19B84

20 10 2011

Rostroter Marmor, gediegenes Gold, schwere venezianische Spiegel. Der Prospekt hatte nicht übertrieben, schon die Lobby war beeindruckend. Ein Bagagist entwand mir den Koffer, der Boy zeigte freundlich den Weg zum Lift – der Concierge bat untertänigst um die Papiere. „Formalitäten“, erläuterte er, „nur ein paar Formalitäten. Sie werden sich in unserem Haus sehr wohl fühlen.“

Neben der Schuhgröße, die ich der Vorsorge um einen Wunsch nach Pantoffeln zuschrieb, gab ich meine Ausweisnummer, den Impfpass und einige kleine Details aus meiner Familiengeschichte preis. „Und Sie müssen das alles wissen?“ Er nickte. „Die neue Gesetzgebung lässt uns keine andere Wahl, aber es ist ja schließlich zu Ihrem Besten.“ Und er reichte mir ein Klemmschildchen. „Sie brauchen nur noch dies hier, es wird Ihnen den Aufenthalt erleichtern.“ Ich blickte auf das kleine Plastikding. „Eine individuelle Kombination, die Ihnen für alle möglichen Dinge dienen wird. Selbstverständlich rein anonymisiert.“ „Und wie kommen genau diese Zeichen auf das Schild?“ Er spielte nervös mit den Fingern. „Ach ein Teil ist aus Ihrer Steuer-ID, den anderen generieren wir automatisch aus Ihrem Nachnamen, aber das hat natürlich rein gar nichts mit Ihrer Person zu tun. Oder glauben Sie, jemand würde so heißen?“

Wenige Minuten später hatte ich meine Suite bezogen – innen seidene Tapeten, ein breites Bett und Louis-seize-Stühle, außen ein Balkon auf den Privatstrand hinaus – und ließ mein Auge über das Tischchen mit dem Obstkorb schweifen. „Ich bitte um ein Kännchen Tee“, teilte ich dem Pagen mit, „und bitte besorgen Sie mir noch eine zweite Decke für die Nacht.“ Der Tee ließ nicht lange auf sich warten; ich durchwühlte alle Taschen, fand jedoch außer einigen größeren Banknoten kein Geld. „Das macht nichts“, informierte mich der Kellner. „Sie müssen nur den Betrag angeben, ich setze es dann für Sie auf die Rechnung.“ Und er zog ein kleines Handgerät aus der Westentasche, hielt es mir vor die Brust und tippte, da ich ihn nicht rechtzeitig gehindert hatte, ein fürstliches Pourboire ein. „Ah, Ihr Konto ist gedeckt – besten Dank, der Herr!“ Mit einem eleganten Kratzfuß verschwand er zur Tür und ließ mich fragend zurück. Was hatte das mit dem Lesegerät zu tun? Was sollte diese Bemerkung über meine Liquidität? Und wozu brauchte dieses Hotel Krankenunterlagen und Führungszeugnis?

Tatsächlich befand sich zwischen Schild und Pappe ein Chip. Wollte dieser Laden mich etwa aushorchen? Das konnte denen so passen. Ich schmiss das Klemmding auf den Nachttisch und zog die Tür hinter mir ins Schloss.

„Bedaure“, sagte der Türsteher des Restaurants. Sein hochnäsiger Blick ging über mich hinweg. „Ohne Schild kein Zutritt. Verschwinden Sie, oder ich rufe den Sicherheitsdienst.“ Wütend stapfte ich in die Lobby, just als ein Gast von wichtigem Aussehen mit einem Tross an Uniformierten dem Ausgang zu schritt. Aus seiner Manteltasche glitt ein glänzendes Etwas und fiel auf den steinernen Boden der Halle. Schon wollte ich einen der Schutzleute am Ärmel packen, da sah ich, was er verloren hatte. 19B84. Ich hob es auf.

„Ein Tisch am Fenster, selbstverständlich.“ Während ich die Weinkarte durchblätterte, kam mir ein Gedanke. Ich winkte den Sommelier zu mir heran. „Sagen Sie, haben Sie einen Grand Cru, dem man wirklich trauen kann?“ Er errötete bis unter die Haarspitzen. Mit einer schwer verstaubten Flasche kam der Kellermeister zurück. „An sich sollten Sie ja nicht“, wandte er mit Blick auf sein Lesegerät ein, „aber andererseits können Sie sich einen guten Leberspezialisten leisten.“ Er entkorkte den Wein. Großartig. Es funktionierte.

Während ich die Suite kurzerhand in Art Déco umdekorieren ließ – ein komplettes Service von Maurice Ascalon ließ ich eingepackt zu mir nach Hause senden, natürlich postlagernd – erkundigte sich der Direktor nach meinem werten Befinden. „Ich sehe hier eine Sicherheitsstufe bei Ihnen“, las er von seinem Handgerät ab, „wir werden Ihnen die äääh… Kanäle für Erwachsene gleich freischalten, Kosten pro Minute drei Euro.“ „Nicht nötig“, gab ich zurück. „Sobald Sie den Konzertflügel drinnen haben, brauche ich erstmal nur Champagner und ein paar Gummibälle für die Siamkatzen.“ Da schwebte das monströse Instrument auch schon über die Balkonbrüstung. Die Katzen blickten gelangweilt nach draußen, dann widmeten sie sich einer bis dato bezaubernden Schäferszene in Kniehöhe.

Der japanische Koch filetierte mit fließender Eleganz einen Fisch, bevor er ihn scheibchenweise auf dem Teller von Meißner Porzellan drapierte, den das Topmodel auf Knien rutschend an meine Bettstatt transportierte. Giancarlo Palazzini murrte. Ich wies den Heldentenor heftig zurecht – Servieren wäre eine verhältnismäßig anstrengende Tätigkeit, und da für die Abendstunden das Streichquartett eingeplant sei, käme er noch rechtzeitig in seine Vorstellung. Es klopfte an der Tür – der Kurier lieferte gerade noch rechtzeitig zur Teestunde die in violetten Samt gebundenen Tagebücher Oscar Wildes. Der Etagenkellner scannte mein Schild, überprüfte kurz meinen finanziellen Spielraum und regte für die Nachtstunden eine Strandparty mit internationalen Showstars und Höhenfeuerwerk an.

„Vielen Dank“, dienerte der Rezeptionist. „Wir haben die beiden Posten auf Ihre Rechnung gesetzt – die Wolldecke und das Trinkgeld. Das Kännchen Tee geht aufs Haus. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt bei uns?“ Das konnte ich nur bejahen. Die beiden Zimmermädchen, die meine Schuhe auf dem Weg ins Erdgeschoss geputzt hatten, bekamen jeweils ein größeres Scheinchen zugesteckt, desgleichen der Fuhrknecht, der schon am offenen Schlag wartete. Nur der Mann mit dem schütteren grauen Haar, der seinen Mantel zu Boden schmiss und wutentbrannt darauf herumtrampelte, dämpfte meine Stimmung etwas. „Ich bin das nicht“, schrie er, „und ich war das auch nicht! Und ich werde auch keine vier Flaschen 1959er Château Lafite-Rothschild bezahlen!“ Die Sicherheitsleute hatten andere Sorgen. Aber das würde sich sicher bald aufklären. In diesem Hotel fand man ja alles heraus.


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2 responses

21 10 2011
Doktor Peh

Wirklich schön geschrieben, Herr Innenminister. Ich wusste doch, dass man sich auf bundesweit eingeführte Sicherheitsmaßnahmen vollständig und blind verlassen kann. RFID und Datenschutz sei Dank.

Wäre es allerdings nicht einfacher, Neugeborenen gleich im Krankenhaus so einen Chip…? Ich meine, bei den Tierheimen und all den ausgesetzten Katzen und Hunden funktioniert das ja auch. Gut, die sofortige Kastration sollte man vielleicht ausklammern, obgleich, wenn ich mir so anschaue, was da momentan im Bundestag…, also, das können wir ja nochmal überdenken.

Jaja, der Datenschutz. Seit der auf aller Parteien Fahnen geschrieben ist, wurde noch nie so sehr versucht, ihn wieder gesetzlich auszuhebeln. Vielleicht sollte man sich mal des Themas „gesetzlicher Schutz der Bestochenen“ annehmen?

21 10 2011
bee

Der Witz ist, dass genau diese Methode der elektromagnetischen Kontrolle von der Industrie als Luxustechnologie angedacht wurde: bargeldloser Zugriff auf Konsumgüter, berührungsloser Zugangscheck für abgesperrte Bereiche, Identifikation, Fernsteuerung. Alles zum Preis einer gewissen sozialen Kontrolle, die aber bei der Einkommenselite nie wirklich intime Bereiche berühren wird. Währenddessen wird der Pöbel ausgegrenzt, denn er bekommt keine Eintrittskarten mehr und muss beim Einkaufen immer noch an der Kasse anstehen.

Leider werden die plötzlichen Todesfälle durch aussetzende Herzschrittmacher die Sache in Verruf bringen, und wenn ein Hackerangriff dem Chip des Kanzlers Guttenberg den Datensatz eines lange gesuchten Terroristen verpasst, wodurch die Selbstschussanlage im Reichstag ausgelöst wird, kommt der eine oder andere ins Grübeln.

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