbe Kinderwagen über schmutzige Kieswege, auf denen grellrote Dosen lagen. Ich blickte zum graublauen Wasser. Der Stockenterich war wieder ans Ufer gewatschelt und drehte sich zu mir um, als er mich sah. „Rräpp“, sagte er, und noch einmal: „Rrrräpp!“

Voller Sorge rief mich Professor Wedekind am nächsten Tag an. Ich beruhigte ihn. „Alles halb so schlimm. Die Beschwerden sind abgeklungen. Alles wieder in Ordnung.“ Er war sichtlich erleichtert. „Was da alles hätte passieren können! Man weiß ja nie, was in so einer Tinktur alles steckt. Geht es Ihnen wirklich gut?“

Ich besänftigte ihn. Es habe so gut wie keine Nebenwirkungen gegeben.