Freundschaft!

22 03 2022

„Kein Zucker? nee, hier ist kein Öl. Keinen Zucker gibt’s da drüben. Könnten Sie eventuell auch etwas freundlicher gucken, wir sind hier im Einzelhandel. Wenn Sie Ihre schlechte Laune abreagieren wollen, gehen Sie doch bitte zum Finanzamt.

Krise? das nennen Sie Krise!? Sechzehn Sorten Fruchtjoghurt, ein Regal mit Mikrowellenfraß, eins mit japanischen Aufgussnudeln, Litschis und grüner Spargel im Glas, und Sie labern von Krise? Bei der letzten Lackverkostung haben wir das Ausspucken vergessen, was? Keine dreißig, und jetzt kommen Sie hier als westliche Feierabendbrigade der rechten Knalltüten nach Bad Gnirbtzschen, um uns vor der Gefahr zu warnen, die von der Verteufelung der russischen Militärmacht ausgeht? Weil Sie dummes Weichei einen Nervenzusammenbruch kriegen, wo Sie billiges Industriemehl vermissen?

Waren Sie überhaupt schon mal in Russland? Hätte ich mir ja denken können. Ich habe damals in Moskau Marxismus studiert, deshalb bin ich heute ja auch im Einzelhandel. Da lernt man nämlich fürs Leben, genauer gesagt: warum dieser Kapitalismus, den Sie und Ihre Würstchen uns als Lösung für alle Probleme aufs Auge gedrückt haben, das Problem für alle Lösungen ist. Wir hatten damals keine sechzehn Sorten Fruchtjoghurt, und warum? weil wir keine sechzehn Sorten Fruchtjoghurt brauchten. Damals nicht, heute nicht. Es war eben nicht alles gut im Sozialismus. Aber wenn ich mir die Idioten angucke, die die sogenannte freie Marktwirtschaft hervorbringt, dann war auch nicht alles schlecht.

Gibt es irgendwo im Grundgesetz ein Recht auf Tütennudeln? Und ich meine jetzt nicht die teuren, die italienische Markenware spielen, obwohl die mittlerweile als Teil einer Industriebäckerei einem tschechischen Chemiekonzern gehören – da weiß man auch ziemlich schnell, was da drin ist und wo der ganze Krempel herkommt – sondern billige Nudeln, die sich die Rentner leisten können, weil sie sich nur die leisten können müssen. Die braucht jetzt so eine SUV-fahrende Arschgeige wie Sie, die uns weismachen will, von Marktwirtschaft hätten wir ja gar keine Ahnung. Das regelt der Markt, aber im Zweifel ist das eben Krise, wenn man mal nur Vollkornnudeln kriegt, weil die merkwürdigerweise nicht knapp werden. Oder verwechseln Sie das nur, weil bei Ihnen die Spritkasse schlimm sozialistische Quersubventionen aus dem Lebensmittelbudget braucht, die nur der Staat ausgleichen kann? Und was meinen Sie, wem dieser schlimm sozialistische Staat jetzt schneller unter die Arme greifen wird, SUV-fahrenden Arschgeigen oder Rentnern?

Ja, wir haben das auch gehabt damals. Aber wir haben uns nicht ständig beklagt, dass es kein Öl mehr gibt, nicht, weil wir zwanzig Liter Rapsöl aus Mecklenburg zum Überleben brauchten, wenn aus der Ukraine keine Sonnenblumensaat mehr kommt, sondern weil diese verschissene Opfermentalität, die uns die Westler beigebracht haben, damals nicht angesagt war. Wenn Sie Öl wollen, gucken Sie halt einmal in Augenhöhe ins Regal – Augenhöhe, das ist das, was Sie im Osten bis heute nicht auf die Reihe kriegen – und verlangen Sie keine Bückware. Das sind die Regeln, ach was: Gesetze des freien Marktes, die Sie mit Ihrer Ersatzreligion im Rücken seit dreißig Jahren vorjodeln, wenn’s mal unschön läuft für Bevölkerungsschichten, zu denen Sie nicht gehören. Haben wir gejammert, als die Russen die Produktivität mit Planwirtschaft abgewürgt haben? Dann sollten Sie jetzt das Maul halten, wenn die Versorgung durch die Marktwirtschaft versagt.

Die Kaffeekrise haben Sie nicht mitgekriegt, da waren Ihre Eltern vermutlich noch Teenager. Der Preis stieg auf das Sechsfache, dazu kam noch die Ölkrise – fragen Sie Ihre Eltern, ob ein Fahrverbot in ganz Deutschland die Bevölkerung von einem Tag auf den anderen umbringt – und die Produktion der preiswerten Sorten musste eingestellt werden. Aus dem Westen kam nichts, weil wir nicht die erforderlichen Mengen an Mandeln, Korinthen und Orangeat für echten Dresdner Christstollen hatten, wobei: es kam etwas aus dem Westen. Gewimmer. Sie mussten sich schrecklich darüber beklagen, dass es zu Weihnachten nicht den richtigen Stollen gab, mit dem Sie Ihre Wiedervereinigungssehnsucht aus dem Fenster hängen konnten. Wir haben den Kaffee mit Erbsenmehl gestreckt, sind auf Tee umgestiegen und haben haben abgewartet, bis Erichs Krönung nicht mehr die Brühmaschinen in der Gastronomie verstopft. Hat man das Gejammer über die Mauer gehört? Dann fragen Sie sich mal, warum. Von den Regierungsabkommen der DDR mit Vietnam zehrt die Kaffeeindustrie übrigens bis heute, falls Sie interessiert, warum der so billig ist. Die nächste Krise 2001 kam wegen Überproduktion. Aber daran war sicher auch der Sozialismus schuld.

Keiner hier will die DDR zurück. Keiner hier will immerzu ‚Internationale Solidarität!‘ schreien, ‚Freundschaft!‘ oder irgend etwas, das man schreit, weil man sonst nicht daran glaubt. Wenn Sie genau wissen wollen, wie gut uns die Einheit getan hat, dann gucken Sie gerne noch mal nach, was mit dem Vermögen der Ost-CDU passiert ist, bevor sich im Konrad-Adenauer-Haus die Schreibtischschubladen auf wundersame Weise für immer schlossen. Wir haben gewartet, bis es besser wurde, als wir nicht mehr warten wollten, haben wir es besser gemacht. Das steht Ihnen noch bevor. Wünschen Sie sich das nicht. Real existierende Krisen sehen Sie derzeit in der künftigen Sowjetunion, wir hatten nicht mal den real existierenden Sozialismus. Und jetzt nimm Deine Avocados und die Flasche Rotkäppchen und verpiss Dich aus meinem Laden, Du Westbeule!“


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22 03 2022
Umleitung: Funke-Druck, Bundestag, Wissen, Freundschaft, Krieg, Gedenken, Liebe, Kabarett und Datenschutz – zoom

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