Grenzfälle

26 06 2012

„Die Schuhe bitte ausziehen, dann in den weißen Anzug, danach in den blauen Anzug, dann wieder in den weißen, und dann bitte die Schutzbrille aufsetzen. Und bitte vergessen Sie nicht, Ihre blaue Schutzkappe über den Sturzhelm zu ziehen!“ Ich sah aus wie auf einer Expedition zum Mars, aber anders kam man nun einmal nicht hinein in dies streng geheime Labor tief unter der Hauptstadt. Der Förderkorb fuhr tiefer und tiefer; grell blitzte alle zehn Meter ein Licht im Schacht auf, bis ich das unterste Geschoss erreicht hatte. Hier warteten die letzten Geheimnisse der Materie auf mich.

„Es ist schon etwas kompliziert mit diesen Verwaltungsvorschriften“, tröstete mich Direktor Frintsch. „Normalerweise dürfen Sie sich keine Sicherheitshandschuhe anziehen, wenn Sie nicht schon Sicherheitshandschuhe tragen, aber das ist letztlich nicht möglich – ziehen Sie sich einfach ein Paar Sicherheitshandschuhe über, dann können Sie sich auch Sicherheitshandschuhe anziehen.“ Ich fummelte mir die unförmigen Kunststofffäustlinge an die Finger. Die dreifache Schicht aus wasser-, öl- und säurefestem, nicht brennbarem, explosions- und reißbeständigem Stoff in modischem Karo (Hellgrau auf Altweiß) engte nur wenig ein, nicht viel mehr als ein Taucheranzug einen Schneemann.

Alle paar Meter zweigte eine Tür in eine kleine Forscherwerkstatt ab. Hier wurden die tiefsten Tiefen des Seins ergründet, Bosonen, Fermionen und Quarks. „Wir sind dem Quantensprung sehr nah“, verkündete Frintsch, „sehen Sie sich das nur einmal an.“ In der kleinen Zelle experimentierte ein Wissenschaftler mit ferngesteuerten Roboterarmen in einem luftdicht abgeschlossenen Glaskasten. „Sehen Sie es sich nur einmal an – es ist wahrhaft epochal!“ In den Griffzangen der Roboterhände befand sich eine Kondensmilchpackung. Vorsichtig drehte er sie hin und her, stellte sie auf die Spitze, legte sie wieder auf den Boden und setzte den Griffhebel schließlich an der kleinen Seitenlasche an. Mit einem Ruck rissen die Roboterfinger das Plastiktöpfchen auf; Milch spritzte im ganzen Kasten umher. „Gut“, seufzte Frintsch, „es kann ja auch nicht immer alles klappen. Jedenfalls haben wir bewiesen, wie sich schlagartig kleine Partikel in ein niedrigeres Energieniveau überführen lassen. Wenn wir es jetzt noch schaffen, eine solche Kondensmilchdose aufzureißen, ohne ihren Inhalt komplett zu entleeren, haben wir den nächsten Nobelpreis so gut wie in der Tasche.“

Kleine Schilder an der Tür verrieten die vielen Forschungsprojekte, die in dieser Stätte bearbeitet wurden. „Einige Studien führen wir durch in internationalem Auftrag, andere werden von Ihren Steuern bezahlt.“ „Und diese hier?“ Ich zeigte auf einen Raum, in dem mehrere Forscher sich durch meterlange Papierfahnen wühlten. „Auf die trifft beides zu. Wir forschen über die Deutsche Bahn.“ Die dick vermummten Männer bewegten sich wie lethargische Schildkröten durch den Wust von Papierbahnen, der sich von einem langen Tisch zu Boden wanden. „Wir haben immer noch nicht herausgefunden, wie man mit einer solche Präzision Verspätung haben kann – aber es scheint ja möglich zu sein. Und wenn wir fertig sind, haben wir eine große Versuchsreihe für die Raumfahrt.“ „Sie forschen über den Börsengang?“ Frintsch verneinte. „Wir interessieren uns nur für die Klimaanlagen.“

Eine Assistentin kam ins Labor gestürzt. „Ich habe die letzten Proben mitgebracht“, keuchte sie. „Hier sind sie!“ Damit hielt sie zwei kleine Blecheimerchen in die Höhe, der eine mit weißen Socken gefüllt, der andere mit schwarzen. Frintsch zog die Nase missbilligend hoch. „Das ist doch streng geheim“, knurrte er. „Aber die Maschine hat diesmal wieder eine…“ „Ich will nichts mehr hören! Zurück in die Waschküche!“ Die Assistentin war nicht zu beruhigen. „Herr Professor, wir haben ein ultrastabiles Feedback-System gefunden, mit dem wir die Existenz kosmologischer…“ Er knallte den Eimer auf den Tisch. „Jetzt aber Abmarsch ins Paralleluniversum“, herrschte er die junge Wissenschaftlerin an. Hektisch entfloh sie. „Es handelt sich um den Versuch, das Verschwinden der schwarzen Socken in der Waschmaschine zu erklären?“ Frintsch schüttelte den Kopf. „Denken Sie doch mit! Es ist eine Maschine, die genau die Socken wieder ausspuckt, die in sie eingefüllt worden waren.“ „Warum gerade die?“ Er seufzte. „Wäre es sonst ein unerklärliches Geheimnis?“ Ich schwieg betroffen.

In der psychologischen Station war nicht viel zu sehen. Der Proband hockte in einem Metallzylinder und grinste stumpfsinnig in die Kamera hinein. „Grenzfälle der FDP?“ Frintsch nickte.

Hier also, tief unter der Spree, tief unter dem Reichstag und dem Brandenburger Tor forschten emsige Wissenschaftler, ob man Lottozahlen vorhersagen könne, ob sich homöopathische Tropfen und Informationswasser durch Terpentin ersetzen ließen (und welche Verbesserungen davon zu erwarten wären), ja man experimentierte sogar mit einem komplett von Volksmusik und Talkshows bereinigten Fernsehprogramm. „Sie haben sich ja einiges vorgenommen“, sprach ich anerkennend. Frintsch lächelte geschmeichelt. „Ja, wir schreiben hier Wissenschaftsgeschichte. Und dafür dringen wir hier in Bereiche vor, in denen noch kein Mensch je gewesen war. Es ist völlig unglaublich.“ Er öffnete die Klappe der Kühlbox, zog ein längliches Objekt hervor und legte es vor mich hin. Es war eine deutsche Leberwurst. Frintsch blickte mich gebannt an. „Wir werden es herausfinden!“


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