Natürlich sprach man vom Wetter, die Olympischen Spiele bildeten einen gewissen Grundstoff für die täglichen Unterhaltungen, auch die Politik kam hie und da im Smalltalk vor. Doch die Bundesbürger waren es Leid. Keine Schlagzeile, keine Talkshow, keine Anschlagsäule in ihrem Land kamen aus ohne das Getöse des Doktor Guido Westerwelle. Als eine Boulevarddrucksache ihr Format vergrößerte, um in 380 Punkt Helvetica halbfett die Headline Schmarotzertum gewuppt – geht doch einfach arbeiten, Ihr Dreckschweine! zu publizieren (die vom Bundesverband der Investmentbanker hernach scharf kritisiert wurde), platzte dem Volk einfach der Kragen. Es war überfüttert. Es wollte nicht mehr. Es sehnte sich am Aschermittwoch nach Einkehr, Umkehr, Konzentration. Die ganze Nation begann die Fastenzeit mit dem festen Entschluss, den Außenminister zu ignorieren. Komplett.
Schlagartig wurde vielen Menschen bewusst, dass es wichtige Dinge gab, viele wichtige Dinge. Die Deutsche Bahn AG gab auf einem Meeting, dessen Location gerade noch rechtzeitig vom Key Account Support kommuniziert werden konnte, die Zusage, man werde im Bereich Service & Administration in 2011 nur noch neue denglische Begriffe nutzen, wo sie Sinn machten. Diese Info kam natürlich mit anderthalb Stunden Verspätung. Am Rande der Veranstaltung lud Guido Westerwelle zu einer Pressekonferenz, um den Reportern zu erklären, warum er die Halbierung der Grundsicherung für Kinder als historisch einmalige Chance zur Anhebung des DAX hielt. Keiner kam.
In Folge der Abwrackprämie gerieten zahlreiche Unternehmer in Schwierigkeiten; entscheidende Umweltgesichtspunkte waren bei der Durchführung der Umweltschutzmaßnahme aus wirtschaftlichen Gründen einfach ausgeblendet worden. Alles lief nach Plan. Das Bundesumweltministerium zeigte sich erleichtert; die Nordhalbkugel des Pluto war seit Jahren erheblich heller geworden, so fühlten sich die Bundesbürger mit ihren Umweltbedenken dem Rand des Sonnensystems gleich viel näher.
Eine neue wissenschaftliche Studie ergab, dass Online-Kriminelle vorwiegend Unvorsichtige als potenzielle Opfer aussuchen. Ein deutsch-dänisches Konsortium kündigte für die laufende Dekade die Erfindung des Schnittbrots an. In seinem Podcast beklagte Guido Westerwelle die Impertinenz von Objektschützern und Gebäudereinigern, ihre Bezüge auch noch auf Hartz-IV-Niveau anheben zu wollen. Das permanente Nassauern dieser Schicht sei zum Skandal ausgewachsen, denn es untergrabe die Moral anständiger Menschen; die ersten Erben und Großaktionäre befänden sich in ärztlicher Behandlung, um perverser Neigungen Herr zu werden – sie wollten für Geld arbeiten. Britney Spears brachte ein neues Album heraus. DJ Ötzi brachte ein neues Album heraus. Der Wendler brachte ein neues Album heraus. In Bottrop lief ein Erfolgsstück an, das hervorragende Kritiken erntete. Die Musik war aus den bisher grassierenden Musicals bekannt, die Handlung entstammte dem Adressverzeichnis von Bad Bevensen und der Packungsbeilage eines Akarizids für den Obstbau.
Überhaupt änderte sich der kulturelle Diskurs in Deutschland. Hatten vorher Knut und Flocke die klimapolitische Bundespolitik in den Hinterköpfen wach gehalten, so entzückte Flachlandtapirmädchen Lola die Leipziger Zoobesucher mit ihrem aparten Tarnkleid. Kinder quengelten nach Kuscheltieren, die Couture entdeckte Streifendessins in Senf und Kastanie, berüsselte Unpaarhufer glotzten träge von Logos und Ladenschildern. Die von der FDP vor der Bundestagswahl gekaufte Titelseite der FTD kündete, dass die Dekadenz der Lohnabgreifer in der deutschen Soziallandschaft bereits furchtbarste Schäden für die Weltwirtschaft gebracht hatte. Sodom und Gomorrha, die Völkerwanderung, der Schwarze Tod, der Ausbruch des Krakatau und 9/11 seien bloß Folgen der Gier, mit der das Parasitenpack Luxus wie Miete und Heizkosten finanzieren wollten – dies sei die Meinung des Volkes und daher zwangsläufig wahr.
Im Käse fanden sich Bakterien, in Mittelklasse-Limousinen Gaspedale. Der umgekehrte Fall wäre wirklich unerhört gewesen, doch schon die jetzige Konstellation führte zu Rückrufaktionen. Die Justizministerin wollte davon abgesehen ohnedies die Sicherungsverwahrung neu regeln. In Dubai wurden keine Löhne mehr ausbezahlt. Kim Jong Il feierte Geburtstag. Die nordrhein-westfälischen Liberalen bedauerten zwar die sozialistischen Verhältnisse Nordkoreas, begrüßten aber generell ein enges Verhältnis von Wirtschaft und Staat. Das befruchtete Westerwelle zu der Idee, auf seiner Wahlkampfreise eine Trittleiter mitzuführen. So erklomm er auf der Kö den Aufstiegsapparat, um unter Wackeln und Klappern in die Gegend zu blöken: Freiheit, das sei in dieser Republik die Entscheidung zwischen Verhungern oder Erfrieren.
Überwiegend sonnige Abschnitte wechselten sich ab mit Schneeregen und windigen Passagen. Frank Schirrmacher verstand die Wetterkarte nicht und geißelte den Machtverlust der Astrologen in einem meisterhaften Essay, der gar nicht erst gedruckt wurde, weil ihn ohnedies keiner würde nachvollziehen können, wie Schirrmacher meinte.
In einem Akt der Verzweiflung riss sich Guido Westerwelle in Köln an einem lauen Märzmorgen die Kleider vom Leib und rannte kreischend über die Domplatte. „Huldigt mir“, krähte der deutsche Chefdiplomat, „betet mich an! Das Gesindel soll meinen Namen mit Ehrfurcht stammeln, wenn ich nach ihm trete! Ich bin Gott!“ „Ey, Do Klapskalli“, raunzte der Punk zu seinen Füßen und hob seine Bierflasche, „datt is vielleicht mein Revier?“ Sein Schäferhund knurrte bedrohlich.
„Und an uns bleibt dann wieder die ganze Scheiße hängen.“ Bernd Piasecki war sichtlich verärgert. Der Wagen hatte bereits seit Anfang April widerrechtlich in der Bonner Tiefgarage geparkt. Der Halter hatte sich anhand des von innen an die Frontscheibe geklebten Abschiedsbriefes leicht finden lassen, aber er antwortete nicht. Dafür musste man nun einen nicht mehr ganz frischen Fahrer aus der Dienstlimousine schälen. „Das sind die feinen Herrschaften“, schimpfte Piasecki, „kein Handschlag zuviel – was für ein dekadentes Volk!“
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