Schwungvoll schloss Hildegard das Küchenfenster. „Ganz grau“, konstatierte sie. „Von Osten her zieht es so dunkel auf, es wird heute mit Sicherheit noch regnen. Wir sollten einen Spaziergang machen.“
Ihre Logik ist, man kann es nicht verleugnen, weiblich. Immerhin wird es damit selten langweilig. „Ich schlage vor“, begann ich vorsichtig, „dass wir zunächst eine ausführliche Erörterung abhalten, welche Ausflugsziele sich in Anbetracht der Uhrzeit und der klimatischen Verhältnisse als geeignet erweisen könnten.“ Sie ließ sich nicht beirren. „Wir werden am besten einfach ins Blaue hinausfahren. Und damit meine ich, dass ich jetzt keine große Diskussion möchte.“ Möglicherweise hatte ich den Befehlscharakter ihres Vorschlags unterbewertet, jedenfalls begann sie umgehend damit, sich in grobes Zeug und festes Schuhwerk zu kleiden. „Ich werde also die Zeitung für die nächsten Wochen abbestellen“, informierte ich Hildegard, „und ich sage Jonas für Sonntag ab.“ Sie sah mich nur an. „Ich dachte, wie Du Dich gerade kostümierst, wird es mindestens eine dreiwöchige Alpenwanderung werden.“
Der Schuhlöffel schlug neben mir auf dem Boden auf; Hildegard hatte ungenau gezielt. „Denk an den Schirm“, mahnte ich sie. Sie reagierte prompt. „Wenn ich jetzt einen Schirm einpacke, wird es natürlich sofort zu regnen anfangen.“ Das leuchtete mir sofort ein, wenngleich sie sonst das Gegenteil behauptete. „Außerdem wirst Du den Schirm überall liegen lassen, und ich schleppe nicht die ganze Zeit einen Schirm mit, damit Du ihn liegen lässt und ich nass werde.“ „Moment“, unterbrach ich sie. „Wenn wir also mit dem Schirm losgehen, werden wir nass, weil es regnet, weil wir mit dem Schirm losgehen?“ „Deshalb bin ich auch dafür, dass wir ohne den Schirm losgehen – Du wirst ihn nicht liegen lassen, und deshalb wird es nicht regnen.“ „Weil ich ihn nicht liegen lasse, oder weil wir ohne den Schirm gehen?“ Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich zwei Schuhlöffel besitze.
Gemächlich rollten wir die Landstraße entlang. Über uns zogen graue Wolken, es wehte ein böiger Wind. „Wenn wir schnell genug fahren, sind wir in Koogsbüttel, bevor es losgeht.“ Hildegard krampfte die Hände ins Lenkrad und beschleunigte den Wagen. Ich schwieg. Ein falsches Wort hätte das fragile Gleichgewicht aus der Balance gebracht, und ich wollte unter keinen Umständen wieder mit alten Geschichten ankommen, wiewohl sie mir lebendig vor Augen standen. Vor einigen Jahren waren wir zu nachtschwarzen Zeiten Richtung Mittelmeer aufgebrochen, und pünktlich zu Mittag riss meine Gefährtin jäh das Steuer herum, grätsche auf die Gegenspur und raste mit stierem Blick gen Heimat. Bis zum Abend war sie nicht ansprechbar gewesen. Mit quietschenden Reifen hatte sie vor dem Haus gehalten, war wie von der Tarantel gestochen aus dem Auto gestürzt, ins Obergeschoss gelaufen, und dann kam sie heiteren Schrittes und sichtlich entspannt wieder zurück. „Wir können“, teilte sie mir mit, ließ den Anschnallgurt klicken und drehte den Zündschlüssel. „Ich wollte nur wissen, ob wir die Schirme dabei haben.“
Ein leichtes Sprühen auf der Frontscheibe ließ sich nicht mehr leugnen. „Das ist kein Regen“, belehrte mich Hildegard, „die Luftfeuchtigkeit fällt aus. Sozusagen überschüssiges Kondenswasser.“ Ich biss mir auf die Zunge. „Man findet das meist in der Nähe von Regengebieten. Also außerhalb der eigentlichen Regengebiete. Weit außerhalb. Sehr weit außerhalb.“ Nichts hätte mich dazu gebracht, ihr zuzustimmen. Außerdem konnte ich gerade nicht weglaufen.
Wenigstens ging an der Uferpromenade eine leichte Brise. Die Regenfront war noch etwas entfernt. Am Hafenrand verkauften einheimische Händler Fischbrötchen, Buddelschiffe, maritime Souvenirs, Fischbrötchen, Aquavit, Seekarten sowie Fischbrötchen. Hildegard sah skeptisch zum Himmel empor. „Und wenn es jetzt doch regnet?“ „Das ist ausgeschlossen“, antwortet ich im Brustton der Überzeugung. „Du hast keinen Schirm bei Dir, also kann es nicht regnen.“ „Moment“, hakte meine Beste ein, „Du hast den Schirm nicht mitgenommen! Wenn ich nass geregnet werde, dann bist ausschließlich…“ „Es kann nicht regnen“, kürzte ich die Debatte ab. „Da Du beschlossen hast, dass es nur regnet, wenn ich den Schirm dabei habe, ist die augenblickliche Niederschlagsneigung so gut wie nicht vorhanden.“ Sie knirschte mit den Zähnen. „Es würde aber doch nicht regnen, wenn Du den Schirm wenigstens nicht immer überall liegen lassen würdest!“ „Deshalb hast Du ja auch keinen dabei“, antwortet ich seelenruhig und biss in mein zweites Fischbrötchen. Es sah tatsächlich etwas nach Regen aus. Möglicherweise lag das aber auch nur am Wetter.
Leicht, aber gleichmäßig setzte der Nieselregen ein, erst sanft, dann jedoch mit unerwarteter Stärke. Es goss in Strömen. Hildegard zog ihre Jacke am Kragen zusammen. „Das hätte doch wirklich noch warten können“, schimpfte sie. „Wer hätte damit gerechnet – abgesehen von den Gewitterwolken da hinten war der Himmel doch quasi völlig blau.“ Ich blickte gebannt in den endlosen Strom, der sich vor der Fischbrötchenbude aufs Pflaster ergoss. „Jetzt sag doch auch etwas!“ Stattdessen ergriff ich ihre Handtasche, öffnete den Reißverschluss und holte einen Taschenschirm heraus. „Da ich keinen Schirm mitnehmen sollte, habe ich ihn Dir gegeben.“ Fassungslos sah sie mir zu, wie ich den Schirm öffnete. „Und ich habe ihn nicht einmal irgendwo liegen lassen.“ Sie schnappte sich wutentbrannt den Schirm und stampfte durch den prasselnden Regen; ich kam kaum nach. Erst in der Mitte der Promenade drehte sie sich abrupt um und schrie mich zornig an. „Du hättest ihn wenigstens im Auto lassen können. Was meinst Du wohl, warum es jetzt regnet!?“
Satzspiegel