Gernulf Olzheimer kommentiert (DXIII): Der Zeitzwang

8 05 2020
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

In Rrts Höhle gab es ein rudimentäres Sortiment an Einordnungen, wann und wie etwas geschehen sollte: vor dem Essen oder danach, nach der Jagd oder davor, tags oder nachts, wobei gerade letzterer Gegensatz saisonaler Variabilität unterlag, was sich auf andere Verrichtungen des täglichen Daseins nicht minder auswirkte. Die Dinge waren geordnet, nicht aber in ein starres Gerüst gepresst, für deren Einheiten die präzise Messung noch nicht einmal gefunden war, geschweige denn der Sinn, warum es eine präzise Teilung der Zeit in Zeiten überhaupt je würde geben müssen. Rrt wusste das nicht; er hatte sich daran gewöhnt, im Einklang zu leben mit den windschiefen Rhythmen der Natur, vor allem daran, deren Erfordernisse und Gebote zu lesen und dann zu begreifen, wann der Tag gekommen war, die Buntbeeren zu pflücken. Er und seine Leute, sie kannten keinen Zeitzwang.

Tatsächlich war das Messen der Zeitabstände zunächst ein Akt der religiösen Organisation, mit dem die Karnevalspräsidenten ihr Untergetän auf die gottgefällig verordnete Zahl von Arbeitsstunden einnordeten. Mit der Vereinheitlichung, wie sie den Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang aus der vormals künstlich zurechtgeschwiemelten Ordnung wieder heraushieben, marschierte die Bevölkerung in ihre Werktätigkeit und nahm sich ins Gebet. Wie auch immer in irdische Verhältnisse geschwiemelte Abläufe regelten folglich nicht nur die äußere, auch die innere und damit moralische Führung – wer zu spät kommt, den bestraft noch heute das Leben als solches. Seit der Mechanisierung ist Allgemeinheit nur noch unter der Kontrolle der Zeiger möglich, seit der Ausbreitung des Digitalen nur noch unter der Kontrolle der gestoppten Sekunden. Die ganze Existenz ist ein arbeitsteiliger Prozess geworden, der unsere Fertigstellung zum Ziel hat.

Die fließende Produktion der immer gleichen Untertassen, Zahnbürsten und Sockenhalter rattert der Welt den Takt vor, in dem sie zu ticken hat: in sklavischer Gleichmäßigkeit, die kein Bedürfnis kennt und damit keinerlei Ende. Es herrscht das Objektprinzip, das ganz auf den Verrichtungsträger fixiert ist; ein Pech, handelt es sich noch um den Menschen selbst, aber es wird nicht besser, wenn er nur ausgelagertes Bedienelement der Maschine ist, das aus dem Gesichtspunkt des Kostenträgers nie gleichmäßig, schnell und erschütterungsfrei genug die stereotype Bewegung verrichten kann, weil sie gerade durch lästige Nebenbeschäftigungen wie Atmen abgelenkt wird. Die ganze Abhängigkeit des einzelnen Organismus von der Gruppe, von der Spezies und ihren Beschränkungen findet sich in der Abfolge des Zeitzwangs, die einen Handgriff in den anderen übergehen lässt, so dass die Person eigentlich nie exakt genug sein kann, weil sie die Summe ihrer Fehlermöglichkeiten darstellt.

Nichts weniger als physiologische Bedürfnisse werden mit der Vertaktung eingezwängt. Schicht um Schicht wird das körperliche Konstrukt dieser Realität neu geformt, bis es sich nicht mehr mit den geänderten Variablen verträgt; korrigiert wird dann nicht der Prozess, sondern der Mensch. Wie im Wahn, aus irrwitzigem Brauchtum einmal im Jahr alle Uhren ohne Nachteil für das Gemeinwesen je eine Stunde in die eine oder andere Richtung zu biegen, schmeißt die ansonsten normsüchtige Rotte offenporiger Oberhäuptlinge alle utilitaristischen Regeln über Bord und vertaut auf die magische Kraft des Wir-haben-es-immer-schon-so-gemacht. Aus Schaden werden Sie nicht klug, wenn sie ihn nicht wahrnehmen. Sie kommen wohl nicht dazu.

Was aber, wenn sich der Rahmen selbst verbiegt und die komplette Struktur ersatzlos wegfällt, weil die ganze Gesellschaft auf dem Rücken liegt wie ein Käfer im Bett? Für das einzelne Individuum mag Strukturlosigkeit immer noch gelingen, doch ist nur ein Teilhaber der gesellschaftlichen Gruppe von konkurrierenden Bedürfnissen der Außenwelt betroffen, terrorisiert sie das ganz Gefüge wie ein Sonntag, an dem ausnahmsweise nicht sämtliche Mitglieder im Morgengrauen aufstehen müssen. Die Routine wirkt auch dort weiter, wie ein aus Müdigkeit vernachlässigtes Gebet moralinsauer den Schlaf zerstört. Der Stress einer Work-Life-Balance tritt immer da auf, wo er überhaupt gefühlt werden kann, und das ist nicht in der Betäubungsphase der Zeitverrichtung.

Die Konfliktvermeidungspsychologie empfiehlt eine längere Auszeit, um sich neu zu ordnen; ganze Monate werden ohne äußere Zwänge gestaltet, um dann, endlich vom Unsinn eines bizarren Irrtums an Heuschreckenkapitalismus geheilt, ohne vorherige Wiedereingliederung in den gefräßigen Schredder der Zeitvernichtungsanlage zu springen, damit sich das Bruttosozialprodukt freut. Einziges Schlupfloch bleibt der Freizeitstress. Wer sich dem Heilsweg des Geltungskonsums verschreibt, verendet dereinst sozialverträglich an Verkalkung oder Fettleber, bricht beim Marathon zusammen oder verdämmert nach der Hirnembolie in einer Risikogruppe, die nur noch dazu taugt, dass sich die Heckenpenner für einen sinnlosen Singsang vor einer Rundfunkanstalt aufregen. Zeitzeichen soll man hören. Bevor sie zwanghaft werden.


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