Fluchthelfer

15 11 2023

Der Eingangsbereich sah aus wie eine aus dem Ruder gelaufene Dekorationsabteilung im Möbelhaus, in die sich ein Unternehmensberater verirrt hatte; seltsam bunte Plastikformen, wie aus den 1970er-Jahren in den ehemaligen Kindergarten gebeamt, standen auf Kunstrasen, ab und zu eine psychedelisch anmutende Sitzschale, dazu an den Wänden die üblichen Motivationsbilder mit Steinen und Sandstrand nebst pseudoasiatischen Sprüchen. Ich fühlte mich spontan unwohl, dabei war ich doch gerade hier, um das Gegenteil zu erreichen.

„Sie dürfen gerne die Schuhe ausziehen“, teilte mir die Therapeutin mit. Da ich vermutete, dass ein Teil der Besucher genau dies tun würde, nahm ich lieber Abstand davon. Wir gingen in den Flur, wo die kleinen Zimmerchen, abwechselnd bunt oder neutral verziert, die Gäste bei den unterschiedlichen Verrichtungen zeigten. „Dies hier zum Beispiel ist unsere Blumenmeditation.“ Eine Frau im lockeren Gewand steckte allerhand Plastikblumen in eine Reihe von Plastiktöpfen, aber immerhin sah sie bei der Übung recht entspannt, wenn nicht schon leicht schläfrig aus. „Wir achten immer auf Befreiung von den täglichen Anspannungen“, erklärte die junge Dame in der pink-orangen Bluse mit dem Logo der Einrichtung. „Nur so sind Sie nach einer Einheit in unserem Haus wieder in der Lage, am normalen Leben teilzunehmen, ohne dass es sofort wieder zu Rückfällen kommt.“

Im Hof schmiss ein Mann Steine gegen einen Blecheimer. Zunächst hatte ich angenommen, er würde sie in den Eimer werfen, doch die Steine wurden zusehends größer, und der Eimer wies auch schon etliche Beulen auf. „Das ist normal?“ Sie nickte vorsichtig. „Wir haben viele therapeutische Wege, und wenn Sie sich danach besser fühlen, ist das vollkommen okay.“ „Darf ich fragen, mit welcher Diagnose er Sie aufgesucht hat, oder unterliegt das der Schweigepflicht?“ Sie druckste ein bisschen herum, doch dann antwortete sie. „Er wollte sich Solarzellen aufs Dach bauen, aber der Antrag wurde ständig zurückgewiesen, weil die Ämter die Fristen verpasst hatten und ihre eigenen Formulare nicht mehr lesen konnten.“ Ich stutzte. „Ihre Zeitungsanzeige hatte doch mit ganz anderen Therapieformen geworben?“ Sie nickte. „Er ist ein Altfall, wir behandeln inzwischen größtenteils die Besucher, die einer Alltagsentlastung bedürfen.“

Sinnfällig wurde das in einem anderen Zimmer, wo zwei kräftige Männer in Schutzkleidung auf einen alten Fernseher eindroschen. „Ich kenne das von technischen Geräten“, sinnierte ich, „man haut auf einen Drucker, weil aus dem Mistding einfach nichts rauskommt.“ „Das war unsere Inspiration“, bestätigte meine Führerin, „allerdings haben wir diese Behandlung, weil aus dem Fernseher eben doch noch etwas kommt.“ Ich begriff. „Man ist heute täglich Nachrichten ausgesetzt, die man kaum noch erträgt, aber wer würde schon seinen eigenen Fernseher eintreten?“ Dass man das im Affekt tun würde, hätte ich tatsächlich für möglich gehalten, nur eben nicht mit voller Absicht. „Sie dürfen hier auch Radios vom Dach schmeißen“, informierte sie mich, „allerdings wird das eher selten nachgefragt.“

Aus einem der Zimmer roch es süßlich, ich wollte gar nicht wissen, was die beiden Frauen da drinnen rauchten. Aus einem anderen Raum tönte markerschütterndes Geschrei. Ich sah auf den leicht angeschmutzten Kunstrasenteppich. „Haben Sie eventuell etwas Meditatives, das nicht so viel Krach macht?“ Die Therapeutin überlegte kurz. „Wir bieten fast alles an, was von uns verlangt wird, aber es sind ja auch meist Dinge, die man zu Hause so nicht tun kann.“ Ich verstand. „Wenn man seinen Fernseher nicht zertreten will.“ Sie nickte. „Oder andere Sachen raucht.“

Zu Hause würde ich den Fernseher gar nicht erst anschalten, die Zeitung nicht lesen, die Reklame auf den Tafeln am Hauptbahnhof ignorieren und auch ansonsten jedem Gespräch aus dem Weg gehen, um mich aus der Wirklichkeit herauszuhalten. Dazu bedurfte es dieses Hauses nicht, das sich in seiner bunten Einrichtung ausnahm wie ein Spielplatz zur mittelfristigen Aufbewahrung von Kindern, die nicht nach Hause wollten. „Wir sind hier eine Art Fluchthelfer“, erklärte sie. „Die Leute kommen auf die verrücktesten Ideen, um sich die Außenwelt vom Leib zu halten, und wir arrangieren es, so gut wir können.“ Ein Blick in den Hof verriet mir, dass es nicht nur mit Steinen getan war; inzwischen schmiss der Mann Stühle und schrie das Gerümpel auf dem Boden an, als würde er damit irgendetwas an der Realität ändern können. Aber vielleicht war es auch komplizierter, als es für mich aussah. Ich hatte ja auch bisweilen die Vorstellung, diese Leute, die im Fernsehen zwanghaft ihre Dummheit unter Beweis stellen mussten, zusammenzuschlagen und aus dem Dachfenster zu schmeißen. Die Steine und Stühle wären nur ein Ersatz dafür, aber immerhin würde ich danach dieses Haus ohne größere Schwierigkeiten wieder verlassen können.

„Mein Vorschlag“, begann ich, „ich würde mir gerne etwas überlegen, das sich ohne größere Mühe für Sie realisieren ließe, und dann melde ich mich noch einmal.“ Sie blickte skeptisch; sicher hatte sie schon zu oft nach einem Erstgespräch keine weitere Sitzung mehr mit den Kunden. Da wurde eine Tür aufgerissen. Zwei kräftige Männer zerrten einen älteren Herrn über den Kunstrasen. „Ausländer raus“, kreischte er, während sie ihn in Richtung Ausgang stießen. „Ausländer raus!“ „Sie sehen“, konstatierte die Therapeutin, „die Menschen haben eine durchaus individuelle Art, die Wirklichkeit zu verdrängen.“